AnnenMayKantereit

Interview — AnnenMayKantereit

Vicious Circle

Dank lasziv vertontem Weltschmerz, der gepaart ist mit einer selten schönen Dampflockstimme, darf diese Band auf keiner Erstsemesterparty fehlen. Eine Raucherpause mit AnnenMayKantereit.

3. Mai 2016 — MYP No. 20 »Mein System« — Interview: Katharina Weiß, Fotos: Moritz Jekat

Ein wenig gemein ist es schon: Da schießt man als Musiker endlich durch die Decke, Deutschlandtour ausverkauft, das erste Album auf Platz 1 – aber man kam ein bisschen zu spät zur Band, um den eigenen Nachnamen noch unterbringen zu können. Die drei Kölner Freunde Christopher Annen (22), Henning May (24) und Severin Kantereit (23) teilen sich seit 2011 die (Straßen-)Musikergage und den Bandnamen AnnenMayKantereit. Seit 2014 ist auch Malte Huck (25) dabei – der hatte dann namenstechnisch einfach Pech.

Die Stimmung bei den Vieren, die in ihren ausgelatschten Turnschuhen und den hingerotzen Wuschelfrisuren einen ewig-unwiderstehlichen Erstsemestercharme verbreiten, ist trotzdem super. Nach dem Soundcheck zu ihrem heutigen Auftritt im Berliner Tempodrom treffen wir sie auf eine Raucherpause in der Frühlingssonne. Auf der anderen Seite des Gebäudes warten schon die ersten Fangirls, obwohl es noch Stunden dauert, bis die Kölner Band den Abend mit „Es geht mir gut“ starten wird.

Die Lieder von AnnenMayKantereit sind eine leise Einladung, sich mit den eigenen Gefühlsuntiefen auseinanderzusetzen – und dem inneren lasziven Weltschmerz einfach mal nachzugeben. Gelegentlich schimmert bei den Konzerten der Band eine niedliche Unbeholfenheit durch, mit der sich die meisten, die vor der Bühne stehen, wohl nur allzu gut identifizieren können. So entsteht unter den Anwesenden – und sei es nur für einen Abend – eine liebevolle Leidensgemeinschaft, die den losen Beziehungsenden und Selbstfindungskomplexen jedes Einzelnen trotzt.

Dass man von allen Bands erwarten kann, komplett zu eskalieren, ist einfach eine große Illusion.

Katharina:
Euer erstes Studioalbum, „Alles Nix Konkretes“ endet mit einer eher ernüchternden Ode an das Tourleben: „Das Krokodil (raucht zu viel)“. Was sind die großen Illusionen des Unterwegseins?

Severin:
Das kommt auf die Band an. Oft wird ja von Musikern erwartet, ein Konzert zu spielen und danach in den nächstbesten Club zu rennen, um sich abzuschießen. Wir sind aber keine Partyband und eher ruhig – wir trinken nach einem Konzert höchstens noch ein Bierchen oder sehen Freunde. Dass man von allen Bands erwarten kann, komplett zu eskalieren, ist einfach eine große Illusion.

Christopher:
Und dass die ganze Sache komfortabel ist – denn das war es die ersten zwei Jahre überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil! Die Tatsache, dass wir uns mittlerweile einen Nightliner leisten können, in dem wir auch pennen, macht vieles auf jeden Fall wesentlich entspannter.

Katharina:
Eure Musik läuft gerade auf jeder Studentenparty. Ich habe mal ein paar Freunde, die euer Album richtig gerne mögen, gefragt, was ihrer Meinung nach das Geheimnis von AMK ist. Hier mal ein paar skurrile Auszüge der Antworten. Nummer eins: „Soundtrack für die Katerstimmung.“

Malte:
Oha!

Henning:
Das ist doch ein schönes Kompliment. Toll!

Severin:
Ich höre auch immer gerne Musik, wenn ich ein bisschen verkatert bin. Oder wenn die Hälfte des Katertags vorbei ist und es langsam wieder geht.

Henning:
Ich glaube, wir alle hören in dieser Situation eher Softie-Musik, oder? Ich zum Beispiel mag Cat Power und Billie Holliday.

Katharina:
Zitat Nummer zwei auf die Frage, was AMK ausmacht: „WG-Leben.“

Severin:
Ich wohne mit Henning und zwei anderen Jungs zusammen, das Thema ist also sehr präsent bei uns. Ich würde aber sagen, dass wir ein sehr, sehr normales WG Leben führen. Und bei unseren Freunden ist das nicht wirklich anders.

Katharina:
Euer Lied „Länger bleiben“ erzählt vom Versacken in der WG: wenn man will, dass die Freunde einfach noch ein bisschen bleiben. Wie findet so etwas in eurem Leben überhaupt noch statt?

Henning:
Wir haben oft das Problem, dass wir nach einem Auftritt direkt weiter müssen. Speziell hier in Berlin könnten wir immer auch noch ein paar Tage länger bleiben. Deshalb ist es fast ein an uns selbst gerichtetes Lied.
Es ist komisch, wenn man schon so lange auf Tour ist wie wir und in jeder Stadt Leute hat, die man cool findet. Und immer wieder das Gefühl bekommt, diese Leute zwar zu kennen, ihnen aber nie so richtig zu begegnen. Wenn man die Zeit nicht hat, bringt man diese Bekanntschaften nie auf eine andere Ebene, erlangt nie einen festen Status. Es ist schade, dass es letztendlich bei dieser Oberflächlichkeit bleibt – manchmal macht das richtig traurig.

Katharina:
Ist das nicht vergleichbar mit unserem heutigen Interview? Da kommt jemand wie ich aus einem völlig anderen Leben und stellt euch ein paar Minuten lang total persönliche Fragen. Ich selbst kenne solche Situationen beispielsweise vom klassischen Reisen oder Bagpacken. Habt ihr so etwas auch mal gemacht?

Malte:
Ja, ich war nach dem Abi acht Monate lang weg. Das kann man damit auf jeden Fall vergleichen. Es ist schwierig im Leben, mit Leuten diese Ebene zu finden, die über das hinaus geht, was man mit jedem teilen kann. Und es ist witzig, dass zum Beispiel jemand wie du kommt, den man noch nie vorher gesehen hat, und der dann plötzlich auf einer anderen Ebene einsteigt – weil wir ja nichts über dich wissen, aber du uns ja schon aus anderen Medien kennst und Dinge über uns weißt.

Katharina:
Aber auch irgendwie gar nichts.

Malte:
Genau, aber auch irgendwie gar nichts. Da kriegt man schon manchmal ein komisches Gefühl, wenn Fragen diese andere Ebene berühren. Henning, der unsere Texte schreibt, wird zum Beispiel ganz oft gefragt: „Wer ist eigentlich Pocahontas?“ Dabei geht das niemanden etwas an. Das ist übrigens auch der Unterschied zum Reisen: Da erzählt man viele Dinge einfach so – denn es kennt einen niemand.

Severin:
Wenn wir auf Tour sind, versuchen wir, uns nicht in Phrasen zu verlieren. Die ganze Crew, das sind alles Freunde von uns. Und sobald die Nightliner-Tür zu ist, sind wir komplett ehrlich zueinander. Keine Phrasen mehr, alles ist sehr persönlich.

Christopher:
Das mit den Phrasen ist generell so ein Sache: Man kann sich ja nicht auf dieselbe Interviewfrage 20 verschiedene, kreative und witzige Antworten ausdenken. Das ist genau wie mit den Ansagen im Konzert: Bei 120 Konzerten im Jahr kann man nicht bei jedem einzelnen Auftritt eine total originelle Geschichte zum allerersten Mal erzählen.

Katharina:
Henning, ist es dir manchmal unangenehm, wenn du merkst: „Mist, jetzt hab’ ich das schon wieder gesagt.“? Du machst ja die meisten Ansagen.

Henning:
Nein, manche Aspekte gehören ja einfach zu einem Song. So sage ich beispielsweise vor „Oft gefragt“ immer, dass dieses Stück für meinen Vater ist.

Severin:
Ich glaube, es ist eher andersherum: Henning hat die ganze Show lang Zeit, sich darzustellen. Aber wenn jetzt zum Beispiel Christopher mal eine Sache sagt, die super scheiße ist, ein Versehen war oder einfach vollkommen falsch verstanden wurde, dann ist es eher schwierig und man fasst sich an den Kopf.

Malte:
Severin hat mal Kazoo gespielt und dabei gesagt: „Ich bin solo unterwegs“. Er meinte damit, dass er alleine performt. Aber es wurde so verstanden, als wolle er gerade jedem mitteilen, dass er Single ist.

