Jakob M. Erwa
Interview — Jakob M. Erwa
Von Opulenz und Intimität
Sechs Jahre musste Filmemacher Jakob M. Erwa warten, dann durfte er endlich den Roman »Die Mitte der Welt« verfilmen. Wie er die Premiere in Russland erlebte, was sein nächstes Projekt mit Ausländerfeindlichkeit zu tun hat und warum großes Kino gleichzeitig opulent und nahbar sein muss, verrät er uns im Interview.
19. September 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke
Als am 20. August 2017 die Kunden wie gewohnt ihren Edeka-Supermarkt in der Hamburger Hafencity betraten, waren sie mehr als irritiert. Sämtliche Regale, Frischetheken und Kühltruhen waren bis auf wenige Produkte leergeräumt, es herrschte gähnende Leere. Wer sich aus seiner Konsumenten-Schockstarre lösen konnte und näher an die Regale herantrat, entdeckte überall kleine bunte Aufsteller mit Hinweisen wie „Dieses Regal zeigt: Wir wären ärmer ohne Vielfalt.“ oder „So leer ist ein Regal ohne Ausländer.“ Ausgedacht und initiiert wurde die Aktion von einer großen Werbeagentur, die für einen Tag im Auftrag von Edeka alle ausländischen Produkte aus dem Supermarkt entfernen ließ. Ein kreatives Statement für mehr Vielfalt, Offenheit und Toleranz.
Jemand, der sich dem Thema Vielfalt in ähnlich kreativer, aber künstlerischer Art und Weise verschrieben hat, ist der Regisseur Jakob M. Erwa. Im Herbst letzten Jahres brachte der gebürtige Grazer seinen Film „Die Mitte der Welt“ in die Kinos, der auf dem gleichnamigen Roman von Andreas Steinhöfel aus dem Jahr 1998 basiert. Erzählt wird eine Liebesgeschichte zwischen zwei Teenagern in einer deutschen Kleinstadt. Die beiden heißen Phil und Nicholas, im Film gespielt von Louis Hofmann und Jannik Schümann.
Nach der Premiere in Köln ist Jakob ein Jahr lang um die Welt gereist, um seinen Film vorzustellen – in den unterschiedlichsten Ländern, vor den unterschiedlichsten Zuschauern. Um dem 36-jährigen Filmemacher, der heute in Berlin lebt, nach diesen Strapazen so etwas wie ein Urlaubsgefühl zu geben, haben wir ihn für einen Nachmittag in die Tropenwelt der Biosphäre Potsdam eingeladen. Auszug aus dem Pressetext: „Die Dschungellandschaft der Biosphäre mit über 20.000 prächtigen Tropenpflanzen und rund 130 verschiedenen Tierarten sowie einem stündlichen Gewitter mit Blitz und Donner versetzt die Besucher in eine ferne Welt.“ Vielfalt kann so schön sein – fanden wir auch irgendwie spannender als leere Regale.
Jonas:
Du bist in den letzten Monaten Tausende von Kilometern um die Welt gereist, um deinen Film „Die Mitte der Welt“ zu promoten. Wie geht es dir nach dieser Zeit?
Jakob:
Mir geht es gut – wieder gut. Wieder sage ich deshalb, weil sich erstens die Sonne nach langer Zeit wieder blicken lässt und es endlich Sommer ist. Und zweitens, weil ich nach dem Kinostart von „Die Mitte der Welt“ so ausgepowert war, dass ich in eine klassiche Herbst-Winter-Depression geschlittert bin. Am 10. November 2016, als der Film in den Deutschen und Österreichischen Kinos anlief, ist ein riesiges Bündel an Hoffnungen und Belastungen von mir abgefallen. Mit einem Moment war ich total kaputt. Zwar haben mich die vielen interessanten Reisen und das überaus positive Feedback der letzten Monate wieder etwas aufgebaut, aber jetzt muss ich endlich mal das Tempo reduzieren und Luft holen. Der Großteil der Arbeit ist vorbei, ich befinde mich bereits im Abnabelungsprozess. Für mich geht es jetzt darum, die Fenster aufzureißen und frischen Wind in die Bude zu lassen. Auf zu neuen Ufern!
Jonas:
Mit welcher Bilanz kannst du dieses Projekt für dich abschließen?
Jakob:
Mit „Die Mitte der Welt“ konnte ich einen Film machen, der mir extrem nah ist – nicht nur, weil ich so viel Zeit in dieses Projekt investiert habe: Acht Jahre habe ich auf die Rechte gewartet, sechs weitere Jahre habe ich an dem Film gearbeitet und fast ein ganzes Jahr lang bin ich damit um die Welt gereist. Sondern auch, weil er mir inahltlich so wichtig ist.
Für mich ist die „Die Mitte der Welt“ deshalb ein so besonderes Projekt, weil ich nicht gezwungen war, damit ein ganz bestimmtes Publikum bedienen zu müssen. Ich werde nicht müde es zu betonen: Dieser Film ist kein Schwulenfilm! Es ist vielmehr ein Film, der dazu einlädt, über das Leben nachzudenken – mit all seinen Facetten und Varianten, mit all seinen Familienkonstellationen und Freundschaften, in all seiner Vielfalt, mit all seiner Liebe.
Jonas:
Würdest du sagen, dass aus diesem Grund „Die Mitte der Welt“ nichts anderes ist als ein Abbild unserer heutigen Gesellschaft? Oder verstehst du den Film eher als einen gesellschaftlichen Auftrag?
Ein Abbild der Gesellschaft kann der Film nicht sein, weil unsere Gesellschaft einfach noch nicht so weit ist.
Jakob:
Weder noch. Ein gesellschaftlicher Auftrag an die Gesellschaft wäre mir viel zu pädagogisch. Und ein Abbild der Gesellschaft kann der Film nicht sein, weil unsere Gesellschaft einfach noch nicht so weit ist.
Man kann ohnehin nicht von „die Gesellschaft“ sprechen, denn das würde voraussetzen, dass unsere Gesellschaft eine homogene ist. Aber das ist sie nicht. So ist der Film – auch wenn er in der Provinz spielt – sicherlich kein adäquates Abbild für das Leben auf dem Dorf. Bezogen auf das erzählte Lebensgefühl und die Einstellung der Charaktere orientiert er sich wahrscheinlich eher an der gesellschaftlichen Vielfalt einer liberalen Großstadt wie beispielsweise Berlin.
Ich würde den Film vielmehr als einen Wunsch beschreiben. Oder besser gesagt als einen Wunschtraum. Filme sind ja generell zum Träumen da. Und wie jeder weiß: Manche Träume können einfach so wahr werden und an anderen muss man hart arbeiten, damit sie in Erfüllung gehen.
Dementsprechend ist in „Die Mitte der Welt“ nicht alles perfekt: Die Art und Weise, wie Glass die Kinder erzieht – das hat viel Gutes, aber auch viel Schlechtes. Und so wie Phil und Kat miteinander umgehen, das hat viel Schönes, aber auch viele Schwierigkeiten. So sind Menschen nun einmal. So sind Beziehungen. Das ist völlig normal. Für mich war es wichtig, dass der Film Höhen und Tiefen hat. Darauf lege ich nicht nur bei Filmen Wert, die ich sehen will, sondern auch bei Filmen, die ich machen will.
Jonas:
Du hast „Die Mitte der Welt“ auf bislang über 60 Filmfestivals weltweit vorgestellt. Hast du regionale Unterschiede bemerkt, was die Reaktionen deines Publikums angeht? Wie gehen beispielsweise Zuschauer in Mexiko mit dem Film um im Vergleich zu Japan oder Russland?
Ich wurde so erzogen, dass ich frei wählen kann, wen und wie ich liebe, und dass ich mit genügend Toleranz durch die Welt gehen muss, um zu erkennen, was im Leben alles möglich ist.
Jakob:
Was das Beispiel Mexiko angeht, habe ich nicht wirklich Unterschiede zu Deutschland feststellen können. Dafür war die Premiere in Moskau eine ziemlich große Nummer. Man muss wissen, dass es Filme mit queerer Thematik im Allgemeinen in Russland ziemlich schwer haben. Dementsprechend bin ich auch mit einem etwas mulmigen Gefühl nach Moskau gefahren. Umso überraschter war ich, dass sich die Leute dort wesentlich offener geben, als ich mir das vorher so vorgestellt habe. Denn das, was wir vor Ort bei den Vorstellungen erlebt haben, war total schön und wirklich positiv.
Die anschließende Pressekonferenz war ebenfalls sehr ermutigend. Natürlich begegnen einem dort Fragen wie „Was ist eigentlich in deiner Erziehung passiert, dass du so einen Film machst?“ Da hat es mir erstmal die Sprache verschlagen. Ich wusste in diesem Moment nicht, ob ich die Frage ernst nehmen und sachlich bleiben soll oder es besser wäre, auf Konfrontation umzuschalten. Als noch eine zweite Frage dieser Art nachgeschoben wurde, habe ich mich gegen die Konfrontation entschieden und bin überaus höflich geblieben. Ich habe dem betreffenden Reporter geantwortet, dass ich so erzogen wurde, dass ich frei wählen kann, wen und wie ich liebe, und dass ich mit genügend Toleranz durch die Welt gehen muss, um zu erkennen, was im Leben alles möglich ist. Für diese Antwort gab es von den anderen Journalisten spontanen Applaus. Das hat mir gezeigt, dass es auch ein anderes Klima geben kann in einem Land, in dem der Staat und die Kirche so viel Macht über die Gesellschaft haben. Das war mir persönlich eine wichtige Lehre.
Natürlich täuscht das nicht darüber hinweg, dass in diesem Land immer wieder schlimme Dinge passieren. In Moskau habe ich mich dann auch mit Vertreter*innen einer NGO getroffen, die sich für die Rechte von LGBTI-Menschen in Russland einsetzen, um mir ein Bild über die Situation des „normalen“ queeren Lebens in Russland zu verschaffen – was die so erzählt hat, war schon sehr erschreckend.
Jonas:
Findest du dich in Momenten wie bei der Pressekonferenz plötzlich in einer politischen Rolle wieder, die du ursprünglich für dich als Regisseur gar nicht angedacht hast?
Jakob:
Manchmal, das ist dann aber auch okay für mich. Ich hab ja auch ein sozialpolitisches Anliegen mit dem Film. Aber generell kommt „Die Mitte der Welt“ ja nicht so bierernst und überpolitisch daher. Das ist eher Gefühlskino als Politkino. Man kann ohnehin nicht alles wollen: Im selben Film die Selbstverständlichkeit einer schwulen Beziehung darstellen und gleichzeitig zeigen, dass queeres Leben grundsätzlich anders sein muss – das geht nicht. Das will ich auch nicht. Alles zu seiner Zeit.
Jonas:
Du spielst auf die selbstverständliche Liebesbeziehung zwischen den Charakteren Phil und Nicholas an. Hättest Du dir damals als Jugendlicher in Graz vorstellen können, mit der gleichen Selbstverständlichkeit so einen Film im Kino anzuschauen?
Jakob (zögert einen Moment):
Ich hatte das Glück, in einem sehr offenen Umfeld aufzuwachsen. Meine Eltern entstammen dem typischen Bildungsbürgertum, beide haben studiert, sind belesen, kunstinteressiert, politisch engagiert, aufgeschlossen und sehr kommunikativ. Für sie war Homosexualität etwas völlig Normales – ebenso wie für ihre Freunde, mit deren Kindern ich aufgewachsen bin und bei denen das demensprechend auch nie wirklich ein Thema war.
Hätte ich mir also vorstellen können, als Jugendlicher wie selbstverständlich in so einen Film zu gehen? Von der intellektuellen Grundausstattung auf jeden Fall. Ich überlege deshalb so lange, weil ich versucht habe, ein Beispiel aus der damaligen Zeit zu finden. Es will mir aber gerade keines einfallen.
Jonas:
Wenn du aus einer so kunstinteressierten Familie kommst, ist es ja nicht wirklich verwunderlich, dass du Filmemacher geworden bist.
Etwa ein Jahr vor dem Abi habe ich angefangen, mir große Sorgen um meine Zukunft zu machen.
Jakob (lacht):
Dieser Beruf wurde mir tatsächlich in die Wiege gelegt. Meine Mutter hat als Kulturkritikerin für eine Zeitung und einen Radiosender gearbeitet. Bereits 1981 hat sie mich zur Berlinale mitgenommen – ich war gerade minus fünf Monate alt und sie mit mir im vierten Monat schwanger.
