Mark Benjamin
Editorial — Mark Benjamin
Not My President
A year ago today, thousands of people across the U.S. and around the world were protesting the election of Donald J. Trump. In New York, protesters converged at Trump Tower in Midtown Manhattan, chanting slogans such as “Not our president”. New York-based photo artist and creative director Mark Benjamin caught some of these moments with his camera.
9. November 2017 — MYP N° 21 »Ecstasy« — Photography: Mark Benjamin
Mark Benjamin is a photo artist and creative director living in New York City.
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Justin Peters
Submission — Justin Peters
Parallelwelt
8. November 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Bilder und Text: Justin Peters
Pablo Picasso hat einmal gesagt: „Alles, was du dir vorstellen kannst, ist real.“ Für mich ist das wie ein Leitsatz.
Seit einigen Jahren versuche ich, meine Vorstellungen in Photoshop zu verwirklichen – mithilfe verschiedener Objekte, die ich auf eine Art und Weise kombiniere, die man so in der Realität nicht finden kann.
Wenn ich ein Bild kreiere, scheint die Welt um mich herum zu verschwimmen. Gleichzeitig wird die Situation, die ich gerade vor Augen habe, für mich immer realer – sie wird zu einer Parallelwelt. In diese Welt kann ich auch den Betrachter eintauchen lassen. Es ist eine Welt, in der alles möglich scheint.
Justin Peters ist 22 Jahre alt und lebt in Stuttgart.
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Maximilian König
Editorial — Maximilian König
Fremont Street
In Downtown Las Vegas sind die Straßen leerer als im neuen, aufpolierten Teil der Stadt – dabei hat hier mal alles angefangen. Auch wenn die wilden Jahre längst vorbei sind: Durch Downtown weht immer noch ein Hauch jener Ekstase und Verruchtheit, die einst den Mythos von Las Vegas begründeten. Fotograf Maximilian König hat sich auf Spurensuche begeben – entlang von Hochzeitskapellen und Pfandleihhäusern.
6. November 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Fotos: Maximilian König
Maximilian König ist Fotograf und lebt in Berlin.
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Alina
Interview — Alina
Kehrseite der Einsamkeit
Sechs Jahre lang hat Alina an ihrem Debut-Album „Die Einzige“ geschrieben, jetzt ist es endlich da. In ihren Liedern erzählt sie schonungslos offen von Selbstzweifeln, Enttäuschungen und der Angst vor Einsamkeit. Dabei ist ihr mit Abstand wichtigster Song beim Wäschewaschen entstanden.
24. Oktober 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke
„CM 7151“ ist ein wahrer Schatz. Das elegante Mikrofon, das zu DDR-Zeiten im RFT Funkwerk Leipzig entwickelt und gefertigt wurde, gilt heute als echte Rarität – vor allem, wenn es mit „M7“ kombiniert ist, einer ebenso eleganten Mikrofonkapsel aus dem Hause Georg Neumann. In tadellosem Zustand bringen es die beiden Klassiker auf einen Wert, der vergleichbar ist mit dem Kaufpreis eines Kleinwagens.
Zu den Wenigen, die einen solchen Schatz besitzen, gehören die Betreiber der Berliner Noize Fabrik. Ihr fast neuwertiges „CM 7151“ steht zusammen mit „M7“ in ihrem sogenannten „Live Room“, einem kleinen Aufnahmestudio, das man stundenweise mieten kann. Das Besondere am „Live Room“ ist die vollverglaste Wand, die es Musikern erlaubt, ihre Recordings auch für Publikum zu öffnen und damit eine ganz besondere, fast intime Nähe herzustellen. Studio-Session und Live-Auftritt – zur selben Zeit und aus einer Box. So nahbar lässt sich Musik in Szene setzen.
Die Musik, um die es heute geht, ist die von Alina. Die junge Künstlerin, die aus Konstanz am Bodensee stammt und mittlerweile in Berlin lebt, hat bereits vor sechs Jahren damit begonnen, an ihrem Debüt-Album zu schreiben. Die Platte, die am 20. Oktober das Licht der Welt erblickt hat, trägt den Titel „Die Einzige“: In sehr emotionalen und persönlichen Songs legt die Musikerin das Innerste ihrer Seele offen. Dabei singt sie von Selbstzweifeln, Enttäuschungen und Angst vor Einsamkeit.
Diese Themen haben sich im Laufe der Jahrzehnte auch in das Gedächtnis von „CM 7151“ und „M7“ gebrannt. Wie viele Stimmen es wohl waren, die ihre Versionen von Glück und von Trauer, von Liebe und von Einsamkeit, von Hoffnung und von Schmerz in die elegante Mikrofoneinheit gesungen haben?