Severin:
Und am nächsten Tag hat jemand auf Facebook geschrieben: „Hey, dafür gibt’s doch Tinder!“. Wie schmandig kommt das denn rüber, wenn jemand auf der Bühne sagt: „Huhu, übrigens, ich bin solo.“ Tja, und meine Nummer liegt gleich am Merchstand oder was? (Severin lacht)

Katharina:
Damit sind wir direkt bei den nächsten skurrilen Antworten, die ich aus den Gesprächen mit euren Fans aufgeschnappt habe. Ein Freund von mir sagte, ihr seid für ihn „purer Sex“. Statement?

Christopher (lacht):
Yes! Er ist der Einzige, der uns versteht.

Henning:
Keine Ironie, Chrisi! Das wird immer falsch verstanden. Ich würde sagen, dass wir durchaus Liebesmusik machen. Klar haben wir Zeilen, die sich auf den Geschlechtsverkehr beziehen. Aber alles Weitere ist natürlich sehr subjektiv. Ich finde es schön, wenn jemand sagt, dass es für ihn ein total sexuelles Gefühl ist, diese Musik zu hören – wir betrachten das aber als etwas anderes.

Ich glaube, wir alle hatten zu viele Beziehungen, um beziehungsunfähig zu sein.

Katharina:
Der letzte Begriff, der mir im Zusammenhang mit AMK genannt wurde, polarisiert ebenfalls: „Beziehungsunfähigkeit“.

Henning:
Ich glaube, wir alle hatten zu viele Beziehungen, um beziehungsunfähig zu sein.

Christopher:
Und auch in unseren Texten geht es eher darum, eine Beziehung zu verbessern oder zu retten, als zu sagen: „Ich nehme mich da raus, ich bin beziehungsunfähig.“

Katharina:
Trotzdem gibt es zwei Lieder auf eurem neuen Album ¬– „Bitte bleib’ (nicht so wie du bist)“ und „Mir wär’ lieber, du weinst” –, bei denen man durchaus vermuten könnte, dass sie in Bezug auf die besungene Person nicht ganz so schmeichelhaft gemeint sind. Natürlich grenzt man in einem Lied nicht genau ein, wer letztendlich damit gemeint ist, und bleibt poetisch vage – deshalb passt ein Song auch oft genau zu jener Situation, in der man als Fan gerade steckt. Hat man dennoch als Texteschreiber manchmal die Befürchtung, dass ein Mädchen, mit dem man mal was hatte, das Ganze so interpretiert, als sei sie ganz persönlich gemeint? Und sollte man diesem Mädchen irgendwann wieder begegnen, fragt man sich dann: „Muss ich mich jetzt entschuldigen, weil vielleicht ein Satz aus dem Lied oder eine Situation, die ich besinge, auch von diesem Mädchen inspiriert sein könnte?“

Henning:
Ich hatte das mal, dass mich ein Mädchen gefragt hat, ob ein Lied sie selbst als Person meine. Das habe ich einfach ehrlich verneint. Ich würde da übrigens auch nicht lügen. Die Person, für die „Mir wär’ lieber, du weinst” ist, weiß schon Bescheid. Das war ganz eindeutig, ich habe ihr den Song auch vorgespielt.

Katharina:
Es gibt eine Schriftstellerin, Dorothy Parker…

Henning:
… „Noch ein Martini und ich lieg’ unterm Gastgeber.“

Katharina:
Genau die. In den 20er Jahren hat sie in New York den berühmten „Vicious Circle“ um sich geschart – eine Gruppe von Kreativen und Intellektuellen, die zusammen während der Prohibition die Nächte durchgezecht haben. Werft jetzt mal alle ein paar Namen rein: Wer dürfte in euren eigenen „Vicious Circle“?

Henning:
Von unseren Freunden wären einige dabei. Und natürlich Musiker, die wir bewundern, wie Michael Jackson oder Paul McCartney.

Malte:
Aber wir brauchen auch Fußballer für die Stimmung. Pele oder Asamoah, der legt dann ein bisschen auf.

Christopher:
Und irgendwelche spannenden Politiker.

Henning:
Aber so richtig schön gegensätzlich, Che Guevara und Konrad Adenauer zum Beispiel. Oder so eine Suffragette aus England, die für das Frauenwahlrecht gekämpft hat. Und eine Frau wie Hannah Arendt natürlich.

Katharina:
Auf Facebook dominiert gerade der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf. Traditionell ergreifen in den USA viele Musiker für einen Kandidaten Partei – von Popstars bis zur Indieszene. Wie steht ihr zu der Liaison von Kunst und Politik?

Christopher:
Für manche Leute passt das einfach sehr gut, weil Kunst auch wahnsinnig politisch sein kann – aber eben nicht muss. Und im amerikanischen Wahlkampf finde ich das manchmal ganz furchtbar, dass alle Künstler für ihren Kandidaten so richtig groß die Werbetrommel rühren, ohne dass man das Gefühl hat, dass sie sich wirklich mit den Themen befasst haben.
Ich persönlich könnte mir nicht vorstellen, für ein Parteiprogramm zu werben. Dafür gibt es bei allen Parteien zu viele Dinge, die ich nicht cool finde. Klar, bei manchen mehr, bei manchen weniger. Aber ich würde mir hier keine Partei auf die Fahne schreiben.

Generell würde ich sagen, dass man mit der Liaison von Kunst und Politik sehr vorsichtig sein muss. Wer bereits viel Aufmerksamkeit erhält und dann anfängt, politische Inhalte anzusprechen, der trägt auch eine große Verantwortung.

Henning:
Ich finde es sehr schade, wenn sich Parteien nicht mehr über ihre Programme definieren und profilieren, sondern mit ihren Connections coole Leute anwerben, von denen sie sich dann repräsentieren lassen. Beispielsweise für den Obama-Wahlkampf der Demokraten haben sich damals sehr viele Leute aus der Popbranche vor den Karren spannen lassen. Generell würde ich sagen, dass man mit der Liaison von Kunst und Politik sehr vorsichtig sein muss. Wer bereits viel Aufmerksamkeit erhält und dann anfängt, politische Inhalte anzusprechen, der trägt auch eine große Verantwortung: Er muss sicherstellen, dass seine Meinung fundiert ist und er sie niemandem aufdrängt.

Katharina:
Bei dem KIZ-Track „Hurra die Welt geht unter“ hast du den Refrain gesungen. Was hat dir an dem Song gefallen?

Henning:
Ich bewundere KIZ dafür, dass sie es geschafft haben, eine schöne Persiflage auf diesen Weltuntergagshype zu schaffen. Ich mag die Religionskritik in dem Song sowie das Hinterfragen, was Geld eigentlich bedeutet. Ohnehin werden darin viele gute Fragen gestellt.

Katharina:
Eure Musik definiert sich unter anderem durch die starken Texte. Was kann so eine Art von Musik in unserer Zeit ganz allgemein bedeuten?

Henning:
Wir sollten nicht diejenigen sein, die das beurteilen. Wir sind die Musiker, die Künstler. Ich finde es immer blöd, wenn Künstler über die Bedeutung ihrer eigenen Kunst reden. Welche Bedeutung wir oder unsere Musik in einem popkulturellen oder gesellschaftlichen Zusammenhang haben können – das möchte ich einfach nicht bewerten.

Katharina:
Gibt es trotzdem progressive Ideen, die euch privat sehr beschäftigen?

Christopher:
Voll viele, aber es ist sehr schwierig, so etwas in Interviews zu erzählen. Zum einen, weil wir immer noch darauf klarkommen müssen, unsere eigenen Aussagen irgendwo abgedruckt zu sehen – und dabei auch zu checken, auf welche Art das wiedergegeben wurde, was wir artikuliert haben. Außerdem hat jeder von uns eine sehr starke eigene Meinung. Wir stehen als Band nicht unbedingt für die eine gemeinsame Sache ein.

Katharina:
Gerade der deutsche Journalismus neigt dazu, Künstler anhand weniger Statements sofort in Kategorien einzuteilen oder musikalisch und politisch in eine Ecke zu drängen. Wenn man wie ihr gerade einen rasanten Aufstieg erlebt, ist die Angst davor dann umso größer?

Christopher:
Man will sich auf jeden Fall nicht vor einen Karren spannen lassen, von dem man nicht mehr loskommt. Wir haben gerade eh schon mit so viel Resonanz zu tun, die für uns total neu ist, dass wir versuchen, das Ganze noch klein zu halten. Trotzdem schaffen wir auch mit Freunden und der Crew ein Klima, in dem wir darüber privat sehr viel sprechen.