Aber Spaß beiseite: Dass es irgendetwas mit Kunst werden würde in meinem Leben, das war mir schon sehr, sehr früh klar. Mit 14 habe ich an der HTL für Kunst und Design angefangen – eine Art berufsbildende höhere Schule mit Ausbildungschwerpunkten in diversen Kreativbereichen. Dort habe ich insgesamt fünf Jahre verbracht und mich tagtäglich mit Bildhauerei, Malerei, Design, Kunstgeschichte et cetera auseinander gesetzt.
Neben der Schule habe ich Musik gemacht – seit ich zwölf war, habe ich immer in diversen Bands gespielt. Das war total meine Welt. Und mein großer Traum war es, Rockstar zu werden. Aber Rockstar werden kann man leider nicht einfach so lernen oder studieren, da spielt neben Talent auch der Zufall eine große Rolle.
Und so habe ich etwa ein Jahr vor dem Abi – in Österreich sagt man Matura – angefangen, mir große Sorgen um meine Zukunft zu machen, und habe mich gefragt, ob Musik wirklich das Einzige sein soll in meinem Leben.
Meine Mutter war es dann, die den Begriff Film in den Raum geworfen hat. Einfach so. Film war für mich bis dahin nichts anderes als schöne Unterhaltung und irgendwie unbeschreiblich groß – im Sinne von unzerlegbar.
Aber plötzlich ist da etwas in meinem Kopf umhergeschwirrt. Also bin ich brav zu einer Berufsberatungsstelle für Jugendliche gestapft und habe mich informiert, was man im Filmbereich beruflich machen kann. Vor Ort habe ich mir zwei Seiten aus einem Ratgeber kopiert – die eine handelte von Kamera, die andere von Regie. Vor allem die Beschreibung zum Punkt Regie war sehr nah an dem, was ich mir vorstellen konnte: die Verbindung unterschiedlichster Kunstformen.
In den folgenden Tagen und Wochen habe ich mir diverse Bücher besorgt, die erklären, wie sich zum Beispiel Drehbücher aufbauen und wie man sie zerlegen kann. Dieses Zerlegen ist übrigens auch heute noch ein Prinzip, nach dem ich arbeite: Man muss eine Geschichte zuerst in ihre Einzelteile stückeln, um zu verstehen, wie sie aufgebaut ist. Dann setzt man diese Einzelteile wieder zusammensetzen – und versucht, sie besser oder spannender zu arrangieren.
Jonas:
Und so wurde der große Traum vom Leben eines Rockstars abgelöst durch den Wunsch, irgendwann einmal als Filmemacher zu arbeiten?
Jakob:
Lustigerweise ging es damals musikalisch gerade so richtig bergauf. Ich hatte mit meiner Band zwei Demos an diverse Verlage geschickt, die zu unserem Erstaunen überall gut ankamen. Allerdings hat sich auch hier wieder meine Mutter zu Wort gemeldet. Sie sagte: „Mach’ das mit der Musik ruhig weiter. Aber an deiner Stelle würde ich mich sicherheitshalber mal an einer Filmhochschule bewerben.“
Diesen Rat habe ich befolgt und mich an die Bewerbungen für die Wiener Filmakademie und die Münchener HFF – die Hochschule für Fernsehen und Film – gesetzt. Ursprünglich wollte ich ja nach Berlin, das war die Stadt, die mich am meisten interessiert hat. Aber mit gerade mal 18 Jahren war ich noch zu jung für die Aufnahmebestimmungen der dortigen Deutschen Film- und Fernsehakademie.
Jonas:
Die Münchener HFF, an der du schließlich gelandet bist und insgesamt fünf Jahre studiert hast, ist ja auch nicht von schlechten Eltern – sie gehört zu den renommiertesten Filmhochschulen in Europa.
Jakob:
Stimmt. Und im Vergleich zu Wien war München zumindest einen kleinen Schritt näher an Berlin.
Jonas:
Du hättest dich ja ein Jahr später wieder in Berlin bewerben können.
Jakob:
Nein! Diesen Wahnsinn des mehrstufigen Bewerbungsprozesses an einer Filmhochschule macht man kein zweites Mal mit, glaub’ mir. Dafür war ich dann doch zu faul. Und das Umfeld in München war letztendlich auch wirklich fein.
Jonas:
Im Jahr 2003 – noch mitten im Studium – hast du zusammen mit der Schauspielerin Rachel Honegger die Produktionsfirma mojo:pictures gegründet. Konntest du es nicht abwarten, deine eigenen Filme zu produzieren?
Neben dem Künstlerischen liegt mir auch sehr viel daran, die ganze Welt darum herum zu erschaffen.
Jakob:
Die Geschichte fängt eigentlich viel früher an. Bereits zu Schulzeiten habe ich immer schon meine Bands gemanagt und dabei die Kohle aufgetrieben für Demoaufnahmen, CD-Produktionen, Poster und all das. Ich glaube, neben dem Künstlerischen liegt mir auch sehr viel daran, die ganze Welt darum herum zu erschaffen. Und die erschafft sich nicht ohne finanzielle Unterstützung. So hat es sich damals schon aus der Notwendigkeit heraus ergeben, dass ich mich immer auch mit dem organisatorischen Teil beschäftige.
Auslöser für die Gründung der Produktionsfirma im Jahr 2003 war die Bitte eines gemeinsamen Freundes an Rachel und mich, dessen Abschlussfilm zu produzieren. Von Seiten der HFF hieß es damals, dass wir als Produzenten das Projekt unter einem bestimmten Namen einreichen müssten – und so haben wir uns spontan für „mojo“ entschieden.
Das alles wollten wir zuerst gar nicht so ernst nehmen. Dennoch ist die Produktionsfirma letztendlich aus dem Gedanken heraus entstanden, eigene Projekte auch unter einem eigenen Label weiterentwickeln zu können. Und so habe ich mit „Mojo“ an der Filmhochschule erst meine eigenen Kurzfilme produziert und etwas später – im Jahr 2007 – ging es an den ersten Spielfilm: meinen Abschlussfilm „Heile Welt“.
Jonas:
Dieser Film wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem „Großen Diagonale-Preis“ für den besten österreichischen Spielfilm 2006/07 und den „German Independence Award“ auf dem Filmfest Oldenburg für den besten deutschen Film.
Ich wollte allen beweisen, dass ich groß und amtlich arbeiten kann.
Jakob:
Dabei ist „Heile Welt“ aus purem Zufall entstanden. Der Film war eigentlich als ein Kurzfilm konzipiert, mit dem ich eine Inszenierungsübung machen wollte. Dem Ganzen vorausgegangen war die Produktion eines anderen Kurzfilms mit dem Titel „Wie Schnee hinter Glas“ im Jahr 2005. Diese Produktion hat mich wahnsinnig viel Kraft gekostet. Ich wollte den Film so richtig groß machen, mit teurem Filmmaterial, mit großem Team – ich wollte allen beweisen, dass ich groß und amtlich arbeiten kann. Dementsprechend war nicht nur die Produktionsarbeit so richtig aufwändig, sondern auch die Bemühung um die Finanzierung.
Der ganze Prozess war so schwierig und hat so lange gedauert hat, dass ich danach absolut keinen Bock mehr hatte und mir dachte: Das muss auch anderes gehen. Nicht nur, weil eine so große Produktion viel zu viel Kraft und Geld schluckt, sondern weil dabei auch die ganze Spontaneität und Flexibilität verloren geht.
Daher habe ich mir vorgenommen, bei meinem nächsten Projekt etwas sehr Schnelles zu machen, bei dem es nur darum geht, nah an den Schauspieler*innen zu sein und die Energie am Set einzufangen – egal ob es technisch geil ist oder nicht. Und so war der Kurzfilm „Heile Welt“ in einer Nacht geschrieben und innerhalb weniger Tage abgedreht. Das Ergebnis war ein 30-minütiger Kurzfilm, zu dem es sehr viel positives Feedback gab.
Als mir die Frage gestellt wurde, was ich nun als nächstes machen würde, dachte ich mir: Ich habe allein während der Proben so viel schönes Material gesammelt und so viel spannendes Wissen über alle Charaktere angehäuft, von denen einige im finalen Film leider kaum zu sehen sind. Eigentlich müsste ich diesen Film ausbauen, statt ein neues Projekt zu starten.
Und zack, war die Finanzierung da! Zack, haben wir gedreht! Zack, kam der Österreichische Filmpreis! Das ging wie im Zeitraffer – und war Ursache für diverse Film- und Fernsehanfragen, die ich in der Folge erhalten habe.
Jonas:
In „Heile Welt“ hast du fast ausschließlich mit jungen Darstellern gearbeitet, die keine oder nur wenig Schauspielerfahrung hatten – für die drei jugendlichen Hauptrollen war der Dreh die erste professionelle Filmerfahrung. Das erinnert mich an die sehr erfolgreiche skandinavische Serie Skam, bei der die Regisseurin ebenfalls bewusst auf unerfahrene junge Darsteller zurückgreift. Ist diese Herangehensweise ein Erfolgsrezept für die Zukunft? Zumal sich die Feuillettons auch regelmäßig darüber beklagen, dass man in Kino und TV immer wieder dieselben Gesichter sieht.
Jakob:
Dass es sich dabei um ein generelles Erfolgsrezept handelt, glaube ich nicht. Aber mutig ist es in jedem Fall. Und manchmal wird Mut belohnt, manchmal nicht.
Was das Thema mit den immer wiederkehrenden Gesichtern angeht, muss man einen Schritt zurückgehen und sich fragen, was die Ursache dafür ist. Meiner Meinung nach liegt das einzig und allein am Publikum. Beispiel „Fack ju Göthe“ mit Elyas M’Barek in der Hauptrolle: Warum läuft dieser Film so gut in den Kinos? Weil das Publikum einfach auch gern bekannte, ihnen vertraute Gesichter sehen will. Aber das ist ja zum Glück nicht in allen Filmen so.
Jonas:
Welchen Einfluss hat dieses Zuschauerverhalten auf deine Arbeit als Regisseur und Produzent?
Wenn man die Rolle nicht mit einem Schauspieler besetzen kann, den der Verleih sexy findet, dann stirbt das ganze Projekt.
Jakob:
Es macht meine Arbeit schwieriger. Ein Projekt, an dem ich in jüngerer Zeit gearbeitet habe, wurde beispielsweise alleine deshalb nicht realisiert, weil wir keinen „bankable“ Schauspiel-Star für die Hauptrolle gefunden haben. Alle, die das Drehbuch kannten und in das Projekt involviert waren, haben gesagt: „Ach, was für eine tolle Story, die gefällt uns wahnsinnig gut! Aber wer in Deutschland soll das nur spielen?“
Der ganze Film war von dieser einen Figur abhängig. Aber wenn man die Rolle nicht mit einem Schauspieler besetzen kann, den der Verleih sexy findet, dann stirbt das ganze Projekt.
Jonas:
Man will sich gar nicht ausmalen, wie viele gute Ideen und Drehbücher wieder zurück in die Schubladen gewandert sind, nur weil sich aus marktwirtschaftlichen Gründen keine passende Besetzung gefunden hat.
Jakob:
Tja.
Jonas:
Für den ORF hast du von 2007 bis 2009 die Jugend-Fernsehserie „tschuschen:power“ konzipiert und realisiert, eine fünfteilige Miniserie über Migranten der zweiten und dritten Generation in Wien. Haben für dich Filmprojekte, die sich mit aktuellen gesellschaftlichen Themen auseinandersetzen, einen besonderen Reiz?
Jakob:
Mich interessieren solche Themen sehr. Und es ist mir wichtig, den sogenannten Randgruppen der Gesellschaft eine Stimme zu geben. Das schaffe ich nur, indem ich solche Gruppen ins erzählerische Zentrum setze und – ganz wichtig – dafür auch die passenden Bilder finde. Ich glaube, dieser Anspruch kommt daher, dass ich mich selbst auch irgendwie als Teil einer Randgruppe sehe, die – wenn sie einmal eine Stimme hat – viel bewirken kann.
Jonas:
Hättest du dir beim Sendestart von „tschuschen:power“ im Jahr 2007 ausmalen können, dass die Themen Migration und Integration, die in der Serie behandelt werden, zehn Jahre später aktueller denn je sind – in Österreich, in Deutschland, in ganz Europa?
Jakob:
Nein, jedenfalls nicht in diesem bedrückenden Ausmaß, das wir gerade erleben.
Jonas:
Welchen Einfluss hat diese Entwicklung auf deine Arbeit als Filmemacher? Fühlst du dich getrieben, dieses Thema wieder aufzugreifen?