Ansehen kann man es ihnen nicht. Die beiden Geräte wirken noch immer so frisch, als hätten sie das Wissen um die Widrigkeiten des Lebens nie als schwere Last begriffen – eher als eine nützliche Erfahrung, die ihnen den Rücken stärkt und sie für die Zukunft rüstet. Ob das bei Alina ähnlich ist? Wir bitten sie im „Live Room“ zum Gespräch.
Jonas:
Vor vier Jahren hast du in unserem Magazin einen selbst verfassten Artikel zum Thema „Meine Stille“ veröffentlicht. Der Text trägt die Überschrift „Innerlich laut“, es finden sich darin Sätze wie „Meine Stille ist wie ein wild gewordenes Kind“, „Meine Stille macht mir Angst“, „Meine Stille ist eine Illusion“ oder „Wenn ich still bin, bin ich tot.“ Stehst du mit der Stille immer noch auf Kriegsfuß? Oder hast du mit ihr mittlerweile deinen Frieden gemacht?
Alina:
Für mich ist Stille immer noch etwas, das in meinem Leben nicht so einfach um die Ecke kommt. Aber im Vergleich zu damals suche ich die Stille heute viel bewusster, viel aktiver: Je lauter es um mich herum wird, desto mehr suche ich die innerliche Stille.
Jonas:
Würdest du sagen, dass du nach außen hin lauter geworden bist?
Alina:
Wenn man die Frage auf meine öffentliche Sichtbarkeit als Künstlerin bezieht, würde ich sagen ja. Ich glaube aber, dass ich als Mensch – in meiner extrovertierten Art – eher ruhiger geworden bin. Ich merke einfach, dass meine Energie begrenzt ist. Mit den Jahren entwickelt man ja auch ein immer besseres Feingefühl für sich selbst.
Jonas:
Du hast in deinem Artikel damals sehr stark mit Sprache gespielt und viel von deinem Innersten preisgegeben. Diese schonungslose Offenheit findet man auch in den Texten deiner Songs. Nicht viele Menschen sind in der Lage, sich gegenüber anderen so zu öffnen, vor allem nicht in der Öffentlichkeit. Fühlst du dich dadurch nicht sehr angreifbar und geradezu nackt?
Vielleicht bin ich auch so offen, um meine eigenen inneren Konflikte und meine Traurigkeit zu lösen und in Musik umzuwandeln – um mich gewissermaßen davon zu heilen.
Alina:
Auch für mich gibt es solche Momente, in denen ich das Gefühl habe: Das kann ich eigentlich nicht. Aber unterm Strich ist das für mich die einzige Art und Weise, Musik zu machen – Musik, die für mich selbst interessant ist und einen Anspruch hat. Mit dieser Art von Musik kann ich erzählen, dass das innerlich Wahrhaftige auch äußerlich wahrhaftig ist. Für mich ist das die beste Möglichkeit, mit anderen Menschen eine Verbindung herzustellen und zu erreichen, dass sie sich verstanden fühlen. Das ist das Ziel jedes einzelnen Songs von mir.
Vielleicht bin ich auch so offen, um meine eigenen inneren Konflikte und meine Traurigkeit zu lösen und in Musik umzuwandeln – um mich gewissermaßen davon zu heilen. Ich würde mit diesem eigennützigen Vorhaben aber nicht auf die Bühne gehen, wenn ich nicht auch der festen Überzeugung wäre, dass meine Musik den Menschen eine Möglichkeit gibt, sich in bestimmte Situationen und Gefühlszustände hineinzuversetzen.
Jonas:
Wie hast du gelernt, so offen durchs Leben zu gehen? Ist das etwas, was man von zu Hause mitbekommt, oder hast du dir diese Eigenschaft im Laufe der Jahre antrainiert?
Alina:
Ich glaube, das habe ich von meiner Oma. Als Kind ist sie nach dem Krieg aus Danzig vertrieben worden und in ein kleines Dorf im Schwarzwald geflohen. Noch heute weist sie ausdrücklich darauf hin, dass sie dort eigentlich nicht hingehört, sondern in eine Großstadt. Meine Oma hat schon immer das Herz auf der Zunge getragen und sagt einfach gerade heraus, was sie denkt. Diese Direktheit habe ich definitiv von ihr.
Was meine Musik angeht, hat es durchaus einige Jahre gedauert, bis ich mir dort diese Offenheit und Direktheit zugetraut habe. Diesen krassen Zugang zu meiner Seele hätte ich vom ersten Tag an nicht so einfach legen können.
Jonas:
Dafür kann es heute passieren, dass du mit deiner Musik andere Menschen dazu ermutigst, auch eine gewisse Offenheit zu entwickeln und mehr von ihren Gefühlen preiszugeben. Erinnerst du dich selbst an Musik, die für dich im Laufe deines Lebens eine solche Mutmacher-Funktion hatte?