Henning:
Wir haben keine Angst davor, politisch zu sein. Wir machen nicht aus dem Grund keine politische Musik, um nicht als linksextreme Idioten abgestempelt zu werden, sondern weil es gerade nicht Sache ist. Die Musik, die wir in den letzen sechs Jahren gemacht haben, konnten wir mit dem Album gerade auf den Punkt bringen. Und das wollen wir zeigen.
Außerdem finde ich es gut, dass es in Deutschland so einen kritischen Journalismus gibt. Wir haben keine Angst vor Kritik. Selbst wenn man mal von einer großen Zeitung zerrissen wird, dann denke ich mir immer noch: Krass, der nimmt sich die Zeit und hält uns für wichtig genug, sich mit uns zu beschäftigen. Was für ein Kompliment!
Ich weiß über mich selbst, dass ich ein politischer Mensch bin, und lebe das als Privatperson auch intensiv aus. Als Band dagegen sind wir in einer Form zurückhaltend, die vielen Leuten gegen den Strich geht. Ich glaube, sie wünschen sich von uns eine Rebellion, die sie vielleicht selbst nie richtig gelebt haben.

Von Fremden bewertet und vielleicht auch zerrissen zu werden, ist auch eine interessante menschliche Erfahrung.

Severin:
Es gibt bei uns ja generell zwei Dinge, die es zu kommentieren gibt: unsere Musik und das Persönliche. Wenn einer von uns persönlich angegriffen wird, machen wir uns darüber lustig. Denn ein Typ, der beispielsweise etwas Schlechtes über Chrissy schreibt, hat vielleicht 25 Minuten mit uns geredet. Aber wir kennen Chrissy seit Jahren und wissen es einfach besser.

Henning:
Von Fremden bewertet und vielleicht auch zerrissen zu werden, ist aber auch eine interessante menschliche Erfahrung. Die machen nicht viele Leute im Leben.

Christopher:
Manchmal ist es komisch, dass die eigene Person total überhöht dargestellt wird. Wir sind doch ganz normale Jungs! Aber trotzdem werden wir von kleinen Mädels auf ein Podest gehoben. Ich finde es immer noch voll komisch, wenn mein Name irgendwo gekreischt wird.

Katharina:
Du warst halt nie ein 13-jähriges Mädchen.

Henning (mit tiefer Stimme):
Ich schon.

Katharina:
Hast du dich auch mal einer Fanliebe hingegeben?

Henning:
Ohja, ich hatte große Fanlieben. Ich hab’ zwar nie den Namen gekreischt, aber ich habe Bilder dieser Person in meinem Zimmer aufgehängt oder mir vorgestellt, wie es wäre, wenn ich sie irgendwann mal treffen würde.

Katharina:
Mitte zwanzig zu sein und zu wissen, dass junge Mädchen euch als ideale Jungs ansehen – wie fühlt es sich an?

Henning:
Man darf sich das nicht so vorstellen, dass ich zuhause sitze und das Bild im Kopf habe, wie eine 13-Jährige gerade in der Schule an mich denkt und ich das fühlen kann. So läuft das nicht!

Malte:
Das war gerade das allererste Mal, dass ich daran gedacht habe.

Henning:
Trotzdem muss für die Zielgruppe noch erwähnt werden: Malte mag Hunde!


Normen Gadiel

Submission — Normen Gadiel

Viele Einzelteile

3. Mai 2016 — MYP No. 20 »Mein System« — Text & Foto: Normen Gadiel

Mein System ist flexibel, hört aufs Herz, wird getrieben von Fleiß und ist verbunden mit Selbstreflexion und Freude.

Mach etwas, von dem du erwartest, dass es dich glücklich machen wird, ohne dabei unwägbares zu scheuen. Dies ist für mich das Fundament aller nachfolgenden Entscheidungen.

Wichtig ist mir dabei, offen für Neues zu sein. Menschen, Sichtweisen und eng damit verbunden auch Freude und Leid. Wobei Freude überwiegen sollte, da sie mein Antrieb ist. Geht Freude verloren, wird alles schwer.

Der ständige aktive Geist hinterfragt das Gewohnte und sucht nach dem Sinn. Das ist nicht immer leicht zu ertragen, ruft es doch Schuldgefühle hervor. Schuldgefühle bezogen darauf, dass man seinem Leben mehr Sinn geben könnte. Und dennoch möchte ich nicht darauf verzichten.

Das sich ständige Hinterfragen hilft mir bei der Selbstfindung. Wer will ich sein, was will ich machen, was soll von mir bleiben?
Ich muss dafür angelerntes Verhalten ablegen, alte Sichtweisen widerrufen und entscheiden, wie ich das Leben leben will.

Hass hat in meinem System keinen Platz. Niemals habe ich in meinem Leben einen Menschen gehasst. Es gibt für mich nichts Schlimmeres, als meine Energie in etwas zu stecken, von dem ich nichts Positives erwarte. Hass kann nicht positiv sein.

Mein System besteht aus vielen Einzelteilen – zusammengesetzt ergibt es ein Ganzes. Ich bin mein System.


Jonas Meyer

Submission — Jonas Meyer

Angry Young Man

3. Mai 2016 — MYP N° 20 »Mein System« — Text & Foto: Jonas Meyer

Erst schreien,
dann verstummen.
dann verdammen.

Und dabei fast ersticken.

Erst hochschießen.
dann abstürzen,
dann reinfressen.

Immer schneller, immer tiefer.

Erst hinwerfen,
dann herwerfen,
dann verwerfen.

Achterbahn in Schieflage.

Plötzlich loslassen.
Mitten in der Luft.

Stecker ziehen.
Luft holen.

Geblendet sein.

Jedes Jahr aufs Neue.


Sntflut

Submission — Sntflut

In Bildern gefangen

3. Mai 2016 — MYP No. 20 »Mein System« — Text & Foto: Raphael Schumacher & Sebastian Kortmann

Bilder können eine außerordentliche Schlagkraft entwickeln, denn sie werden nahezu überall und auf unterschiedlichste Art rezipiert. Bilder können entgegengesetzter nicht wirken: zuwider, demonstrierend, moralisierend, irritierend oder humoristisch.

Wir leben in einer schier endlosen Bilderwelt aus bewegten Fernsehbildern, der Fotografie oder Abbildungen im Internet. Bilder sind omnipräsent und eine Ikonophobie ist allgegenwärtig. Es scheint, als fürchte sich die Gesellschaft vor der Macht der Bilder und vor Zerstreuung und Wahnvorstellungen. Entwickeln die Bilder eine so immense Vitalität, dass sie kulturelle und zivilisierte Fertigkeiten nivelliert?

Insbesondere wir als Foto- und Cinematografen nehmen eine entscheidende Haltung ein, denn die Schaffung von Bildern wird von abgebildeten und abbildenden Bildproduzenten geprägt. Somit stellt sich die grundlegende Frage, eben wie der Bildproduzent die Bilder und deren ikonische Wirkung entstehen lässt. Der Prozess der Selektion von Bildern beispielsweise obliegt dem Bildproduzenten. So bewerten letztlich die Ausdruckskraft und das Machtpotenzial des Bildes insgesamt, welches vom Kunden konsumiert wird. So erreichen uns zumeist nicht die ästhetisch wertvollsten, sondern vielmehr die polemisch-markantesten Bilder.

Vor allem der technische Wandel und die damit verbundene Möglichkeit, eine digitale Bildverarbeitung vorzunehmen, schaffen neben analogen Bildern neue bildliche Darstellungen. Insbesondere die Fotografie präsentiert die Dinge naturgetreu – ohne Einwirkung des Menschen – und lässt die Natur selbst sprechen.

Die Fotografie oder auch der Film helfen uns dabei, soziale Ereignisse visuell zugänglich zu machen, und bilden die Schnittstelle zwischen einer subjektiven, kurzweiligen Erfahrung und dem Wunsch nach dauerhafter Visualisierung. Fotografien sind objektiv inter­pretierbar. Sie enthalten Informationen, aber keine Bedeutungen. Demnach ergeben sich die Bedeutungen erst dann, wenn sie in einem Kontext stehen. Unsere mentalen Bilder wandern in das technische Medium des Apparates. Die Macht der Bilder kommt hierin zum Vorschein, denn in einer Welt, in der es rapide zugeht und sich alles wiederholt, bietet die Fotografie eine historische Beschaffenheit der Techniken.

Der Medienphilosoph Vilem Flusser propagiert, aus dieser „Flut der Redundanz informativer Bilder“ auszubrechen. Er meint, dass wir uns in einem Fotouniversum befinden und wir die Welt ausschließlich in Funktion von Fotos erleben. Ja, die Fotografie schafft eine komprimierte Abbildung der Wirklichkeit und Welt.