Ich definiere mich als einen politisch denkenden und fühlenden Menschen. Und ich habe ein sehr ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden.
Jakob:
Getrieben nicht, eher getriggerd. Ich bin natürlich kein Politiker, sonst wäre ich wohl auch in die Politik gegangen. Aber ich definiere mich als einen politisch denkenden und fühlenden Menschen. Und ich habe ein sehr ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Daher interessieren mich diese Themen grundsätzlich. Für mich als Regisseur ist es daher nach wie vor spannend, derartige Themen zu erzählen und sie in Bilder zu fassen.
Außerdem kann man den privaten Jakob nicht von dem beruflichen abkoppeln. Wenn ich für etwas brenne, berührt dieses Gefühl weder ausschließlich meine private noch meine berufliche Seite. Das kann doch eh kein Mensch – es sei denn, man ist einer dieser Regisseure, die der Reihe nach alle Aufträge entgegennehmen und abarbeiten, ohne sie zu hinterfragen. Ich selbst bin dafür jedenfalls zu idealistisch, als dass ich das jemals könnte oder wollte.
Jonas:
Du sprichst davon, dass es als Regisseur dein Anspruch ist, für ein Thema geeignete Bilder zu finden. Wie geht man mit diesem Anspruch bei der Verfilmung eines Romans wie beispielsweise „Die Mitte der Welt“ um? Jeder, der das Buch seit der Veröffentlichung vor 20 Jahren gelesen hat, hat doch bereits in seinem Kopf ganz eigene Bilder zu der Geschichte gezeichnet – wie bei jedem Buch, in das man versinkt. Das wird bei Dir nicht anders gewesen sein, oder? Wie viele der Bilder, die du selbst beim ersten Lesen des Buchs vor Augen hattest, haben es letztendlich auch in den Film geschafft?
Jakob:
Das kann ich gar nicht mehr so genau sagen, dazu müsste ich das Buch noch einmal lesen. Ich vermute, dass es Stellen im Roman gibt, die sich mit den Filmbildern vermischen, und dass es wiederum Stellen gibt, die mittlerweile von den Bildern des Films überlagert werden.
Grundsätzlich ist bei einer Buchverfilmung immer so, dass man den Absprung schaffen muss. Wenn es darum geht, etwas aus der einen Kunstform in eine andere zu übersetzen, bleibt einem nichts anderes übrig, als seinen eigenen Weg zu finden. Das war bei „Die Mitte der Welt“ nicht anders. Darin waren sich übrigens nicht nur alle Projektbeteiligten einig, sondern auch der Autor Andreas Steinhöfel, der an dieser Stelle von seinem Werk wirklich loslassen konnte.
Natürlich besteht immer die Gefahr, dass man Leute enttäuschen wird, wenn man versucht, die Atmosphäre, den und die Charaktere eines Buches einzufangen und in einen Film zu übertragen. Das war mir von Anfang an klar. Wie du selbst sagst: Man findet Bilder für Szenen, die andere Menschen für sich vollkommen anders gezeichnet oder abgespeichert haben. Zum Glück haben sich bei „Die Mitte der Welt“ sehr viele Leser*innen auf den Film eingelassen.
Jonas:
Der Film bedient sich nicht nur einer eigenständigen Bildsprache, sondern wird auch mit speziellen visuellen Effekte aufgeladen, die das Buch gar nicht liefern kann. So friert zum Beispiel an einer Stelle kurz das Bild ein und wird rot gefärbt. Und am Anfang des Films arbeitest du mit einer Art Collage, bei der du Fotos von „normalen“ Familien hintereinander geschnitten hast. Helfen solche Elemente, das filmische Werk individueller zu machen und stärker vom Buch abzuheben?
Ich wollte stille Intimität im Wechsel mit lauten, übertriebenen »larger than life«-Momenten, für die man so gerne ins Kino geht.
Jakob:
Von Anfang an war es mein Wunsch, keinen homogenen Stil zu verfolgen – der Film sollte so divers sein wie die Gesellschaft, die Menschen, die Charaktere. Dabei war es mir wichtig, einen Gegensatz herzustellen zwischen der nahbaren, begleitenden und authentischen Erzählweise einerseits und der visuellen Opulenz des Kinos andererseits. Ich wollte stille Intimität im Wechsel mit lauten, übertriebenen „larger than life“-Momenten, für die man so gerne ins Kino geht und für die man eine fette Leinwand braucht. Die von dir beschriebenen Effekte haben mir geholfen, diese großen Momente zu unterstreichen.
Die Collage am Anfang des Films mag ich übrigens besonders gerne. Diese Verspieltheit zeigt aufs Neue, dass Film nicht nur ein dokumentarisches Medium ist, sondern auch ein künstlerisches und unerwartetes. Außerdem hat mir dieser Kunstgriff geholfen, 50 Seiten familiäre Vorgeschichte aus dem Roman in wenigen Minuten Film zu erzählen.
Jonas:
Für diejenigen, die sich auf Instagram, Snapchat & Co. herumtreiben, dürfte dieser Effekt nichts wirklich Neues sein – er entspricht ihren Sehgwohnheiten.
Jakob:
Ganz genau. Nur dass Film im Allgemeinen den Anspruch hat, auch erzählerisch das Maximum rauszuholen – aus der klugen Kombination von Script, Sprache, Bildwelt, Ton, Effekten und Charakteren.
Jonas:
Blicken wir in die Zukunft. „Die Mitte der Welt“ liegt hinter dir, es sind also wieder Kapazitäten frei. Was ist dein nächstes Projekt?
Jakob:
Ich arbeite gerne an diversen Filmprojekten gleichzeitig. Es ist einfach sicherer, auf mehrere Pferde zu setzen – wir haben ja eben schon darüber gesprochen, wie schnell ein Film vor dem Aus stehen kann, wenn sich beispielsweise kein Hauptdarsteller findet.
Zur Zeit arbeite ich unter anderem an einer Serie, die sich mit der Frage auseinandersetzt, wie sich unsere Beziehungen künftig verändern. Dieses Projekt geht zurück auf meine Dankesrede Mitte Januar beim Bayerischen Filmpreis, als ich für „Die Mitte der Welt“ ausgezeichnet wurde. Die Rede endete mit dem Satz: „Dieser Preis ist für alle, die anders leben und anders lieben.“ Nach der Veranstaltung kamen Produzenten auf mich zu, die mir sagten, dass dieses Thema – anders zu leben und anders zu lieben – ihrer Meinung nach gerade mehr als aktuell sei und förmlich in der Luft liege. Und so kam eins zum anderen.
Unsere Generation der Millenials ist ja eine, die ganz und gar in Projekten denkt und lebt. Die Beziehungen, die wir führen, sind davon nicht ausgeschlossen. Unsere Beziehungen müssen heute wahnsinnig viel können – so viel wie früher ganze Freundeskreise geleistet haben. Auf der einen Seite müssen sie Sicherheit und Vertrautheit bieten, auf der anderen Seite müssen sie permanent aufregend und spannend sein. Die Sehnsucht nach dem Unerwarteten und nach Freiheit steht gleichbedeutend neben dem Wunsch, sich bei jemandem zuhause zu fühlen. Wir sind die erste Generation, die das alles in eine einzige Beziehung packen will.
Bei der Entwicklung der Serie stelle ich mir daher folgende Fragen: Was müssen Beziehungen heute können? Welche Bedeutung haben Lust, Liebe und Körperlichkeit? Was versteht man überhaupt unter einer modernen Beziehung? Entspricht die Idee der Monogamie noch der Lebensrealität? Oder werden wir in Zukunft viele verschiedene Wegbegleiter haben – wie ein Planetensystem, das um uns kreist?
Jonas:
Du sagst, dass du immer auf mehrere Pferde setzt – welche anderen Projekte liegen gerade auf deinem Schreibtisch herum?
Jakob:
Ein weiteres Projekt, an dem ich gerade sitze, trägt den Titel „Valeska“ und basiert auf der Autobiografie mit „Blumen für ein Chamäleon“, die 2013 erschienen ist. Es ist die wahre Geschichte einer jungen Frau, die in den 80er Jahren hier in Deutschland eine Friseurausbildung macht und per Zufall von einem französischen Fotografen entdeckt wird. Wenig später wird sie von einer Modelagentur nach Paris eingeladen, unter Vertrag genommen und ist als Model binnen kürzester Zeit total gefragt. Sie hat allerdings ein großes Geheimnis, von dem niemand erfahren darf: Sie wurde als Junge geboren.
Jonas:
Wie bist du auf diese Story gestoßen?
Jakob:
Lustigerweise auch wieder per Zufall. Als das Buch erschienen ist, habe ich dazu in irgendeiner Zeitschrift eine kurze, aber total spannende Verlagsankündigung gelesen. Mit nur wenigen Zeilen hat es der Text geschafft, neben einem kleinen Augenzwinkern auch eine persönliche Tiefe zu transportieren, die mich sehr gefesselt hat. Und da ich das Thema Identität ohnehin spannend finde, habe ich mir das Buch besorgt und angefangen zu lesen. Schon nach der Hälfte habe ich dem Verlag geschrieben, dass ich gerne die Option zur Verfilmung erwerben würde, und bin dadurch auch relativ schnell mit der Autorin in Kontakt gekommen. Durch die vielen Gespräche mit ihr wurde die Story für mich nochmal eine Stufe spannender.
Mein Traum wäre es, mit einer Transgender-Schauspielerin zu arbeiten.
Jonas:
Wann ist Drehbeginn?
Jakob:
Ich befürchte, dass wir mit dem Dreh nicht vor 2019 starten können, unter anderem weil dieses Projekt ein größeres Investitionsvolumen braucht und die Produktionsbudgets der Sender für das kommende Jahr schon relativ ausgebucht sind. Ganz aktuell sitze ich an der dritten Drehbuchfassung, die dazu verdammt ist, richtig gut zu werden – mit dieser Fassung entscheidet sich, ob wir für den Film eine Förderung erhalten oder nicht.
Aber schon im nächsten Jahr starten wir ein großes Casting für den Film, auf das ich mich sehr freue. Mein Ziel ist es auch hier, möglichst authentische Darstellerinnen und Darsteller zu finden, mit denen ich die Geschichte glaubhaft und lebensnah erzählen kann. Mein Traum wäre es, mit einer Transgender-Schauspielerin zu arbeiten, die für diesen Film allein aus ihrer eigenen Persönlichkeit heraus viel Erfahrung mitbringen und so die Rolle sicherlich noch viel intensiver gestalten kann.
Jonas:
Lass mich raten – es gibt sicher noch ein drittes Pferd, auf das du setzt.
Jakob:
Stimmt. Ein weiteres, sehr spannendes Projekt ist ein Fernsehspiel, das auf dem Roman „Erwachsene reden. Marco hat was getan“ von Kirsten Boie basiert. In dem Buch, das 1994 erschienen ist, geht es um einen 15-jährigen Jungen, der einen Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim verübt hat. Dabei sind zwei Kinder ums Leben gekommen. Thematisch greift die Story damit die vielen traurigen Ereignisse Anfang der 90er Jahre auf, als es überall in Deutschland abscheuliche Angriffe auf Ausländer gab – wie etwa bei den tödlichen Brandanschlägen in Solingen und Mölln oder bei den Ausschreitungen und gewalttätigen Übergriffen in Rostock-Lichtenhagen. In der Verfilmung möchte ich den Bogen schlagen in die Gegenwart.
Jonas:
Schon wieder ein Thema, das nichts an gesellschaftlicher Aktualität eingebüßt hat.
Jakob:
Ja, leider. Als ich das Buch zum ersten Mal gelesen habe, war ich noch ein Jugendlicher. Und heute, über 20 Jahre später, ist das Thema immer noch – oder schon wieder – so aktuell, wie man es nie gehofft hatte.
Das Besondere an dem Buch ist, dass es nicht nur inhaltlich krass ist, sondern auch stilistisch sehr besonders. Die Geschichte wird aus den unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten erzählt, und das durchgehend in Interviewform. Alle Interviewten schildern dabei ihre Sicht auf den besagten Marco, der dabei selbst nie zu Wort kommt.
Für mich ist das Ganze auch deswegen so spannend, weil dem Leser durch diese Erzählweise drei Ebenen eröffnet werden: Er erfährt nicht nur etwas über die Tat und über den Täter, sondern auch über die interviewten Personen selbst, die sich von der Tat distanzieren. Im Verlauf des Buchs erfährt man zwischen den Zeilen, dass eigentlich alle Befragten eine gewisse Mitschuld an der Tragödie tragen. Auch wenn sie nicht unmittelbar an der Tat beteiligt waren, haben sich dennoch schuldig gemacht – durch Unterlassen, durch Überfordern, durch ihr in Worte gefasstes Gedankengut.