Der fotografische Akt impliziert, dass wir unmissverständlich über die Umwelt Bescheid wissen, weil die Kamera sie für uns aufzeichnet. Der Wirklichkeitscharakter des Bildes lässt uns aber immer wieder aufhorchen. Denn die inszenatorische Fähigkeit von Bildern ist uns in der heutigen Zeit durchaus bekannt. Außerdem findet sich die magische Kraft der Bilder insbesondere in dem Umstand wieder, dass Fotografien mehr Wirklichkeit abbilden, als wir konsumieren wollen bzw. können. Folglich entsteht ein Wechselspiel aus dem eigenen mentalen Bild und dem physischen Bild der Welt. Dieses Wechselspiel kann durch keine Objektivität, Systeme oder Erfahrungen nivelliert werden, wenn man selbst der Fotograf ist.

Bilder prägen unsere Sicht auf die Umwelt. Mit der technischen Revolution und der Verbreitung der Massenmedien hat sich die Signifikanz des Bildes im Feld der Gesellschaft gewandelt. Denn ein Bild geht immer eine soziale und dialogische Beziehung mit seinem Konsumenten ein und besitzt die Kraft, neue gesellschaftsübergreifende Perspektiven zu eröffnen.


Tina Sosna

Submission — Tina Sosna

Die Schönheit in uns

3. Mai 2016 — MYP No. 20 »Mein System« — Text & Foto: Tina Sosna

Wie Venen läuft das Geäst eines Baumes in den Himmel und streckt sich in die Welt. Es atmet die Luft so wie wir, es wiegt im Wind so wie wir und es lebt. Wenn wir die Rinde eines Baumes berühren, berühren wir dann die Natur oder berühren wir uns?

Die Menschen gehören zur Natur, sie existieren nicht nur ihn ihr, sondern bilden einen Teil davon. In jedem kleinen Bisschen können wir uns wiedererkennen. Wir wechseln mit den Jahreszeiten im Einklang mit der Welt, sind müde im Winter und voller Energie, wenn es langsam wärmer wird. Wir erleben und sehen vieles, werden älter und vergehen. Wir erblicken die Schönheit der Erde und blicken gleichsam auf die Schönheit in uns.

Wir gehören zur Natur, ihrem System, stammen von ihr ab und finden wieder zu ihr zurück – wie ein Samenkorn, das zu einer Blume wächst und wieder verblüht.


Robert Melchior Dias Santos

Submission — Robert Melchior Dias Santos

Farben und Klänge

3. Mai 2016 — MYP No. 20 »Mein System« — Text: Melchior Santos, Foto: Hannes Steuck

Wenn dir jeder sagt, dass deine Herangehensweise die falsche ist, gehst du meistens in die richtige, zumindest aber in eine neue Richtung. Was früher zu Unsicherheit geführt hat, ist heute Teil meiner Inspiration und meiner Motivation. Gedanken anderer bremsten mich aus, deshalb entwickelte ich mein ganz eigenes System: Impulsiv, gefühlsorientiert und ohne eine vorgefertigte Struktur entstehen Ideen, denen Geschaffenes folgt.

Farben und Klänge sind für mich die einzigen Ventile meiner momentanen Gefühlslage. Aus diesem Grund entstehen meine Werke in kurzen Zeiträumen, da sie sonst nicht authentisch wären. Für Planung bleibt wenig Platz. Schnelllebig wie die Welt, in der ich mich bewege.

Ein Gerüst aus angewandten Techniken, vereinzelten Strukturen und stetig wechselnden Inspirationsquellen wird selten allein geschaffen, sondern entsteht unter Einfluss verschiedener Faktoren: Freunde, Umfeld, Lebenssituation, um nur einige zu nennen. Daran orientiere ich mich. Das ist mein System.


Michael Gegenfurtner

Submission — Michael Gegenfurtner

Kritik der Systemkritik

3. Mai 2016 — MYP No. 20 »Mein System« — Text & Illustration: Michael Gegenfurtner

Mein System, dein System, kein System.
Substanz ohne Form.

System analysieren. System kritisieren. System bekämpfen.
Feindbild schaffen. Idealismus zu Ideologie. Ideologie wird System, Meinungsfaschismus ein Extrem.

Systeme analysieren. Systeme kritisieren. Systeme bekämpfen. Weitere Feindbilder schaffen. Philanthropie zu Misanthropie. Individualismus des Systems, Verkaufsschlager!

Substanz ohne Form.

An die Mauern ist „Fuck the system“ geschmiert, Menschen­aufläufe üben öffentlich Kritik. Politische Hetze liegt in der Luft. Links, Rechts, Oben oder Unten, das Resultat bleibt dasselbe.
Umgeben von Feindbildern, Polarisierung. Richtig oder falsch, gut oder böse, moralisch oder unmoralisch. Wertungssysteme, Konstrukte menschlicher Existenz. Aktiv wird passiv, guter
Wille zu blankem Hass.

Verstehen statt Kommunikation. Inhalt statt Verpackung.
Wesen statt Schein. Reflexion statt Kritik. Authentizität statt Selbstverwirklichung.

Mein System, dein System, kein System.
Substanz ohne Form.


Martin Bürger

Submission — Martin Bürger

Weltreisender

3. Mai 2016 — MYP No. 20 »Mein System« — Text: Martin Bürger, Foto: Roberto Brundo

Mein Freund Jochen meint: „Ein System ist wie Wackelpudding. Stößt du es an, wackelt es. Später richtet es sich wieder auf.“

Systemtheoretiker betrachten ein System als eine Funktionseinheit, die aus verschiedenen Elementen oder Akteuren besteht und sich durch ihre Merkmale und eine gewisse Eigenständigkeit von ihrer Umwelt unterscheiden lässt. Systeme können in Bezug zu anderen Systemen stehen. Sie können Bestandteil anderer Systeme sein, so die Definition.

Systeme stehen immer in Bezug zu anderen, meine ich. Mein System auch, es lässt sich schwer abgrenzen oder als eine Einheit beschreiben. Ich frage mich, ob ich überhaupt ein System habe bzw. wie dies darstellbar wäre. Ich nehme einen Stift zur Hand und überlege, wie es aussehen könnte, mein System. Welche Linien muss ich ziehen, um einer Darstellung möglichst nahezukommen? Wo setze ich meinen Stift am besten an? Welchen Sinn sollen meine Linien ergeben, welche Aussage sollen sie treffen? Wo fängt mein System an und wo endet es?

Ich komme zu dem Schluss, dass eine Darstellung auf dem Papier absolut keinen Sinn ergibt und zerreiße das Blatt in immer kleiner werdende Stücke. Dann fege ich alles vom Tisch.

„Später richtet es sich wieder auf.“

Habe ich gar am Ende überhaupt kein System? Die Vorstellung lässt mich erschaudern. Systemlos, das klingt für mich ziellos, als würde etwas nicht funktionieren. Dabei funktioniert alles einwandfrei. Ich bin mit mir sehr zufrieden.

Irgendetwas mache ich richtig, irgendetwas funktioniert tadellos. Ich bin alles andere als systemlos, meine ich. Ist mein System etwa zu komplex, um durch mich selbst dargestellt oder verstanden zu werden?

Ich stelle mir mein System als ein Ensemble aus Bausteinen vor. Es ist mehr als die Summe von Prozessen und Funktionsabläufen, da ist keine feste Struktur. Eine Grafik ergibt jedenfalls keinen Sinn, denn sie wäre permanent. Mein System ist flexibel, alle Bausteine lassen sich frei anordnen.

„Stößt du es an, wackelt es.“

Ich erinnere mich, dass Architekten Bauwerke möglichst elastisch konstruieren, um sie vor äußeren Einwirkungen, wie etwa vor Erdbeben oder starkem Wind, zu schützen. Unter dem Suchbegriff „flexibles Bauen“ finde ich zudem Hinweise über die nachhaltige Nutzung eines Bauwerks. Eine flexible Bauweise beschreibt die vielseitige Nutzbarkeit oder die Offenheit eines Gebäudes gegenüber einer zukünftigen Nutzung.

Elastizität und Flexibilität sind wichtige Stabilitäts- und Schutzfaktoren einer Struktur. Egal welche Einwirkungen stattfinden, Gebäude haben so weiterhin Bestand. Für einen Menschen bedeutet das, auch in schwierigen Situa­tionen auf äußere Einflüsse reagieren zu können, sie abprallen zu lassen oder in sich aufzunehmen. Die Flexibilität eines Systems bestimmt dessen Nachhaltigkeit.

„Ein System ist wie Wackelpudding.“

Wandelbarkeit als Mittel zur Selbsterhaltung?! Ich fühle mich gleich viel besser. Und so ergibt vieles einen Sinn. Denn mein System, das ist täglich anders, es ist wandelbar. Mein System, das ist flexibel, es passt sich an. Mein System, das ist elastisch, es bietet Widerstand. Mein System, das ist ein Weltreisender, heute hier, morgen dort – und dennoch immer bei sich zuhause. Mein System, das ist trotz aller Flexibilität beständig, du erkennst es, wenn du es siehst.

Mein System, das ist mehr als die Summe seiner Teile, das ist wie Wackelpudding: Stößt du es an, so wackelt es. Und dann richtet es sich wieder auf.


MYP19 – Prolog "Mein Protest"

Editorial — MYP Magazine N° 19

Prolog »Mein Protest«

29. November 2015 — Die Beatsteaks fotografiert von Maximilian König

— Die Beatsteaks im Interview


Beatsteaks

Interview — Beatsteaks

Wild Years Revisited

Die 90er, ein wildes Jahrzehnt: Die DVD wurde erfunden, Windows 95 kam auf den Markt, Robbie Williams verließ Take That und eine Band namens Beatsteaks gründete sich in Berlin. Zu ihrem 20. Jubiläum schwelgen wir mit den legendären Musikern in Nostalgie und lassen die wilden Jahre wieder aufleben.

29. November 2015 — MYP No. 19 »Mein Protest« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Maximilian König

„Dieses Haus stand früher in einem anderen Land.“ – Es ist dieser eine Satz, der sich in diesen Minuten in unseren Köpfen ausbreitet und dabei nicht den Eindruck macht, als wolle er so schnell wieder verschwinden. Man kennt den Satz aus der Brunnenstraße in Berlin-Mitte, wo er in riesigen Lettern auf die Fassade eines Hauses geschrieben steht. Von dort erinnert er an eine Zeit, die gerade einmal ein Vierteljahrhundert entfernt liegt. 25 Jahre – was ist das schon?

Ein Mittwochnachmittag im September. Wir stehen vor dem „Funkhaus Berlin“, einem denkmalgeschützten Gebäudekomplex im Bezirk Treptow-Köpenick, in dem von 1956 bis 1990 der Rundfunk der DDR seinen Sitz hatte. Das alte Funkhaus liegt direkt an der Spree, am Ufer gegenüber erstreckt sich großzügig der Plänterwald. So hat die ganze Szenerie fast etwas von Naherholungsgebiet, von Naturidylle außerhalb der Stadt. Da fällt es im ersten Moment auch gar nicht auf, dass der Zahn der Zeit sichtlich an den gewaltigen Natur- und Backsteinfassaden genagt hat.

Dass dieses Gebäude einmal in einem anderen Land stand, wird uns erst bewusst, als wir über den Haupteingang den ehemaligen Verwaltungstrakt betreten. Auch wenn der Marmor im Foyer, der zum Teil noch aus der Neuen Reichskanzlei stammt, versucht, den letzten Glanz aufrecht zu erhalten, ist es doch in erster Linie ein Gefühl von Vergangenem und Verlassenem, das hier über allem schwebt.

Mit dem Aufzug fahren wir von der Eingangshalle in eines der oberen Geschosse und stehen nach wenigen Minuten in einem großzügig geschnittenen Büro samt Vorzimmer. Wir trauen unseren Augen nicht: Abgesehen davon, dass der Teppich deutliche Verschleiserscheinungen zeigt, wirkt alles, als hätte hier gestern noch jemand gearbeitet. In diesem Fall scheint es wohl ein hochrangiger Funktionär des DDR-Rundfunks gewesen sein. Wer ihn sprechen wollte, musste nicht nur an der Vorzimmerdame vorbei, sondern auch an einem endlos langen Konferenztisch mit einem guten Dutzend Stühlen. Am Ende dieser Strecke erwartete den Besucher ein breiter Schreibtisch. Wer hier auf dem Chefsessel saß, hatte nicht nur eine tolle Aussicht, sondern auch eine Menge Macht. So drängt sich der Gedanke auf, dass in diesem Raum nicht nur Musikerkarrieren angestoßen wurden, sondern auch beendet und damit Schicksale besiegelt.

Aber diese Zeiten sind vorbei. Was bleibt, ist Ostalgie – zumindest hier. Wohin man schaut und greift, gibt es die DDR zum Anfassen: Schreibmaschinen, Fernseher, Telefone, Radios, Bücher, Kalender, Unterlagen und etliche Skurrilitäten. Alles Originale, versteht sich. Sogar die Gardinen sind noch in dem Zustand, indem sie waren, als man sie zum letzten Mal zugezogen hat. Darüber hinaus gibt es natürlich Honecker-Devotionalien aller Art. „Vorwärts immer, rückwärts nimmer.“ Oder umgekehrt.

Plötzlich sind einige Stimmen zu hören, die Tür öffnet sich. Im nächsten Moment stehen Arnim Teutoburg-Weiß und Peter Baumann von den Beatsteaks im Raum. Mit einer Energie und Offenheit, die dieses Bürokratenzimmer seit 1956 wohl nicht allzu oft erlebt hat, kommen die beiden Musiker auf uns zu und begrüßen uns. Als hätten sie im Sturm den Raum für sich erobert, greifen und begutachten sie diverse DDR-Artefakte, ziehen Grimassen und lümmeln sich auf dem Chefsessel herum.

Die Jungs haben Spaß, daran besteht kein Zweifel. Dabei verströmen sie trotz ihrer Energie eine angenehme, fast ansteckende Gelassenheit. Vielleicht ist es diese Mischung, die dafür sorgt, dass die Band seit mittlerweile 20 Jahren erfolgreich ist. Ihre gemeinsame Geschichte beginnt Mitte der 90er, genauer gesagt im Jahr 1995. Manche beschreiben diese Zeit als wilde Jahre, vor allem in Berlin.

Jonas:
Wir haben einen kleinen Rückblick auf das Jahr 1995 mitgebracht. In diesem Jahr rollte beispielsweise der erste Castor-Transport durch Deutschland, Christo verhüllte den Reichstag, der BVB wurde deutscher Fußballmeister und Robby Williams verließ Take That. Welche Erinnerungen habt ihr an das Jahr 1995?

Arnim:
Stimmt, diese Ereignisse habe ich auch noch im Kopf. Was ich aber 1995 selbst so getrieben habe, das weiß ich nicht mehr genau. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich ständig auf irgendwelchen Konzerten unterwegs war und Musik hoch und runter gehört habe. Das war zwar cool, aber trotzdem hat sich mein Leben auch irgendwie langweilig angefühlt – jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als ich Peter und die Jungs kennengelernt habe. Es war wirklich toll, endlich Menschen gefunden zu haben, die genauso besessen waren von Musik wie ich. Mit einem Mal war auch meine Langeweile weg und ich hatte das Gefühl, dass mein Leben wieder einen Inhalt hat.

Jonas:
Wie habt ihr alle damals zueinander gefunden?

Peter:
Es gab da einen Kumpel, dem ich irgendwann einmal erzählt hatte, dass ich gerne wieder mit ein paar Leuten Musik machen würde. Er sagte sofort „Ich kenn’ da wen!“ und hat mich wenig später zu einer Bandprobe von The Beatsteaks mitgenommen – im Bandnamen gab es ganz am Anfang noch ein „The“. Dadurch habe ich Bernd Kurtzke sowie Stefan Hircher und Alexander Rosswaag kennengelernt – die beiden Gründungsmitglieder, die heute nicht mehr mit an Bord sind. Von diesem Tag an haben wir Vier zusammen Musik gemacht, damals noch in einem winzigen Keller, dessen Wände überall mit Filz behangen waren. Das hat von der ersten Minute an riesigen Spaß gemacht und war absolut aufregend.
Über einen Arbeitskollegen habe ich ein paar Wochen später Arnim kennengelernt. Wir waren uns irgendwie sofort grün und haben uns richtig gut verstanden. Auch Arnim ist einfach mal mit zur Bandprobe gekommen und war ab diesem Moment mit dabei. Zu diesem Zeitpunkt waren wir allerdings schon in einen wesentlich schöneren und größeren Probenraum umgezogen. Diesem neuen Probenraum, der in der Schönhauser Allee 48/49 lag, haben wir zwei Jahre später auch den Titel unseres ersten Albums gewidmet.