Man muss das Große klein machen, um es zu verstehen.
Jonas:
Wie gehst du an eine solche Geschichte heran?
Jakob:
Erstens voller Demut – wie bei jedem fremden Stoff. Und zweitens mit meinem bewährten Prinzip des Zerlegens. Man muss das Große klein machen, um es zu verstehen. Das ist wie im Leben: Wenn man diese komplexe, vielteilige Welt begreifen will, muss man sich mit ihren Einzelteilen befassen. Das ist auch etwas, was ich meinen Drehbuch-Workshops für Jugendliche versuche zu vermitteln.
Jonas:
Diese Workshops bietest du bereits seit 2011 an: Einmal im Jahr können dort ein knappes Dutzend 15- bis 18-Jährige ein paar Tage lang intensiv erfahren, wie man Filme macht. Was können die Jugendlichen von dir lernen?
Jakob:
Ich glaube, das Wichtigste, was man von mir lernen kann, ist Offenheit, Ehrlichkeit und Mut – Mut, um sagen zu können: „Das weiß ich nicht, bitte hilf mir dabei.“ Als ich vor sechs Jahren angefangen habe, diese Workshops anzubieten, war in mir selbst auch noch eine große Unsicherheit – ich dachte, ich sei noch viel zu unerfahren, um anderen etwas beizubringen zu können. Gegen diese Unsicherheit gibt es aber ein einfaches Rezept. Man muss den Jugendlichen auf Augenhöhe und als Partner begegnen. Daher mache ich ihnen gleich am ersten Tag klar: Ihr bekommt hier etwas von mir, aber ihr müsst mir dafür auch etwas geben – alleine schaffe ich es nicht.
Darüber hinaus gibt es noch etwas anderes, was ich ihnen sage: Alles, was ich euch hier beibringe, ist nicht die Wahrheit! Zumindest nicht die einzige, allgemein gültige. Ich vermittle in den Workshops lediglich meine eigene, individuelle Herangehensweise. Dieses Angebot muss jeder Jugendliche nehmen und zu seinem ganz persönlichen Modell umformen. Es geht darum, seinen eigenen Weg zu finden und ihn dann auch zu gehen.
Und was ich ganz besonders feiere, ist die Gewissheit, dass ich den Jugendlichen auch eine soziale Komponente mitgeben kann – in Form von Akzeptanz, Aufgeschlossenheit und Mut zur Vielfalt.
Jonas:
Und was kannst du selbst von den Jugendlichen lernen?
Jakob:
Ich bin jedes Jahr aufs Neue tief beeindruckt von der Unbefangenheit und dem Feuer, mit dem die Kids an die Sache herangehen. Wenn dieses Feuer einmal entzündet ist, sind sie nicht mehr zu bremsen. In diesen Momenten merke ich, wie sehr ich es liebe, selbst mit ganzem Herzen für etwas zu brennen und mich darin zu verlieren. Und jeden Tag besser zu werden in dem, was ich tue.
Alxndr London
Portrait — Alxndr London
A Soulful Messenger
Alxndr London is not just a true delight for jazz and funk connoisseurs,
which are pleased by a contemporary twist, the soul singer also raises
his voice as a political advocate for Black British culture.
19. September 2017 — MYP N° 21 »Ecstasy« — Text: Katharina Weiß, Photography: Roberto Brundo
Even though we love these world hugging artists, who are keen to share every bit of their day from morning shower to good night kiss – there is always a special atmosphere around the creatives, who choose to hold on to a little bit more mystery. Alxndr London, unsurprisingly based in the British capital, is one of these humans, spreading this exact kind of interpretative secret. His public social media is streamlined and efficient, his hallmark is a lamp-like hat, pulled down low over his face.
The listener immediately desires to fall into a suggestive sway!
When he speaks, a few silver teeth lurk behind a fuzzy smile. We almost forgive him for the very Hipster move of erasing almost all the vowels from his artist name…But just because his tracks give us shaky knees, especially the ones, that blend into a sexy mood: the listener immediately desires to fall into a suggestive sway!
By now the British singer’s name is a buzzword among disco-leaning funk and afro-punk enthusiasts.
Since he and his two co-musicians released their first song Cold Sun at the beginning of 2015, a small but excellent audience spread the word. By now the British singer’s name is a buzzword among disco-leaning funk and afro-punk enthusiasts. No wonder, that Berlins newest night club, Father Graham, booked Alxndr London for its opening party at the end of August. Alxndr London and his colleagues definitely do not fail to charm us, when we meet them the day after in Berlin-Schöneberg. Due to the unexpected date with our MYP photo team (just 24 hours before, we basically ran into Alxndr London in a café and asked him out), the musicians were short on clothes. With some help from the lovely Superconscious Store, we organised some jackets and fancy shades—probably to hide a fashionable hangover from their celebrated Father Graham show the day before.
The new night club’s long-expected opening party is good news for two reasons: On the on hand, the neglected Berlin-Mitte area around U Stadtmitte has a new venue, where explorative artists and soul lovers find a beautiful alternative to the usually rather raving city. On the other hand is the invitation of wildly creative musicians like Alxndr London, which are inspired by a non-white community and heritage, significant for the cultural (and political) advancement of the German capital. Whilst activists like Grada Kilomba represent the endeavours of the Afro-Germans (German self-designation: „Afrodeutsche“), using places like Maxim Gorki theatre for performances or lectures about decolonizing knowledge or existing power configurations, a more global approach to Black identities is too often limited to traditional academic spaces. We can not talk often enough about the enrichment of pop culture, which refuses to stay within West European and North American influences and boundaries.
»This was the free-spirited Afro-futurist utopia I had only seen in my dreams.«
Next to his sound, Alxndr London uses African heritage and Anime visuals (like his performance kimono, designed by Sabode Designs), to set unique aesthetic statements. But the London-born son of Nigerian migrants also speaks directly about the complexity of his Black British experience, for example in a comment he wrote for Clashmusic about the joy of joining Londons very first Afropunk Festival in 2016: „I was teleported to a land of melanin, surrounded by thousands of people who looked and spoke like me. It felt foreign; this was the free-spirited Afro-futurist utopia I had only seen in my dreams.“ He mentions, that even though Black people make up about 3% of the British population—over 95% of Black Britains live in England, one million in Great Britain alone—they still face irritating experiences of exclusion.
»Long gone are the days where Black men believe they can't wear pink because it’s gay.«
He is part of an urban scene, creatively fighting this ethnical alienation through an embracing and displaying of diversity: „Long gone are the days where Black men believe they can’t wear pink because it’s gay, or Black women can’t have too many opinions because she’ll come across as difficult and challenging. Afro-punk has no time for those colonial, Willy Lynch ideologies that seek to exploit every difference between human beings in order to control, divide and conquer.“ In a political period, where these dividing movements are fuelled by uninformed fears, we need an army of charismatic hitmakers like Alxndr London. So every time there is another sexist, racist or homophobic comment, we can tap on an uplifting song like Circus Of Mermaids and dream about thirsty mermaids with no hair…welcome to the circus in our head!
Sufi-Zentrum Rabbaniyya
Reportage — Sufi Zentrum Rabbaniyya
Tanz zu Gott
Anhänger des Sufismus leben ihren Islam auf mystische Art und Weise – zwischen ritueller Todessehnsucht und überschäumender Daseinsfreude. Sinnbildlich dafür ist der ekstatische Wirbeltanz. Das Berliner Zentrum Rabbaniyya in der »ufaFabrik« bietet einen Einblick in das Regelwerk der Sufi-Orden.
19. September 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Text: Katharina Weiß, Fotos: Roberto Brundo
Keine Strömung des Islam hat spirituell Sehnsüchtige aus Europa und Nordamerika bisher so fasziniert wie die mystische Tradition der Sufi-Gemeinden. Viele kamen, um durch die Wirbeltänze der Derwische oder die yogaartige Körpermediation in Ekstase zu verfallen. Einige blieben, um Perlentaucher zu werden, um wahre Herzverbindungen zu erfahren und um jene brennende Liebe zu empfinden, die laut Sufi-Lehre nur dem hingebungsvollen Diener widerfährt.
Für Gottsuchende mit einem Faible für atmosphärische Rituale bietet das Sufi-Zentrum Rabbaniyya am Bodensee und in Berlin einen bunten Veranstaltungskalender. Dieser soll auch scheuen Interessenten den Zugang zu unverbindlichen Informationsabenden ermöglichen. Das urbane Gesicht dieser Gruppierung des Naqschbandi-Ordens, der in seiner goldenen Linie bis zum Propheten Mohammed selbst zurückgeht, ist die Vorsitzende Feride Funda G.-Gençaslan. Meist trägt sie ein breites Lächeln im Gesicht, das manchmal in ein verbrüderndes Kichern driftet. Doch wenn die 38-Jährige auf ihrem erhöhten Sitzkissen in der Mitte des Gemeinschaftsraums sitzt und von den Lehren ihres Sheikhs erzählt, bleiben Mimik und Stimme ganz ruhig. Nur ihre großen, ausdrucksstarken Augen ziehen den Betrachter tief hinein in die Konversation. „Ich war immer schon sehr neugierig und habe wahnsinnig viel gelesen. Als junge Frau hatte ich viele Fragen – auch an meine Religion. Ich wusste zwar, ich bin Muslima, aber Vieles war mir nicht ganz schlüssig.“
Das änderte sich, als die in Berlin geborene und zweisprachig aufgewachsene Tochter türkischer Eltern Mitte der 90er den Großsheikh Nazım Kıbrısi kennenlernte: „Bei ihm hatte ich sofort das Gefühl, mein Herz und meine Vernunft können es nun annehmen und verstehen.“ Schon früh hatte sich der auf Nordzypern ansässige Geistliche als charismatischer Lehrmeister hervorgetan, seinen frühen Schülern imponierte vor allem sein kurzer Gefängnisaufenthalt: Nazım Kıbrısi hatte sich wiederholt gegen den türkischen Staat gestellt, der den Gebetsruf in arabischer Sprache verboten hatte. 1973, in der Hochphase der Hippies, wurde Nazım Kıbrısi der 40. Großsheikh in Naqshbandi-Tradition. Bis zu seinem Tod im Jahr 2014 gründete er viele Sufi-Zentren in Europa und lies seine Ansprachen unter anderem ins Deutsche übersetzen. Laut Schätzungen des muslimischen Online-Magazins IslamiQ leben in Deutschland über 5.000 Mitglieder des Sufi-Ordens, die ihre „Geheimen Sehnsüchte“ (so ein Buchtitel des Großsheikhs) durch Nazım Kıbrısi geweckt sahen.
Der Konvertit ist als Friedhofsgärtner tätig – bei der evangelischen Kirche.
Einer von ihnen ist Andreas Bukowski. Er stellt sich als Semazen, als tanzender Derwisch in den Dienst der Gemeinde. Das Pikante an seinem Lebenslauf: In Berlin geboren, wurde er als Kind polnischer Eltern traditionell römisch-katholisch erzogen. Sein Berufsweg führte ihn dann zur evangelischen Kirche. Dort ist der Konvertit als Friedhofsgärtner tätig. Täglich betritt er den Friedhof und wird sich durch jeden Grabstein bewusst, dass alles einmal sterben muss. Ein eigenartig passender Beruf für einen Semazen, da alles am berühmten Wirbeltanz der Sufis als Vergegenwärtigung des Todes interpretiert werden muss: Die doppelwandige Filzmütze, genannt Sikke, steht für den Grabstein. Das weiße, lange Gewand symbolisiert das Leichentuch, „weil der Drehende seine Existenz verlässt. Die Person Andreas sollte dann eigentlich gestorben sein, man ist nur noch ein Kanal für das Göttliche, für die wirkliche Liebe“, erklärt Bukowski. Der schwarze Mantel darüber steht für die Graberde, die dann im Tanz abgeworfen wird. Im Sufismus gibt es neben dem klassischen Gebet verschiedene Praktiken des Dhikr (dt. Gedenken an Gott). Das Drehen der Derwische sowie rituelle Meditationen und Gesänge bilden – oberflächlich gesehen – die Voraussetzung, in Ekstase zu geraten.