Jonas:
Wie das im Leben so ist: Wenn man erst einmal irgendwo festhängt…

Peter (lacht):
… dann hängt man dort fest. Die Band war für uns alle wie eine schöne Insel, auf der man den Alltag vergessen und abschalten konnte – eben genau das, was ein gutes Hobby ermöglichen sollte. Probe war jeden Dienstag und Donnerstag um 17 Uhr. Dann war Freiflug angesagt.
Diese Nachmittage Mitte der 90er fand ich immer total schön. Dabei hatten sie für uns gar keinen größeren Sinn. Wir haben es einfach nur genossen, gemeinsam laute Musik zu machen. An so etwas wie Live-Auftritte oder Platten aufnehmen hat damals noch absolut keiner von uns gedacht.
Lustigerweise erinnert mich dieses Gebäude, in dem wir uns gerade befinden, an unseren damaligen Probenraum. Die Platten draußen an der Wand sehen noch verdächtig nach Asbest aus – der Giftstoff, der früher überall zum Dämmen benutzt wurde. Ich weiß noch, wie ich mit Bernd in der Schönhauser Allee nichtsahnend etliche Asbest-Platten zersägt habe, um die Wände zu isolieren

Jonas:
Leider haben wir selbst das Berlin der 90er Jahre nicht erleben können. Gott sei Dank gibt es aber Dokumentationen wie etwa das Buch „Berlin Wonderland – Wild Years Revisited“, das uns im Ansatz ein Bild von dieser Zeit vermitteln kann – und das uns in etwa zeigt, aus welchem kreativen Biotop heraus eure Musik damals entstanden ist. Kann man eurer Meinung nach das Berlin der 90er tatsächlich als Wunderland bezeichnen?

Es gab ständig irgendwelche Konzerte in Berlin. Das ist zwar heute nicht anders, aber damals waren die Leute musikalisch total ausgehungert. Musiker wie Paul McCartney hatte ja im Osten nie jemand gesehen.

Arnim:
Ja, das war’s definitiv. Man muss wissen: Vier Jahrzehnte lang haben sich die beiden Teile Berlins völlig unterschiedlich entwickelt. Als plötzlich die Mauer weg war, strömten die Menschen in beide Richtungen. Nein, eigentlich strömten sie zuerst einmal nur in eine Richtung: in den Westen. Und so gab es mit einem Mal im Ostteil der Stadt unglaublich viel Platz. Überall entstanden Freiräume: Immer wieder wurden Gebäude besetzt, an den unterschiedlichsten Orten wurden Clubs eröffnet. Oder unerlaubte Partys veranstaltet. So hatte Berlin Anfang, Mitte der 90er etwas von einer verlassenen Stadt, obwohl es hier eigentlich damals schon total voll war.
Auch aus musikalischer Sicht hat sich in jener Zeit wahnsinnig viel bewegt. Die Electro- und Alternative-Szene, die sich hier in den 90ern entwickelt hat, brachte Bands hervor, die plötzlich an der Spitze der Charts standen.
Ohnehin gab es ständig irgendwelche Konzerte in Berlin. Das ist zwar heute nicht anders, aber damals waren die Leute musikalisch total ausgehungert. Musiker wie Paul McCartney hatte ja im Osten nie jemand gesehen. Auf einmal aber konnte man sich persönlich ein Konzert von ihm ansehen. Am nächsten Abend konnte man dann bei Westbam im Tresor sein und wieder einen Abend später die Beasty Boys im Loft anhören – einfach nur, weil es da war, weil es möglich war.

Jonas:
Vermisst ihr diese Zeit?

Arnim:
Nein, vermissen wäre zu viel gesagt. Wir haben einfach eine schöne Zeit erlebt, eine Zeit des totalen Aufbruchs. Daher schaue ich gerne zurück.

Peter:
Berlin war Mitte der 90er nicht weniger als ein Abenteuerspielplatz für Erwachsene.

Arnim:
Ich war damals noch gar nicht richtig erwachsen, wir alle nicht. Wir waren eher Kiddies.

Jonas:
Aber heute bist du erwachsen…

Arnim:
Ja, spätestens ab dem Moment, in dem man Vater wird, ist man endgültig erwachsen. Sollte man jedenfalls. (Arnim lächelt)

Jonas:
Eure Bandgeschichte ist eigentlich in erster Linie eine Freundegeschichte. Nun können Freunde ja vor allem durch eine gemeinsame Haltung verbunden sein, durch einen gemeinsamen Humor oder durch eine gemeinsame Idee von Musik. Was genau ist es, dass euch in eurer Freundschaft verbindet?

Arnim:
All das, was du gerade gesagt hast, und noch vieles, vieles mehr!

Peter:
Wenn ich mich für eines der genannten Dinge entscheiden müsste, wäre es eindeutig der Humor – denn alles andere basiert darauf in unserer Freundschaft.

Jonas:
War euch bei eurem allerersten Aufeinandertreffen klar: Diese Leute werde ich in meinem Leben nicht mehr los?

Arnim:
So radikal würde ich es nicht beschreiben. Ich würde eher sagen: Es war von Anfang an klar, dass man sich jetzt öfter trifft. Wir alle hatten ja nie überhöhte Vorstellungen, sondern sehr gesunde Ambitionen. So haben wir uns einfach immer nur gewünscht, dass wir bei der nächsten Probe genauso viel Spaß haben wie bei der davor. Und als wir zum ersten Mal im SO36 spielen durften, haben wir uns gewünscht dass wir noch einmal im SO36 spielen dürfen. Mehr nicht. Obwohl wir alle sehr, sehr unterschiedliche Charaktäre sind, hatten wir immer eine ziemlich klare Haltung dazu, was die Beatsteaks sind und wie sie funktionieren.

Jonas:
Bezieht sich das auch auf die Musik?

Arnim:
Nein. Was die Musik angeht, die wir selbst hören, waren wir damals schon absolut verschieden. Und das ist auch heute noch so.

Peter:
Was die Musik angeht, die wir selbst machen, ist es so, dass es immer gemeinsame Schnittpunkte gibt, bei denen alle sagen können: Das ist super.
Dass unsere Musik trotzdem so breit gefächert ist, liegt unter anderem daran, dass sich in der Band in der Regel immer irgendwelche Zweier- oder Dreiergrüppchen bilden, die etwas gut finden oder eine bestimmte Idee haben. Wenn man das als Einzelner anders sieht und demokratisch überstimmt wird, muss man damit klarkommen – im schlimmsten Fall. (Peter lacht)

Jonas:
Trotzdem ist es euch in den 20 Jahren gelungen, einen unverwechselbaren Sound zu entwickeln, den man immer mit den Beatsteaks in Verbindung bringt, sobald man ihn wahrnimmt.

Peter (lächelt):
Es ist wirklich schön zu hören, dass das von außen so empfunden wird. Man legt es ja nicht gezielt darauf an, so einen Sound zu erschaffen. Das ist einfach den Personen geschuldet, die bei den Beatsteaks Musik machen, und ergibt sich eher automatisch.

Arnim:
Und es ist eine Konsequenz daraus, dass wir immer schon darauf geachtet haben, dass wir uns nicht wiederholen. Dieser Weg ist definitiv der schwierigere, da man innerhalb der Band nicht immer alles gleich sieht. Trotzdem würde ich mal behaupten, dass wir es ganz gut hinbekommen haben, uns über die Jahre zu entwickeln und dabei immer gerade die Musik zu machen, die wir in in dem Moment lieben.
Das hat übrigens auch die Arbeit an unserem neuen Album „23 Singles“ so interessant gemacht, weil wir uns dadurch intensiv mit unserer eigenen Geschichte befassen konnten. Auf dieser Platte präsentieren sich neben zwei brandneuen Songs insgesamt 21 Beatsteaks-Klassiker, die wir neu gemastert haben. Als wir die Tracks zusammengestellt haben, hat es sich angefühlt, als würden wir ein altes Fotoalbum aufschlagen und feststellen, wie sich unsere Frisuren und Klamotten über die Jahre verändert haben.

Jonas:
Ganz am Anfang eurer Bandgeschichte habt ihr stellenweise noch auf Deutsch gesungen. Warum habt ihr euch damals letztendlich dazu entschlossen, nur noch englische Texte zu schreiben?

Für uns war die englische Sprache eine schöne Insel, auf die man sich aus dem Alltag flüchten konnte, auf die man sich aus dem Deutschen flüchten konnte.

Arnim:
Das war eine ganz bewusste Entscheidung. Wir fanden es irgendwie nicht so interessant, in unserer Muttersprache zu singen. Daher gab es bei uns insgesamt auch nur zwei, drei Ausflüge ins Deutsche.
Außerdem wollte ich persönlich immer Englisch singen und habe auch bis auf Die Ärzte keine deutsche Musik gehört. Für mich als Sänger war Englisch damals schon die Sprache, in der ich mich ausdrücken wollte.
Ganz abgesehen davon wollten wir auch nie Interviews geben, in denen wir uns hätten zu unseren Texten erklären müssen. Dazu hat uns das, was wir damals so von deutschsprachigen Bands in der Presse lesen konnten, viel zu sehr abgeschreckt. Auf Fragen wie „Was meinst du denn mit dieser Textstelle?“ oder „Was willst du denn damit sagen?“ hatten wir einfach keinen Bock. Mit englischen Texten konnten wir dieses Problem mehr oder weniger umgehen.

Peter:
Wie die Band war für uns auch die englische Sprache eine schöne Insel, auf die man sich aus dem Alltag flüchten konnte, auf die man sich aus dem Deutschen flüchten konnte. Außerdem haben wir uns einfach als eine coole Band verstanden. Und zu einer coolen Band gehörte damals auch, in einer Sprache zu singen, die mehr Freiheiten eröffnete, als es die bisherigen Hörgewohnheiten so ermöglichen konnten.

Jonas:
Dass ihr eine coole Band seid, haben irgendwann auch andere Menschen bemerkt. So haben sich in den 20 Jahren Beatsteaks unzählige Preise und Auszeichnungen angesammelt. Erinnert ihr euch an ganz bestimmte Ereignisse, die prägend waren für euren Erfolg und die die Weichen in die entscheidende Richtung gestellt haben?

Peter:
Ich erinnere mich weniger an konkrete Einzelereignisse, dafür aber an etliche geile Momente zwischendurch, die wir erleben durften. Ich weiß noch, wie wir einmal im SO36 gespielt haben und plötzlich neben den Jungs von Faith No More standen, die an dem Abend ebenfalls aufgetreten sind. Chuck Mosley, der Sänger, unterhielt sich mit uns – so von Musiker zu Musiker. Das haben wir zuerst gar nicht kapiert, weil wir alle riesige Faith No More-Fans waren und uns dadurch in erster Linie auch nicht als Musiker verstanden haben. In diesem Moment haben wir gemerkt, dass uns unsere Musik ja vielleicht auch die Möglichkeit bieten könnte, erfolgreich zu sein und damit unseren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Arnim:
Für mich gab es so einen prägenden Moment, als ich unsere Musik zum ersten Mal im Radio gehört habe. Das war so krass, ich konnte es kaum glauben: Hatte die Radiomoderatorin wirklich gerade unseren Namen gesagt? Da läuft tatsächlich jetzt unser Song, so ganz selbstverständlich nach einem Kracher wie „Hip Hop Hooray“ von Naughty by Nature? Das war absolut strange und schön zugleich – und dabei genauso überwältigend wie das erste Konzert, das wir gespielt haben, oder der Tag, an dem wir zum ersten Mal mit dem legendären Musikproduzent Moses Schneider zusammenarbeiten durften.

Jonas:
Mit Moses habt ihr damals die Platte „Smack Smash“ produziert – euer erstes Erfolgsalbum, wie es so schön heißt.

Arnim:
Das stimmt. Zwar waren für uns die beiden Alben davor auch schon Erfolgsalben, aber „Smack Smash“ war die Platte, auf der wir plötzlich zu uns und unserem ganz eigenen Beatsteaks-Stil gefunden haben: Hatten wir vor diesem Album noch stellenweise gewollt nach anderen Bands geklungen, haben wir spätestens seit „Smack Smash“ unser eigenens Süppchen gekocht.

Jonas:
Ihr seid in eurem musikalischen Leben einer Reihe außergewöhnlicher Künstler begegnet und habt an den unterschiedlichsten Stellen mit diesen Persönlichkeiten zusammengearbeitet. Gab es in den 20 Jahren bestimmte Menschen, die euch ganz besonders beeindruckt haben?

Bands wie „Die Toten Hosen“ oder „Die Ärzte“ haben uns vorgelebt, wie man Konzerthallen füllen kann und trotzdem kein Arschloch sein muss.

Arnim:
Ja, die gibt es. Pierre Baigorry alias Peter Fox zum Beispiel. Pierre ist ein Mensch, den wir alle außerordentlich schätzen – und den wir bewundern für seine ehrliche und gerade Haltung. Es ist total geil und macht wahnsinnig viel Spaß, mit so einem Typen mal einen Tag lang Musik zu machen.
Darüber hinaus würde ich sagen, dass uns generell alle Musiker beeindruckt haben, mit denen wir als Vorband auf Tour gehen durften. Von Bands wie den Toten Hosen oder Die Ärzte haben wir wirklich viel gelernt.

Jonas:
Zum Beispiel?

Arnim:
Zum Beispiel wie man sich als Band korrekt gegenüber einer Vorband verhält.

Peter:
Und wie man sich überhaupt verhält. Diese Bands haben uns vorgelebt, wie man Konzerthallen füllen kann und trotzdem kein Arschloch sein muss.

Arnim:
Oder auch: Wo man Geld verdient und wo man besser kein Geld verdient.

Peter:
Wir haben vor allem sehr viel darüber gelernt, was man nicht machen sollte. Das ist für eine Band fast noch wichtiger als zu wissen, was man machen muss, denn das sagt dir dein Bauch schon ganz alleine. Und alles Weitere ist Erfahrung.

Jonas:
Ich springe nochmal in das Jahr 1995 zurück. Damals wurde die DVD vorgestellt, Windows 95 kam auf den Markt und „Multimedia“ war das Wort des Jahres. Rückblickend wirken diese Ereignisse wie eine Prophezeihung, wenn man sich vor Augen führt, dass in der heutigen Medienlandschaft eigentlich kein Musiker mehr ohne Website, Facebook-Page oder YouTube-Channel überleben kann. Empfindet ihr diese Entwicklung – bezogen auf die Beatsteaks – eher als Fluch oder als Segen?

Arnim:
Wir haben das in erster Linie als eine interessante Reise empfunden. Wir kommen ja aus einer Zeit, in der noch Platten verkauft wurden und diese Plattenverkäufe auch extrem wichtig waren. Damals gab es das Internet noch nicht in der breiten Masse und Social Media Plattformen wie Facebook oder YouTube waren noch gar nicht erfunden.
Das Gute daran ist, dass wir unsere eigene kleine Burg fertig bauen konnten, bevor dieser ganze Wahnsinn losgegangen ist. Daher stehen wir auch nicht unter dem Druck, dem heute Bands ausgesetzt sind, wenn sie sich gründen und erfolgreich sein wollen. Wir haben das große Glück, nicht alle Medien bespielen zu müssen, sondern uns aussuchen zu können, welche Plattform wir nutzen möchten, um unsere Botschaften zu kommunizieren.
Ich möchte auch in der heutigen Zeit nicht nochmal anfangen müssen. Allein die Tatsache, dass im Netz ständig jeder alles kommentiert und kritisiert, finde ich total krass. Dafür braucht man als junge Band von Anfang an eine dicke Haut. Und die hatte ich persönlich vor 20 Jahren nicht.
Natürlich wurde auch damals schon hinter unserem Rücken kritisiert und gelästert, aber das haben wir nicht mitbekommen und schon gar nicht irgendwo lesen müssen. Wenn man heute in der Öffentlichkeit steht, kann man sich direkt und unmittelbar ein Bild davon machen, was bestimmte Gruppen von Menschen über einen denken. Das empfinde ich als sehr ungesund, denn es besteht die Gefahr, dass man ständig darüber nachdenkt, ob das, was man tut, anderen gefällt oder nicht.

Heute gibt es ein Überangebot an Meinungen, das einen dazu zwingt, sich genau zu überlegen, wo man sich wie darstellt.

Peter:
Vor 20 Jahren war alles einfach übersichtlicher. Damals hat man einfach einer Zeitschrift ein Interview gegeben, das man anschließend überall als Referenz aufführen konnte. Heute gibt es ein Überangebot an Meinungen, dass einen dazu zwingt, sich genau überlegen zu müssen, wo man sich wie darstellt. Das finde ich extrem anstrengend.

Jonas:
A propos Internet: Auf eurer Website habt ihr eine interaktive Fototapete eingerichtet, auf der man Erinnerungsfotos von Momenten aus 20 Jahren Beatsteaks posten kann – eine schöne Idee, sich gemeinsam mit den Fans an die Zeit von 1995 bis heute zu erinnern.

Peter:
Ja, das ist eine richtig geile Sache. Wir haben unsere Website davor immer nur als Newskanal benutzt, über den wir unsere Fans angesprochen haben. Mit der Photowall haben wir diesen Mechanismus umgedreht. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass das Internet auch unendlich viele Vorteile bietet.

Jonas:
Es hilft einfach beim Erinnern.