»Die Ekstase ist nicht das Ziel, denn wer sich komplett vergisst, kann nicht mehr dienen.«
Mit diesem Begriff tun sich die Sufis jedoch schwer: „Die Ekstase ist nicht das Ziel, denn wer sich komplett vergisst, kann nicht mehr dienen“, erklärt Feride Gençaslan, während Andreas Bukowski zu Vorführungszwecken mit den kreisenden Bewegungen beginnt. „Die Ekstase, wie sie im Westen verstanden wird, ist etwas grundlegend anderes, deshalb würde sie den Weg zu Gott erschweren. Der Semazen tritt nicht aus sich heraus, sondern kehrt tief in sich hinein, um Allah zu finden. Wir würden den Zustand, in den der Semazen verfällt, also eher als eine Situation beschreiben, in der er sich den Ablenkungen der Welt verschließen kann, um Gott näher zu kommen. Er dient als eine Art Kanal zwischen Allah und der Gemeinde.“ Die rechte Handfläche des Tanzenden zeigt nach oben, sie soll den Segen empfangen, während die linke Handfläche, die nach unten zeigt, eben diesen weitergeben soll. Absolute Entrückung ja, aber für ein höheres Ziel.
Was man verstehen muss: Anhänger des Naqschbandi-Ordens verstehen ihr Dasein als eine Art Mönchstum. Auch ohne Vertrag oder Zölibat treffen sie eine persönliche Entscheidung, unter höchsten spirituellen Anstrengungen nach dem Weg zu Allah zu suchen. Eine gewisse Motivation ist nötig, um sich diesem Weg zu stellen. Für Andreas Bukowski war der Auslöser eine spirituelle Erfahrung, die ihn grundlegend veränderte: „Ich habe einen Moment erlebt, in dem mir gezeigt wurde, wie jede Blume Licht ausstrahlt, wie jedes Geschöpf den Herrn lobpreist… alles strahlte Liebe aus.“ Ich frage ihn, ob dieses Gefühl mit der Erleuchtung vergleichbar ist, die die Buddhisten anstreben. „Ja, ein Augenblick, der kommt und gleich wieder geht. Es ist ein Geschmack, der immer bleibt, und die Sehnsucht, da wieder hinzukommen, ist sehr stark.“
Nach dieser, wie er es nennt, spirituellen Erfahrung las der 39-Jährige viele buddhistische und taoistische Bücher. Doch erst als er auf Sufi-Literatur stieß, die sich in ihrer methaphernreichen Sprache am Schatz alter Dichtertraditionen orientiert, empfand er: Die haben dasselbe erlebt. Er googelte „Sufi“ und „Berlin“ und fand das Zentrum Rabbaniyya. Er blieb. Eine romantische Herausforderung war es schließlich, die ihm den Weg zur Aufgabe des Semazen ebnete: „Ich hatte eine Prüfung mit einer Frau, mit der es nicht geklappt hat.“ Er betete viel und bat Allah, ihm das Sema zu öffnen, also den Weg zum vollendeten Dienen zu zeigen. Eine Woche später wurde ihm sein Gewand überreicht, und ein Glaubensbruder richtete aus: „Der Sheikh sagt, du bist bereit, und will, dass du dich von jetzt an drehst.“
Seit im Jahr 1925 – im Zuge von Kemal Atatürks strikter säkularen Staatsgründung – alle islamischen Orden in der Türkei verboten wurden, konnte das Drehen der Derwische in der Öffentlichkeit nur noch als Touristenattraktion praktiziert werden. Auch wenn eine nordamerikanische und europäische Rezeption des Wirbeltanzes deshalb limitiert blieb, hat sich doch die politische Lage in der Türkei stark verändert. Bis 2011 galten der umstrittene türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die in der Sufi-Mystik verwurzelte Gülen-Bewegung als Verbündete. Ihr Ziel: die Türkei erneut als islamische Weltmacht zu etablieren. Die einstigen Gefährten zerwarfen sich jedoch auf halber Strecke über die Frage nach der Machtverteilung in dieser neuen Ordnung. 2016 gipfelte der Konflikt in Erdoğans Vorwurf an Gülen, für den Putschversuch in der Türkei verantwortlich zu sein. Dies katapultierte die Gülen-Bewegung, die einigen Quellen zufolge ebenso wie das deutsche Zentrum Rabbaniyya in der Tradition der Naqshbandiyya wurzelt, ins Licht der internationalen Öffentlichkeit.
Diese direkte Verbindung dementiert Feride Gençaslan: „Die Gülen-Bewegung wurzelt nicht in der Tradition der Naqshbandiyya. Sie richtete sich anfänglich an der Nurcu-Strömung nach Said Nursi aus. Doch da die traditionellen Nursi-Anhänger Gülen mieden und ihn nicht als den Ihren akzeptierten, blieb der Gülen-Bewegung nur, sich in der Sufi-Sprache mit Sufi-Lexik zu präsentieren, aber keinem traditionellen Orden als zugehörig zu definieren.“
In Deutschland hat sich vor allem der im Libanon geborene Islamwissenschaftler Ralph Ghadban mit dem Zusammenhang zwischen den Sufi-Orden und den islampolitischen Ambitionen der Gülen-Bewegung beschäftigt. Aber ist diese nun liberal, erzkonservativ, rein politisch, schwer vergeistigt oder gar – Achtung Reizwort – salafistisch? Ralph Ghadban stellt in seinem bereits 2014 erschienen Essay „Die Sufi-Dimension der Gülen-Bewegung“ fest, wie schwer sich deutsche Medien mit der Einordnung tun: „Diejenigen allerdings, die den Sufismus in der Bildung der Bewegung berücksichtigen, tun es nur im positiven Sinne, um der Bewegung eine Aura von Spiritualität zu verleihen und sie in der Tradition des politisch harmlosen, klassischen Mystizismus einzureihen.“ Die unverbindliche Hippie-Attitüde, die gerne in den Sufismus gelesen wird, scheint also ebenso wenig den Kern dieser Glaubensströmung zu treffen wie ein von oben befohlener Glaubensstaat.
»Wir versuchen eine Selbstverständlichkeit für die eigene Individualität und die Individualität des anderen herzustellen.«
Feride Gençaslan versucht etwas Licht ins Dunkel zu bringen: „Liberal im Zusammenhang mit Islam bedeutet oft, dass es keine Regeln gibt. Auch unsere Praktiken des Dhikr klingen im westlichen Zusammenhang liberal: Mystiker, Liebende, Tanzende, Freigeister. Das sind Vorstellungen westlicher Perspektiven auf uns Sufi-Muslime, weil wir total entspannt aussehen.“ Ihr weites blaues Gewand passt farblich zu ihrem kunstvoll geschwungen Turban, der über dem Nacken schließt. Sie trägt Schmuck und dezentes Make-up. Nichts daran ist aufreizend, aber es bricht deutlich mit dem europäischen Angstbild der vollverschleierten Muslima in Schwarz. „Wir versuchen eine Selbstverständlichkeit für die eigene Individualität und die Individualität des anderen herzustellen“, führt sie fort. „Wir respektieren den anderen. Der Meister des berühmtem Mevlânâ Rumi hat gesagt: Wenn Gott gewollt hätte, dass alle Menschen gleich aussehen, warum hat er sie dann nicht gleich erschaffen? Alle blond, dieselbe Sprache, dieselbe Größe, man hätte auch keine Geschlechter trennen brauchen. Dann hätte er, in moderner Sprache, eine Armee aus Klonen gehabt, die ihn in derselben Sprache preisen. Wenn Gott dies glücklich gemacht hätte, dann hätte er sie auch so erschaffen. Aber nein, keine Ameise gleicht einer anderen, jedes Geschöpf ist einzigartig – und dadurch ist jedes Wesen Zeugnis der Einzigartigkeit des Schöpfers, weil sich seine Einzigartigkeit nun mal in der Schöpfung manifestiert.“ Deshalb sei jeder, egal ob Feueranbeter, Christ oder Konfessionsloser, der nach einer harmonischen Gemeinschaft sucht und etwas über das himmlische Wissen hören will, bei den Sufis willkommen.
Zu einer klassisch liberalen Strömung gehören sie trotzdem nicht, denn dafür gibt es – auch hier ist es wieder wichtig, den Ordenscharakter der Gemeinschaft zu betonen – zu viele Regeln. Dies verdeutlicht ein Beispiel aus Gençaslans Studienzeit: In ihrem ersten Semester an der Freien Universität Berlin setzte sie, die damals noch keine Kopfbedeckung trug, sich im Ramadan an den Tisch einer Kommilitonin, die seit der Hochzeit mit einem Algerier zum Islam konvertiert war und zum schwarzen Gewand den schwarzen Hijab trug. Da beide fasteten, kamen die Frauen ins Gespräch und die Kommilitonin fragte: „Was für eine bist du denn?“ Nachdem Gençaslan sich als sunnitische Naqschbandi-Muslima zu erkennen gab, staunte die andere: „Wow, da hast du ja ein ganz schönes Programm.“ Mit dem Programm meinte sie die Praktiken des Dhikr. Jeder Orden hat seine eigenen. Hinzu kommen individuelle Aufgaben, die der Sheikh für seine Schüler aussucht. „Bei mir sind das beispielsweise 300 zusätzliche Wiederholungen von ‚Ya Latif‘, der arabischen Formel für ‚Der Sanftmütige‘. Dabei hilft meine Gebetskette mit 200 Perlen, eine Ottonormal-Muslim-Gebetskette hat 99 Perlen.“ In Bezug auf ihre Kommilitonin von damals kommentiert sie: „Sufismus ist nicht weniger Islam, als der Islam, den man jemandem ansieht.“
Die Sufi-Lehre halte sich nur ungern mit Äußerlichkeiten auf, es gehe um die ganzheitliche Erfahrung, getreu dem Motto: Wenn man sich dem Fluss ergeben will, darf man sich nicht am Ast festhalten. Will man sich hingeben, dann muss man loslassen. „In der Realität sind wir aber von all unseren materiellen Eindrücken so gefangen genommen, dass wir uns dem Göttlichen nicht mehr hingeben können. Wir haben das Versprechen vergessen, dass wir uns immer an den Schöpfer erinnern.“, sagt Gençaslan. „Doch nach diesem Erinnern müssen wir suchen, um all die sinnliche Wahrnehmung loszulassen, die uns Gott vergessen lässt.“ Dabei helfe es dem Dienenden, es dem Propheten gleich zu tun, und sich beispielsweise ebenso von rechts nach links anzuziehen. Oder die Suppe gegen den Uhrzeigersinn zu rühren – in diese Richtung dreht sich auch der Derwisch. Ich frage, ob man sich nicht mit noch mehr Weltlichem ablenkt, wenn man diese detaillierten, manchmal peniblen Kleidungs- oder Speisevorschriften befolgt. „Richtig, aber Gott ist dann dabei. Durch die Nachahmung von Mohammads Taten versuche ich, mich Allah auf seine Art und Weise anzunähern. Es sind die kleinen Dinge, die das Leben ordnen. Durch diese Ordnung werden wir Herr über uns selbst, Herr über die Lage.“
Bei den Sufis wird das Gedenken Gottes in jede Facette des Alltags integriert, das Prinzip des Bettelmönchs ist ihnen jedoch fremd. Laut Sufi-Lehre soll man so hart arbeiten, als würde man niemals sterben, aber gleichzeitig ständig seines Gottes gedenken, als ob man jeden Augenblick in seine Gegenwart treten könnte. Während ihr Ehemann bei den Berliner Verkehrsbetrieben arbeitet, hat Feride Gençaslan ihren Glauben zu ihrer Arbeit ge-macht und ist seit 2015 als Vorsitzende des Sufi-Zentrums Rabbaniyya angestellt. Das zunächst etwas Verwirrende daran ist, dass ihr leiblicher Bruder – Sheikh Eşref Efendi, der am Bodensee residiert – das spirituelle Oberhaupt der Gruppe ist. 1995 wurde er von Großsheikh Nazım Kıbrısi autorisiert, in der Tradition der Naqschbandīya als spiritueller Wegweiser den deutschen Raum zu betreuen. Auch sie wurde durch die Zeit mit Großsheikh Nazım tief verändert, praktizierte ihre Religion damals aber noch nicht so intensiv. Die beiden Geschwister waren zwar religiös erzogen worden, jedoch zu einem eher moderaten Grad. Es gab keinen Zwang, islamische Kleidungsvorschriften spielten keine größere Rolle. Dass ihr Bruder eine ganz besonders tiefe spirituelle Verbindung hat, war zwar schon immer klar. Aber erst viel später, als sie gegen Ende ihres Studiums die Worte des Bruders für eine wachsende Zahl deutschsprachiger Gemeindemitglieder übersetzte, nahm sie ihn zum ersten Mal als Sheikh wahr: „Je öfter ich ihn übersetzt habe, desto stärker wurde meine Verbindung zu seinen Worten. So kannte ich ihn nicht, das war nicht der große Bruder, den ich von zuhause kenne. Eine andere Kraft hat aus ihm gesprochen und ermöglichte auch mir ganz hohe mystische Inhalte.“
In Berlin wohnt die Familie zwar in einer Weddinger Wohnung im fünften Stock, aber ein bisschen Hippie ist auch hier mit dabei.