Arnim:
Ja, in unserem Fall durch die vielen alten Fotos. Mir persönlich würde es aber schon reichen, mich lediglich anhand von Musik an die Vergangenheit zu erinnern. Und damit meine ich nicht nur unsere eigene Musik, sondern auch die, die ich selbst im Laufe meines Lebens so gehört habe. Wenn ich heute auf einen Song stoße, der mich früher mal berührt hat, ist die Erinnerung sofort wieder da.
Als du eben gefragt hast, was uns zum Jahr 1995 einfällt, habe ich daher auch zu allererst an die Musik aus dieser Zeit gedacht. Damals hat beispielsweise Oasis das Album „(What’s the story) Morning Glory?“ herausgebracht – das hat mich absolut umgehauen. Wenn ich mir heute die Erinnerung an eine bestimmte Zeit ins Gedächtnis rufen will, muss ich mir nur wieder die Musik anhören, die mich damals umgehauen hat, und schon sind alle Bilder dazu in meinem Kopf.

Jonas:
Wenn unser kleiner Jahresrückblick vollständig sein soll, müssen wir auch darüber sprechen, dass 1995 das Jahr des Terrors war: Der Bombenanschlag in Oklahoma, der Giftgasanschlag in der Tokioter Ubahn, das Massaker an den bosnischen Muslimen in Srebrenica und der Brandanschlag auf die Synagoge in Lübeck sind Ereignisse, die uns noch heute in grausiger Erinnerung sind. Wenn man sich vor Augen führt, dass drei Jahre vorher bereits Asylunterkünfte in Rostock-Lichtenhagen in Brand gesetzt wurden und im Deutschland des Jahres 2015 immer noch beschämende Bilder von Fremdenfeindlichkeit im TV zu sehen sind, verliert man da die Hoffnung, dass der Mensch sich ändern kann?

Arnim:
Ganz grundsätzlich würde ich nicht sagen, dass sich in den letzten 20 Jahren nichts verändert hat. Nur springt diese Entwicklung leider immer wieder zurück. Ich habe das Gefühl, dass immer dann, wenn es den Leuten in Deutschland zu gut geht, die Dinge wieder in diese bestimmte Ecke zurückschwappen.

Wer weiß schon, was diese Leute umtreibt. Vielleicht ist es Frustration oder das Gefühl fehlender Zugehörigkeit. Auf jeden Fall scheint ihnen die Menschlichkeit abhanden gekommen zu sein.

Peter:
Meiner Meinung nach machen diese Leute, um die es da geht, aber nur einen kleinen Prozentsatz der großen Masse aus. Leider ist es nur immer dieser laute und dumme Teil der Bevölkerung, den man dann im Fernsehen sieht und an dem man sich aufhängt. So wird ständig eine besonders hässliche Seite der Gesellschaft gezeigt, die latent immer vorhanden ist, aber nicht für die Mehrheit steht.
Wer weiß schon, was diese Leute umtreibt. Vielleicht ist es Frustration oder das Gefühl fehlender Zugehörigkeit. Auf jeden Fall scheint ihnen die Menschlichkeit abhanden gekommen zu sein: Sie sind nicht in der Lage, sich in einen anderen Menschen hineinversetzen zu können, dem es schlechter geht als ihnen selbst. Wahrscheinlich haben sie nie gelernt, eine gewisse Empathie zu entwickeln. Das tut mir einfach leid. Die Tatsache, dass sich solche Ereignisse immer wiederholen, zeigt mir, dass es Dinge gibt, die ganz tief in einigen Menschen schlummern und jahrelang nicht geweckt werden, bis sie irgendwann ausbrechen.
Lustigerweise handelt es sich dabei immer um genau die Leute, die sich sonst nie um andere kümmern. Wenn aber plötzlich Menschen ins Land kommen, die wirklich Hilfe brauchen, schreien sie auf einmal: „Und was ist mit unseren Obdachlosen? Sollen wir uns nicht zuerst um die kümmern?“ Dabei hätten sie sich doch all die Jahre davor um die Obdachlosen hier kümmern können, warum fällt ihnen das gerade jetzt ein? Es wird ja niemandem etwas weggenommen. Wenn ich so etwas sehe und höre, ist mir das sehr peinlich. Und ich schäme mich dafür, dass Leute, die hier herkommen, diese hässliche Seite unserer Gesellschaft erleben müssen.

Jonas:
Ihr habt für euch in den letzten 20 Jahren einen ganz persönlichen Weg gefunden, auf diese und andere Missstände aufmerksam zu machen und dagegen zu protestieren. Ihr engagiert euch aktiv in etlichen sozialen Projekten und gebt Benefizkonzerte wie beispielsweise jetzt im September in Dresden, wodurch ihr Organisationen wie „Dresden für alle“ oder „Sächsischer Flüchtlingsrat“ unter die Arme greift. Sollte dieses Engagement eine Pflicht für jeden sein, der in der Öffentlichkeit steht? Oder sollte es generell die Pflicht eines jeden Menschen, eines jeden Bürgers sein?

Arnim:
Wir tun einfach das, was wir tun können. Genauso wie ein Bäcker 50 Brötchen backen und an Flüchtlinge spenden kann, können wir Musik machen, Benefizkonzerte spielen und Geld sammeln. Wenn jeder tut, was er kann, dann passiert eine ganze Menge.

Peter:
Noch in unserer Anfangszeit wollten wir nie eine politische Band sein – was auch immer das heißt. Wir wollten uns einfach aus allem heraushalten und nicht die Speerspitze für die Argumentation von irgendwem für irgendetwas sein. So war diese Band für uns selbst auch immer ein Abschalter und Ausschalter von Problemen jeglicher Art.
Irgendwann reicht das aber nicht mehr, man merkt: Das ist zu wenig. Früher dachte ich immer: Wen interessiert denn meine persönliche Meinung? Heute ist mir bewusst, dass ich die Möglichkeit habe, jemand anderen zum Nachdenken anzustoßen. Der- oder diejenige muss ja nicht zwangsläufig meiner oder unserer Meinung sein. Aber ich kann wenigstens versuchen, etwas in der Person auszulösen.

Arnim:
Natürlich beschäftigt mich auch privat das politische Leben auf der Welt – wie hoffentlich jeden anderen auch. Aber wenn ich weiß, dass es Leute gibt, die mich beobachten und sich ein Beispiel an mir nehmen, kann ich ja immer wieder das Buch aufschlagen und sagen: Schaut doch mal genau hin!
Wenn man in der Öffentlichkeit steht, muss man sich halt finden und entscheiden, wie man sich positioniert. Aber irgendwann ist auch mal gut mit Nachdenken. Dann geht es im Grunde genommen um nichts anderes, als einfach die 50 Brötchen zu spenden oder das Benefizkonzert zu spielen. Punkt.

Jonas:
Auf dem Cover eures neuen Albums ist ein kleiner Junge zu sehen, der die Arme die Luft streckt und beide Fäuste ballt, als sei er in einem Boxkampf. Er wirkt wie ein kleiner mutiger Rebell, der auf eine freche, aber sympathische Art und Weise aufsteht, um sich zu wehren. Wie kam es zu dem Foto?

Arnim:
Wir hatten den großen Wunsch, nicht selbst auf dem Cover abgebildet zu sein. Durch Zufall sind wir auf das Bild eines New Yorker Fotografen gestoßen, das einen kleinen Jungen zeigt, der mit einer selbst gebastelten Gitarre vor der Kamera post. Wir fanden die Aussage des Fotos irgendwie cool und haben es einer befreundeten Fotografin gezeigt. Sie sagte sofort: „Mir fällt da einer ein, das ist genau euer Mann. Er heißt Vito und ist mit meiner Tochter in derselben Kita.“ Und so kam es zu dem Cover.

Jonas:
Dieses Foto schafft es, die insgesamt 20 Jahre Beatsteaks mit einer einzigen Pose zusammenzufassen und auf den Punkt zu bringen.

Jeder Mensch kommt ja immer wieder mal in eine Situation, in der ihm der Mut fehlt. Das ist bei mir nicht anders.

Arnim:
Stimmt, exakt darum ging es uns auch. Wir wollten genau so ein Gesicht finden – und Vito war einfach perfekt. Als ich den kleinen Mann am Tag des Shootings kennengelernt habe, wusste ich in der ersten Sekunde: Alles klar, dieser Typ macht das. Der ist wirklich cool.

Jonas:
Seid ihr der Meinung, dass mehr Menschen auf der Welt ein wenig von diesem kleinen Jungen in sich tragen sollten?

Arnim:
Hmm, ich weiß es nicht. Jeder Mensch kommt ja immer wieder mal in eine Situation, in der ihm der Mut fehlt. Das ist bei mir nicht anders. Aber wenn ich oder die Menschen, die ich liebe, mal wieder in solch eine Lage kommen sollten, wäre es schön zu wissen, dass plötzlich jemand neben uns stünde, der so ist wie dieser kleine Junge.