Zur selben Zeit lernte sie auch ihren jetzigen Ehemann kennen. Beide waren am Ende ihres Studiums, als sie sich in der Gemeinde begegneten. Der sechsjährige Sohn der beiden wohnt bei seinem Onkel, dem Sheikh Eşref Efendi, in der Sufi-Gemeinde am Bodensee. Das Paar pendelt zwischen den beiden Niederlassungen hin und her. Im beschaulichen Eigeltingen-Reute leben sie mit 40 anderen Sufi-Familien in einer Art spiritueller Kommune. In Berlin wohnt die Familie zwar in einer Weddinger Wohnung im fünften Stock, aber ein bisschen Hippie ist auch hier mit dabei: Der Gemeinschaftsraum des Sufi-Zentrums befindet sich in der ufaFabrik – ein Ort, dessen Geschichte ebenfalls dicht mit der 68er-Revolution verwoben ist. Anfang der 70er entwickelte sich in Berlin eine Kommune, die ab 1979 das Gelände des ehemaligen Filmkopierwerks der Aktiengesellschaft für Filmfabrikation friedlich besetze, und das „ufa“ im Namen in „unabhängig-frei-autark“ umdeutete.
Um die 30 Gründungsmitglieder leben heute noch auf dem Grundstück, manche davon nehmen regelmäßig an den Angeboten des Sufi-Zentrums teil. Diese Verbindung zwischen den freiheitsliebenden Blumenkindern und den asketisch-mystischen Sufis wirft spannende Gegensätze auf: Sowohl der Sufismus als auch die Karma-Kagyü-Schule des Buddhismus wurden in Europa und Nordamerika im Zuge der Hippie-Ära populär. Beide Modelle profitieren stark von einer Lehrer-Schüler-Beziehung, die spirituell Suchenden kamen aber gleichzeitig aus linksliberalen Kontexten, die sich stark gegen autoritäre Gesellschaftsmodelle wehrten.
Wie passt das mit der völligen Ergebenheit unter einen Sheikh, einen Meister, zusammen? Zumindest Andreas Bukowski, der Semazen, hat für sich eine Antwort darauf gefunden: „Die 68er waren eine notwenige Zeit, freie Liebe, alles war erlaubt und trallala. Aber wenn du dich wirklich spirituell auf den Weg machst, dann merkst du ganz schnell, ohne Regeln klappt das nicht. Ein Sprichwort sagt: Wenn du keinen Sheikh hast, dann ist der Schaitan (dt. Satan) dein Sheikh.“ Für Sufis sind ihre Meister wie Spiegel, die das Wissen des Propheten reflektieren und so an den Betrachter, den Schüler, weitergeben können. Der allererste dieser Schüler war Abu Bakr, ein nicht blutsverwandter Gefährte des Mohammad. Über die sogenannte Herzverbindung teilte der Prophet seinen Lehrauftrag mit dem guten Freund. „Der Sheikh ist für uns so wichtig, denn Allah sagt: Ich war ein verborgener Schatz und wollte gefunden, gelobt, geliebt und gepriesen werden.“, ergänzt Feride Gençaslan, denn Sufis seien wie Perlentaucher, und durch den Sheikh finden sie in der Dunkelheit das göttliche Licht. „Es zu praktizieren ist die eine Sache, es zum Ausdruck zu bringen eine ganz andere. Nicht jeder, der Diplom-Mathematiker ist, kann auch Mathematiklehrer sein.“ Das Wichtige: Die Propheten waren laut Überlieferung alle miteinander blutsverwandt, sie finden sich alle bei Abraham, dem Stammesvater der drei monotheistischen Weltreligionen. Durch die Herzverbindung mit Abu Bakr, der kein Familienmitglied war, wurde bereits am Anfang der Sufi-Tradition mit diesem Schema gebrochen. Stattdessen wird der Meisterschüler zum Meister. Doch der Weg dorthin ist weit, daraus macht Gençaslan auch kein Geheimnis.
»Das Leben ist eine Reise von maximal drei Tagen – gestern, heute und vielleicht morgen.«
Viele neugierige Zuhörer finden sich nun ein, denn in wenigen Minuten beginnt der freitägliche Sufi-Abend. Das teetrinkende Publikum, das auf den bunten Sitzkissen Platz nimmt, ist gemischt. Einige Mitglieder der ufa-Kommune, ein paar Hijabis und Männer mit Takke, vereinzelt Mittvierziger im Freizeitlook, eine Gruppe aus Portugal und der Ukraine, die zum allerersten Mal dort ist. Andreas Bukowski in seinem Semazen-Gewand sitzt in der Mitte des Publikums, er wird später den Wirbeltanz erklären und anleiten, während Feride Gençaslan die Grundlagen der Sufi-Mystik in sprachlich ausgefeilten Metaphern erklärt: „Der Tod ist das ewige Leben, deshalb tragen die Derwische die Todessehnsucht am Körper, weil es die Begegnung mit dem Schöpfer verdeutlicht. Mevlânâ Rumi hat gesagt: Das Leben ist eine Reise von maximal drei Tagen – gestern, heute und vielleicht morgen.“ Diese kurze Reise mit Glück und Liebe zu füllen, ist es, was uns alle verbindet.
Moses Sumney
Interview — Moses Sumney
I have never been in love
Californian „folk soul“ singer Moses Sumney gets cherished for an ethereal and unobtrusively shimmering style, which explores the potential to guide the listener into a sensual frenzy. We talk to him about wrong realities and the absence of love.
19. September 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Interview: Katharina Weiß, Photography: Steven Lüdtke
„I sing. I write. I’m in Los Angeles. I’m gonna make it.“ These words are the official description for Moses Sumney’s YouTube account. Somewhere between bedroom melodies and stoner music, the Californian singer played himself up to a loyal audience. And according to this audience, the artist is definitely going to make it – because he gives them an ecstatic experience one user recently described as „This feels like a tidal wave of pleasure beaching in the darkest depths of my soul, washing me clean.“ His first complete album, „Aromanticism“, will be out September 22 on „Jagjaguwar“.
Katharina:
„If lovelessness is godlessness / Will you cast me to the wayside.“ – Like this line out of your title „Doomed“, your new songs are streaked by abstractive lyrics, asking for existential questions. Where does the artistic need for that come from?
Moses:
I studied writing in school, I got a degree in poetry, that helps me to be pretty concise with the way I approach lyricism and celebrate my music through poetry. And then I came to that phase, two years ago, where I could not tell what was real or not. And I wanted to capture that disorienting feeling in my music.
I have no idea what reality is. It could be all fake.
Katharina:
What is reality?
Moses:
I have no idea. It could be all fake. We all could be dreaming right now.
Katharina:
Would it be a good dream though?
Moses:
No, it would be a nightmare.
Katharina:
We heard you produced music in Berlin, how did that go so far?
Moses:
That’s actually not true, but a lot of people have asked me that, so it has to be somewhere on the internet.
Katharina:
Yes, you supposedly said that in an interview – but let’s have a short fake news check then. Is it right that your parents are two pastors?
Moses:
True!
Katharina:
And that from age 10 on, you lived in Ghana?
Moses:
Yes, for 6 years.
I definitely feel very alined and supportive with African or Pan-African movements and efforts of reclaiming what it means to be independent.
Katharina:
Also it’s written down, that your music is rarely influenced by that, because you have been „Americanized“ before, and you are also not in the row of people beeing active in the postcolonial discourse?
Moses:
I would not say all of that. Of course, because I was born and primarily raised in America, I was more drawn to western music. In case of postcolonial struggles I definitely feel very alined and supportive with African or Pan-African movements and efforts of reclaiming what it means to be independent. But I am not actively doing that work right now, I don’t live in Ghana.
Katharina:
Do you share the feeling of several artists of color of your generation, that it is also a form of racism, to always be politicized and asked in interviews about postcolonial or racism struggles – just like I did it to you right now?
Moses:
Definitely, we don’t ask white artists enough what they think about these issues. I am also not always thinking about it, my album is not about it – so it can be really exhausting.
Katharina:
Now let’s talk about the last cliche out of the world wide web – is the etiquette „folk soul“ the accurate description for your music?
Moses:
In the beginning I called it like that, but on my new album „Aromanticism“ I also worked with elements that fit in no genre description.
I would love to be believed that I have a PhD. Or something strange, like the rumor that I have never ever used the internet.
Katharina:
If we could invent a rumor now, a good fake news about you which everyone is believing, what would it be? Like dating Lana del Rey for example?
Moses:
Oh my god, haha I wish! But I would love to be believed that I have a PhD. Or something strange, like the rumor that I have never ever used the internet.
Probably most people have thought at some point that sex is really weird and gross.
Katharina:
To me, some of your songs sound almost spiritual, others are undeniably sexy – is this eroticism connected to feelings of ecstasy and out-of-body experiences?
Moses:
With this album, I was interested in exploring love. I think romantic love is separate from sexuality. Connected but still very different. And I think popular culture often fails to divide them, popular culture fails to aknowledge that people often don’t desire sex or don’t feel great after sex…Probably most people have thought at some point that sex is really weird and gross. With my song „Make out in the car“ I was trying to explore a particular feeling that I had when I wanted to say: Hey, I like you, but I’m not trying to have sex with you, I just want to make out with you in my car. But in terms of the question how desire connects to out-of-body-experiences, I’m not sure. I think you feel most in your body when you have sex.
Katharina:
What’s the last time you’ve been in love?
Moses:
I’ve never been in love.
Katharina:
But you write so beautiful songs about it?
Moses:
I write beautiful songs about not being in love. I do have feelings about people or about our experiences together, I do have ideas about desiring people.
Pop culture makes you wait for this experience of the one – but you never now if it's ever happening to you.
Katharina:
I can connect to that feeling, I also never had this one person for a long-term commitment. But I do feel a pressure from society, which is telling you that you miss out when you’re not madly in love all the time.
Moses:
Absolutely, that’s just not everyone’s experiences, not everyone is in love or ever has been in love, but there are so many different forms of relations, and with my new songs I also tried to explore these cracks. And of course, pop culture makes you wait for this experience of the one – but you never now if it’s ever happening to you.
Katharina:
Maybe we are the lucky ones!
Moses:
Let’s see!
Die späte Ekstase
Editorial — Gereifte Gefühle
Die späte Ekstase
Wer die Ekstase erkundet, wendet sich fast instinktiv der Jugend zu – in all ihren entrückenden Erfahrungen der Einmaligkeit. Dabei ist die Jugend wie die Ekstase immer nur etwas Vorübergehendes. Wir haben mit Menschen gesprochen, die schon etwas länger auf dieser Erde sind, und sie gefragt, wie man die Ekstase im Rückblick greifbar macht.
19. September 2017 — MYP No. 21 »Ekstase« — Interviews & Text: Katharina Weiß, Fotos: Moritz Jekat
Frisch verliebt zu sein, mehr Ekstase geht nicht.
Irene (74), Berlin-Grunewald:
Was für mich ekstatische Höhepunkte sind? Ich bin Biologin, da denken wir an etwas ganz Bestimmtes… aber Spaß beiseite: Ekstase hat mit Emotionalität zu tun, manchmal auch mit Alkohol. Deshalb ist es auch so schwierig, wenn sie vorbei ist. Frisch verliebt zu sein, mehr Ekstase geht nicht. Mit 14 ist mir das zum ersten Mal passiert. Auf einem Fest in Essen, mitten im Juli, als die Winterlinden blühten. Wenn ich diesen Geruch heute in die Nase bekomme, dann drehe ich immer noch durch.
Anne (82), Berlin-Grunewald:
Nachdem mein Mann im vorigen Jahr an Alzheimer gestorben ist, musste ich neue Erinnerungen schaffen. Also habe ich beschlossen, mit Anfang 80 nochmal umzuziehen: von Magdeburg zu meiner Enkeltochter nach Berlin. Sie ist gerade 21 geworden, da muss man natürlich viel feiern gehen. In meinem Alter ist diese Art der Ekstase nichts mehr für mich. Aber in der Philharmonie oder in der Deutschen Staatsoper Unter den Linden zu sitzen und der Musik zu lauschen, das ist das Größte.
Mir fehlt heutzutage ein bisschen mehr Aufregung, mehr Protest.
Alois (75), Berlin-Grunewald:
Berlin vor 25 Jahren, das war pure Ekstase – vor allem politisch. Wir Berliner haben uns nie alles gefallen lassen, was die Politik sagt. Das fand ich richtig gut! Leider ist heutzutage eine gewisse Gleichgültigkeit entstanden, mir fehlt da ein bisschen mehr Aufregung, mehr Protest. So generell würde ich Ekstase als Gemütsbewegung definieren, die – wenn sie richtig ist – kontrolliert werden sollte.
Friedel (82), Berlin-Friedrichshain & Monika (70), Berlin-Grunewald:
Wir kommen gerade von einem Ausflug zum Grunewaldturm – kleine und große Reisen waren in unserem Leben schon immer ekstatische Höhepunkte. Früher trennte uns beide die Mauer. Während es für die eine zu DDR-Zeiten mit Schiffsreisen der „Völkerfreundschaft“ nach Lettland oder Russland ging, flog die andere nach Bali oder Australien. Getroffen haben wir uns viel später in Barcelona. Und auch wenn die Abenteuer kleiner geworden sind, ist es genauso schön!“
Werner (79), Berlin-Mitte:
Das Gefühl, Ekstase zu erleben, hatte ich schon lange nicht mehr. Glück ist kein Dauerzustand und hat nichts mit Zufriedenheit oder Unzufriedenheit zu tun. Glück und Ekstase, das sind geschenkte Momente – wenn sie da sind, muss man vorher wissen, dass man sie nicht festhalten kann.
Zwei Minuten glücklich sein im ganzen Leben, mehr bekomme ich nicht zusammen.
Michael (59), Berlin-Zehlendorf:
Ekstase bedeutet für mich, dass die Gefühle völlig über einen hinauswachsen. Die Kinder zum allerersten Mal im Arm zu halten gehört beispielsweise dazu. Aber da ich ein bisschen älter bin, weiß ich mittlerweile schon, dass man diese Momente der Ekstase nicht festhalten kann. Wenn man es dennoch versucht, dann kann es schnell umschlagen – ins Gegenteil, in Depression. Man sollte sich nicht abhängig machen von ekstatischen Gefühlen. Sehr frei nach Goethe heißt das: „Zwei Minuten glücklich sein im ganzen Leben, mehr bekomme ich nicht zusammen.“ Ich glaube, bei mir waren es aber mehr!
Philipp Gladsome
Editorial — Philipp Gladsome
Kabumm!
19. September 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Fotos: Philipp Gladsome, Text: Maximilian König
Philipp Gladsome ist Fotograf, kommt aus Chemnitz und ist per Du mit dem Who’s who der deutschen Musikszene. Ob im Tourbus, im verschwitzten Club oder auf den größten Festivals dieser Nation – Philipp ist immer dort zuhause, wo Kraftklub, K.I.Z, oder Silbermond gerade spielen.
In den letzten zwei Jahren hat er sich zu einem der aufstrebendsten Musikfotografen des Landes entwickelt. So vielseitig seine Fotografie, so monothematisch ist dabei das Sujet: der Rockstar. Ob dieser jedoch vor oder hinter der Kamera steht, bleibt zu beweisen.
Philipp Gladsome ist 28 Jahre alt, lebt in Chemnitz und Berlin und arbeitet als Fotograf.
Ginger Rhoda Banks
Portrait — Ginger Rhoda Banks
Höhenflüge und Herrenbesuche
Nach ihrer Scheidung fand Ginger Rhoda Banks ihre Erfüllung im stilvollen Striptease. Wir sprachen mit der Burlesque-Diva über den Zusammenhang von Erotik und Ekstase, das Spiel mit dem Publikum und schwindelerregende Liebesbegegungen.
19. September 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Text: Katharina Weiß, Fotos: Roberto Brundo
Die Sonne scheint aufs Deck der „Fitzgerald“, während die sanften Wellen der Spree die Motoryacht liebkosen, auf der Ginger Rhoda Banks mit weißen Spitzenhandschuhen ein randvolles Glas Crémant balanciert. Die Burlesque-Tänzerin, die zwischen Zürich und Berlin pendelt, ist auf diesem mondänen Yachtausflug der Veranstaltungsreihe „Bohéme Sauvage“ in bester Gesellschaft. Auf dem engen 17m-Salonschiff tummeln sich Bonvivants und Primadonnen mit besonderer Vorliebe für den Flair der 1920er Jahre: Damen in kurzen Charlestonkleidern und hellen Kostümen in Herrenfasson, die an Zigarettenspitzen ziehen, werden von Dandys in Knickerbockern und Homburg-Hut begleitet. Ein paar tragen den maritimen Matrosenlook zur Schau. Gelegentlich fällt Ginger Rhoda Banks einer dieser Herren beim Abstieg von der schmalen Leiter des Teak-Sonnendecks fast in den Schoß, ihr einladendes „Uups!“ ist die perfekte Koketterie. Jeder, der mit ihr an einem Tisch sitzt, lacht herzlich über ihre schlüpfrigen Anekdoten und amüsanten Bonmots.
Subtile Ekstase – das ist das Versprechen, dass der Kunst des Burlesque zugrunde liegt.
Dabei ist die Künstlerin erst wenige Jahre in der Burlesque-Szene unterwegs. Eine Spätberufene, sozusagen. Von der katholischen Mädchenschule in Berlin führte sie ihr Weg an vielen bunten Städten, einer längeren Ehe und drei wunderbaren Söhnen vorbei, bis sie vor drei Jahren auf die künstlerische Entblätterung stieß. Eine Tänzerin war Ginger Rhoda Banks jedoch schon immer, wenn auch zumeist im Verborgenen: Als Tochter einer Tanzpädagogin bekam sie mit drei Jahren den ersten Unterricht, von da an war die Bewegung zur Musik ein fester Bestandteil ihrer Persönlichkeit. Ergänzt von einer ausladenden Kostümierung und eleganter Koketterie, kulminiert sich dies in der subtilen Ekstase – dem Versprechen, dass der Kunst des Burlesque zugrunde liegt.
»Wenn ich tanze, verbinden sich für mich Erotik und Ekstase.«
„Das Spiel mit dem Publikum ist faszinierend. Ich zeige ein bisschen Haut – aber hach! – ich zeigs euch doch nicht. Was? Ihr jubelt nicht? Ich kann mich gleich wieder anziehen. Ihr jubelt doch? Na bitte!“, erzählt Ginger Rhoda Banks. „Jede Frau, die Burlesque tanzt, wird dir sagen: Du trägst ein bisschen Bühnenfeeling in den Alltag mit hinein. Dann findet dieses Spiel in ganz kleinen Nuancen statt, ist manchmal umso anziehender. Es kann aber auch als ganz große Geste auf der Bühne präsentiert werden. Wenn ich tanze, verbinden sich für mich Erotik und Ekstase. Letztere ist ein Gefühl, dass absolut aus dem Moment lebt. Es ist ganzheitlich. Man kann nie sagen: Nur meine Hände waren Ekstase – es ist immer der ganze Körper. Es packt dich ganz, es hält die Zeit an.“ Diesem schwerelosen Gefühl sinnlicher Zeitlosigkeit jagen wir alle hinterher, wenn auch auf verschiedenen Pfaden: Manche Menschen tauchen zum Meeresgrund, manche tanzen auf Ecstasy drei Nächte durch, manche meditieren bis zur Entrückung, manche verlieben sich häufig – und manche Menschen schmeißen eine Show.
Um einen der kabarettistisch-erotischen Auftritte von Ginger Rhoda Banks zu sehen und der Ekstase dieser körperlichen Performance nachzuspüren, treffen wir sie ein paar Wochen nach dem sommerlichen Yachtausflug wieder. Der Herbst hat sich mittlerweile über die Stadt gelegt und die goldenen Blätter passen zur warmen Atmosphäre der Berlin Burlesque Academy, welche hier an diesem Tag von Deutschlands erfolgreichster Burlesque-Tänzerin Marlene von Steenvag erstmals in eigenen Räumlichkeiten neueröffnet wird. Wenn Marlene von Steenvag nicht gerade für Marken wie BMW, Aston Martin, Google oder Cointreau tanzt und modelt, gibt sie die Erfahrungen ihrer Selfmade-Karriere an Newcomer weiter. Plätze in ihrem Trainingsprogramm sind heiß begehrt. Nicht zuletzt, da der von ihr angebotene „Bachelorette of Burlesque“ eine eingetragene Marke und innerhalb der Szene eine anerkannte Referenz ist. Vor einem Jahr kam dann diese ausgeflippte Femme fatale zu ihr, seitdem arbeitet sie gemeinsam mit Ginger Rhoda Banks an deren schrillen Shows.
»Noch ein Gläschen Crémant… Champagner soll der Herr dann spendieren.«
Vor dem Auftritt bleibt sie jedoch lieber ganz bei sich: Sie legt Glenn Miller auf und öffnet eine Flasche Schaumwein, dann streift sie die Spitzenwäsche über, schminkt sich und entscheidet sich im letzten Moment für eines von zwei bereitgelegten Kostümen. „Noch ein Gläschen Crémant… Champagner soll der Herr dann spendieren – und Ginger is ready for the spotlight“, fügt sie hinzu. In einem ihrer Stücke mimt sie eine exaltierte mexikanische Dame, die mit einer anderen Dame in Streit gerät, bis das Blut zum Takt lateinamerikanischer Rhythmen in Wallung gerät. In einem anderen unterhält sie in glamouröser Uniform ein imaginäres Regiment schicker Soldaten.
Wenn sie performt, baut sich eine spannungsvolle Distanz zwischen ihr und dem Publikum auf, ganz nach dem augenzwinkernden Motto: „Da müsst ihr noch ganz viel üben, bis ihr mir näher kommen dürft. Aber schauen ist erlaubt.“ Gleichzeitig dient der Flirt beim Burlesque dazu, sich zu zeigen und mit anderen in Kontakt zu treten – auf eine Art, die im künstlerischen Ausdruck und im zwischenmenschlichen Resümee den Alltag übersteigt.
»Es gab Zeiten, in denen ich wie ein zusammengerolltes Kätzchen in der Ecke lag und nicht wachgeküsst werden konnte.«
Den Hunger nach einer so furchtlosen Selbstinszenierung konnte Ginger Rhoda Banks, die Frau hinter dem freizügigen Showcharakter, nicht immer stillen. Wenn es um emotionale Dramatik geht, kann sich die Künstlerin aus eigenen Erfahrungen bedienen. „Es gab Zeiten, in denen ich wie ein zusammengerolltes Kätzchen in der Ecke lag und nicht wachgeküsst werden konnte“, sagt sie. Manche dieser kreativen Täler dauerten auch mehrere Jahre an: „Drei Söhne kauft man nicht im Rewe, natürlich gab es da auch einen Herrn. Aber dann ging es auseinander mit dem Herrn, und das waren Zeiten, da muss die Fantasie zurücktreten, da konnte ich nicht auf die Bühne und tanzen. Da muss man schauen, dass man alles andere auf dem Schiff hält und gerade durch die stürmischen Wellen steuert. Nun verfüge ich als Berlinerin aber über einen gewissen Galgenhumor. Der ist mir, Gott sei Dank, nie abhanden gekommen. Auf der Bühne kann ich diesen inneren Schalk nun endlich wieder zum Ausdruck bringen.“
Mit der Nacktheit, die mit der Kunst des Burlesque einhergeht, hatte sie nie Probleme. Ganz im Gegenteil: „Es war befreiend.“ Mit Gedanken über jüngere Kolleginnen müsse sie sich nicht aufhalten. Beim Burlesque sei egal, was im medialen Alltag zur Priorität des Schönheitskults erhoben wurde: Es ist immer eine starke und erwachsene Frau, die vom Publikum für ihren einzigartigen Showcharakter Akzeptanz und Applaus erntet. Mit dem eigenen Körper und der eigenen Sexualität versöhnt, strahlt jede erfahrene Burlesque-Tänzerin eine Selbstbestimmtheit aus, welche die Koketterie des Genres so reizvoll macht.
Koketterie ist ein Versprechen zum Koitus, aber ein Versprechen ohne Gewähr.
Was aber ist Koketterie? Der Schriftsteller Milan Kunderas findet dafür in seinem Klassiker „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ folgende Worte: „Man könnte vielleicht sagen, es sei ein Verhalten, in dem man dem anderen zu verstehen gibt, dass eine sexuelle Annäherung möglich ist, ohne dass man diese Möglichkeit als sicher erscheinen lässt. Mit anderen Worten: Koketterie ist ein Versprechen zum Koitus, aber ein Versprechen ohne Gewähr.“
An dieser hohen Kunst haben sich schon viele abgearbeitet, das Flirten bleibt aber weiterhin ein Mysterium für sich. Die Ekstase des wirklichen Verliebtseins ist nunmal eine Rarität, für manche heutzutage sogar eine Kuriosität. Auch wenn Ginger Rhoda Banks sich jeden Abend in einen humorvollen Conférencier, einen eleganten Kapitän oder einen leidenschaftlichen Soldaten verguckt, war die Frau hinter dem Showcharakter nur zwei Mal Hals über Kopf verliebt. „Beides hat nicht zu längerem Zusammensein geführt. Ich habe fremden Leuten die Ohren vollgeheult, und das will was heißen. Aber es hat mich gelehrt, keinen Zorn oder Racheglüste, sondern Momente voller Schönheit und Zauber mitzunehmen. Es stimmt mich noch heute manchmal sentimental. Aber meine Mama hat immer gesagt: Trauere nicht, dass vergangen. Sondern freue dich, dass gewesen.“ Diese schönen Augenblicke (oder ihr leidendes Pendant) können durch Burlesque-Performances rekreiert werden. Der Künstler hat das erlebte Gefühl nochmal vor seinem inneren Auge und verleiht seinen Gesten dadurch Glaubwürdigkeit.
»Ich habe mich selber wieder umarmt, Venus und Wollust willkommen geheißen.«
Wenn sich Ginger Rhoda Banks Ekstase vor Augen führt, sind es oft zwei Szenen, die ihr als Bild erscheinen: „Ich erinnere mich an eine besondere Herrenbegegnung. Davor hatte ich eine lange Phase des Alleinseins, ich musste viele Dinge regeln. Doch dann lag ich da, ganz unerwartet, und habe die Arme ganz breit gemacht im Bett. Ich habe mich selber wieder umarmt, Venus und Wollust willkommen geheißen. Die andere Erinnerung an Ekstase ist der Moment nach meiner Abiturprüfung. Ich stand vor der Schule und fragte mich: Warum halten die Autos nicht an und jubeln mit mir? Ich war so aufgeregt und frei, dass ich auf einem Kinderspielplatz um die Ecke gelandet bin, und dort so lange auf dem Kinderkarussell fuhr, bis mir ganz schwindelig war.“ Schwindelig vor Glück – eine herrlich schattenlose Definition der Ekstase.
Flirten wie eine Burlesque-Diva
Drei Tipps von Ginger Rhoda Banks:
1. Bei einem guten Flirt interessiert man sich wirklich für das Gegenüber. Die innere Einstellung zählt. Wenn man insgeheim hofft, dass in der nächsten Sekunde noch ein Besserer um die Ecke kommt, ist es zum Scheitern verurteilt. Erzählen, nachfragen, lächeln und vor allem zuhören, vielleicht sogar Gemeinsamkeiten schaffen… Dem anderen die Hand sanft auf die Schulter legen und leise sagen: „Du, das habe ich auch erlebt.“ Das wirkt Wunder.
2. Viele Ladys (und Gentlemen) haben eine fürchterlicher Haltung. Ihr Gang ist elefantenschwer. Ich persönliche trage nie Hosen oder Turnschuhe (außer zum Sport), so bewege ich mich einfach fließender – und ein klein bisschen Hüftschwung schadet auch nicht. Aber ganz egal in welchem Outfit man sich wohl fühlt, es lohnt sich immer, auf seinen Gang und seine Bewegungen zu achten. Haltung bewahren!
3. Bewahre ein Geheimnis! Du musst nicht alles preisgeben. Es ist ein bisschen wie bei Gourmetessen: Anstatt sich am Guten zu überfressen, bis der Bauch schmerzt, hat man nur einen kleinen Teller voller Delikatessen vor sich. Dafür denkt man sich: Schade, der Teller ist schon leer… naja, muss ich halt ein andermal wiederkommen.
Hamid Sepahzad
Submission — Hamid Sepahzad
Klarheit in den Sinnen
19. September 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Bilder und Text: Hamid Sepahzad
Als ich das Angebot bekam, einen Beitrag für dieses Magazin zu schreiben, war mir die Tiefe und die Aktualität des vorgegebenen Themas nicht bewusst – wir leben in einer Zeit, in der sich jegliche Werte aufzulösen scheinen. Wir nehmen keine Rücksicht auf die Gefühle und die Würde des Menschen.
Zu dem Wort Ektase habe ich zunächst in meinem Wortschatz und in meinem Verständnis eine falsche Bedeutung registriert, die in keiner Art und Weise die Intensität, Ernsthaftigkeit, Wichtigkeit, Notwendigkeit und Bedeutung dieses Wortes widerspiegelte.
Da die deutsche Sprache nicht meine Sprache ist, musste ich erst einmal ein Äquivalent in meiner Sprache finden. Dadurch bin ich automatisch in einen Bereich gelangt, in dem das Religiöse und das Überirdische in den Vordergrund getreten sind. In diesen Zeiten, in denen sich Moral und Mitgefühl in Opportunismus und finanziellem Interesse auflösen, ist es sehr schwer, sich nicht von diesem Leichtsinn beeinflussen zu lassen.
Ekstase – man muss sich von den gesamten weltlichen sowie historischen und persönlichen Erfahrungen loslösen, damit man in Ekstase geraten kann. Dies ist sicherlich ein schöner und sehr idealistischer Traum. Wenn wir uns von diesen Sachen lösen können, haben wir den ersten Schritt getan, um freien Raum zu schaffen in unseren durch und durch rationalisierten Gedanken. Wenn man die Ekstase erleben will, benötigt man einen freien Kopf, ein reines Herz und einen klaren Verstand, um sich das nicht Begreifbare begreifbar zu machen.
Wenn dies gelingt, wird die Leichtigkeit des Seins von einem starken sowie intensiven Gefühl begleitet, das jegliche Selbstsucht und Banalität desselben Seins in sich auflöst. Um an diesen Punkt zu gelangen, braucht man Übung, Klarheit und Disziplin.
Da wir durch unsere gesellschaftliche Funktion einer Schein-Integrität ausgesetzt sind, erfahren wir viele Hemmungen und viele Hindernisse. Wir akzeptieren diese als unsere Wahrheit, die Loslösung von ihnen ist eine sehr schwierige Aufgabe. Durch diese Modalitäten wird die Wahrheitsfindung antiekstatisch.
Ich habe in den letzten paar Jahren meines Lebens oft versucht, dahin zu gelangen. Das war der Anfang und das Ende eines Zwiespalts voller Dasein. Ich glaube, man muss sehr ehrlich mit sich selbst sein, um das Geglaubte in Frage stellen zu können, und um diesem unbeschreiblichen Gefühl Herr zu werden.
In der jetzigen Zeit, in der man Demagogen, die jeglichen Anstand, Menschlichkeit, Würde und Mitgefühl vernichten, eine Bühne gibt, ist die Sehnsucht nach Ekstase um so stärker. Diese humanistischen Werte sind so allgemeingültig, dass darauf eine Vielzahl von Religionen auf dieser Welt begründet sind.
Ich kann allen, die sich mit Kunst, Literatur, Philosophie und der bildenden Kunst beschäftigen, eine intensive Auseinandersetzung mit dem oberflächlich Gelernten und der tatsächlich existierenden Wahrheit raten.
Wir machen Kunst, da wir was bewegen wollen. Was will man bewegen? Was will man verändern?
Ich habe immer gesagt, und sage immer noch, dass der Künstler ein Spiegelbild der Gesellschaft ist. Wir haben die meisten Sensoren, die meisten Antennen und die Sensibilität, die uns dazu getrieben hat, diesen Beruf zu wählen. Es wäre töricht, diese Berufung auf die leichte Schulter zu nehmen.
Wenn man die Kunst als Berufung sieht, hat man mit Absicht viele gesellschaftliche Berufe nicht gewählt. Sondern man hat einen Beruf ausgesucht, der die gesellschaftlichen Diskrepanzen sowie Unklarheiten schonungslos zeigen sollte. Durch intensive Bearbeitung dieser Gedanken und Erfahrungen findet man automatisch den Zugang zur Ekstase – da rein rein ist, klar klar und recht recht.
Nach meinem Verständnis der deutschen Sprache – und aufgrund meiner Erfahrungen – wird das Wort Ekstase vor allem mit menschlichen Gelüsten in Verbindung gebracht und auf körperliche Loslösung reduziert. Dies ist eine Empfindung eines momentanen Hochgefühls, das im Laufe der Zeit verblasst.
Ekstase ist aber mehr als das. Die echte Ekstase ist Meditation, Enthaltsamkeit und manifestiert sich als Klarheit in den Sinnen. Der Nachklang dieses Gefühls verblasst nicht, sondern intensiviert sich im Laufe der Zeit. Man kann auf lange Sicht nur davon profitieren.
Dieses Gefühl wünsche ich jedem.
Bildlegende (v.o.n.u.):
01 talk about rights
02 smell of life
03 to aarive
04 prison of time
05 heroes
Hamid Sepahzad, Jahrgang 1959, ist Künstler und lebt in Dortmund.
Andreas Levers
Editorial — Andreas Levers
Nebel und Stille
19. September 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Fotos und Text: Andreas Levers
Die Ekstase als „Ausmirherausgeraten“ versteckt sich im Nebel und in der Stille. Das finde ich, wenn ich im Herbst alleine unterwegs bin – wenn sich das Kunstlicht im Nebel streut.
Die begrenzte Sichtweite öffnet einen anderen Blick auf die Welt, indem es vertraute Orte aus der Umgebung herausnimmt. Der Kontext löst sich im Dunst auf und zurück bleibt eine Umgebung, die zugleich vertraut und fremd ist.
Dieses Gefühl bleibt – genau wie der Ort – oft vage. Es löst sich auf, wenn man es zu genau greifen möchte.
Andreas Levers ist 38 Jahre alt, lebt in Potsdam und arbeitet als Mediengestalter.
Dirk Mentrop
Editorial — Dirk Mentrop
Innen zu Außen
19. September 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Fotos und Text: Dirk Mentrop
Wenn Innen zu Außen wird...
Was ist einem bewusst? Wissen wir immer, in welcher Welt wir leben? Was real, was wahr und wirklich? Jede unserer Seelen ist ambivalent. Klar und jetzt und doch entrückt. Zurückhaltend und doch explosiv.
Wenn wir von Realität sprechen, welche meinen wir dann? Unsere, oder die der anderen? Und wenn wir von unserer reden, zu welchem Zeitpunkt spielt sich diese ab? Gibt es Zeiten, Momente, in denen unsere Seele neben uns steht, auf uns herabschaut? In denen ein Teil von uns neben oder über dem anderen steht. Losgelöst. Wir uns selbst beobachten, Zeit und Raum entrückt.
Ekstase beginnt da, wo Denken und (Selbst)kontrolle aufhören. Und sie beginnt dann, wenn wir einsam am schmalen Grad zwischen Innen und Außen stehen.
Mein Tag
Was für ein einsamer Tag
Wechselbad zwischen
Fühlen und Apathie
Und doch es ist mein Tag
Benzin für die Seele
Und dann ein Streichholz
Und nix mehr und Buuummm
Grau und Ausweglos
Aber ein Tag – Mein Tag!
Ein, zwei, drei Regentropfen
Regnen vom Himmel
Pfützen auf´m Pflaster
Werden zu Seen
Opium fürs Gemüt
Und die Frau gegenüber
Sieht traurig aus und weint
Schmerzvoll und verwirrt
Aber ein Tag – Mein Tag!
Was für eine Symphonie
Gnadenlos in Moll
Und laut wie nie
Und verdammt es ist mein Tag
Klänge fürs Gefühl
Und dann ein Aufbäumen
Und alles und doch vorbei
Schrill und surreal
Aber ein Tag – Mein Tag!
Dirk Mentrop, Jahrgang 1969, lebt in Trier und arbeitet als freischaffender Künstler und Sozialarbeiter.
www.facebook.com/WhereThePixelWorx
www.flickr.com/photos/wherethepixelworx