Am stärksten berührt ist man ja, wenn man etwas hört, das man selbst in gleicher Weise erlebt hat – und sich dadurch total verstanden fühlt.
Alina:
Ja, immer! Es gibt zwar nicht den einen Künstler oder das eine Lied, das beispielhaft dafür stehen würde, aber Musik hat mir immer etwas erzählt und hat mich immer vorausblicken und erahnen lassen, welche Dinge vielleicht auch in meinem Leben passieren können.
Am stärksten berührt ist man ja, wenn man etwas hört, das man selbst in gleicher Weise erlebt hat – und sich dadurch total verstanden fühlt. Dann bricht plötzlich der Damm! Dieser Moment ist es, den ich auch selbst immer versuche einzufangen: Bei meiner Musik will ich mich und den Zuhörer so erwischen, dass zwischen uns eine Verbindung entsteht. Und wenn mir dann jemand nach einem Konzert sagt: „Du, ich war in Tränen aufgelöst!“, ist es das größte Kompliment, das man mir machen kann.
Jonas:
Vor ein paar Tagen habe ich mal in der Timeline deiner offiziellen Facebook-Seite gestöbert und bin auf ein Foto gestoßen, das dich mit einem T-Shirt von Guns n’ Roses zeigt. Sofort hatte ich wieder die 90er Jahre vor Augen und in den Ohren. Ist Guns n’ Roses eine Band, die dich in deiner Kindheit und Jugend musikalisch sozialisiert hat?
Alina:
In den 90ern hat mich wirklich sehr viel Musik gecatcht. Damals war ich wahnsinnig aufnahmefähig und habe mich quer durch alle Genres gehört: von Nirvana über Aaliyah und Eminem bis zu Blümchen – kein Scherz! Ich habe alles aufgesogen, was es um mich herum gab. Bis heute hat sich das eigentlich auch nicht verändert, musikalisch bin ich gegenüber allem nach wie vor sehr offen.
Besonders haben es mir in meinem Leben aber die großen Diven angetan: Whitney Houston, Celine Dion – für mich war es immer schon außergewöhnlich, was diese Frauen mit ihrer Stimme anstellen können und wie toll sie ihre Musik inszenieren. Ich mag einfach das große Drama! Eine meiner größten Inspirationen ist dabei Mariah Carey, die ich bereits Anfang der 90er für mich entdeckt habe und bis heute liebe. Sie und ihre Musik haben mich extrem geprägt.
Jonas:
Wenn man in der deutschsprachigen Musik nach solchen Diven sucht, wird man am ehesten in den 1950er und 60er Jahren fündig. In der jüngeren deutschen Musikgeschichte scheint diese Art von Künstlerin völlig ausgestorben zu sein.
Frauen wie Hildegard Knef, Marlene Dietrich oder Zarah Leander waren nicht nur schön: Das Faszinierende an ihnen ist, auch heute noch, dass sie so selbstbestimmt waren.
Alina:
Ja, das stimmt. Ich erinnere mich zum Beispiel an Alexandra, eine deutsche Sängerin aus den Sechzigern, deren Musik ich als Kind sehr viel gehört habe. Ich weiß aber nicht, ob man sie wirklich als Diva bezeichnen kann. Aus dieser Zeit fallen mir viel eher Persönlichkeiten wie Hildegard Knef, Marlene Dietrich oder Zarah Leander ein. Diese Künstlerinnen habe ich erst Ende der 90er für mich entdeckt und mich dann intensiv mit ihnen beschäftigt. Diese Frauen waren nicht nur schön: Das Faszinierende an ihnen ist, auch heute noch, dass sie so selbstbestimmt waren – und das zu einer Zeit, in der das alles andere als selbstverständlich war. Sie waren ihrer Zeit weit voraus und hatten dadurch sehr bewegte Leben, dramatische Leben. Dadurch hatten sie wirklich etwas zu erzählen, nicht nur in ihrer Musik.
Jonas:
Was glaubst du, warum sind diese Diven in der deutschsprachigen Musik nach und nach verschwunden?
Alina:
Ich weiß es nicht. Aber diese Frage beschäftigt mich sehr, auch weil ich in den letzten Jahren immer wieder nach solchen Rollenbildern gesucht habe. Eine Ute Lemper beispielsweise, die ich durchaus als Diva bezeichnen würde, hat sich aus Deutschland zurückgezogen, weil ihre Art hier einfach nicht ankam – sie wurde in ihrer Divenhaftigkeit nicht akzeptiert. Vielleicht ist es daher einfach mal wieder Zeit für eine deutsche Diva. (Alina lächelt)
Jonas:
Vielleicht hatte man in Deutschland auch einfach jahrzehntelang Angst vor selbstbewussten Frauen.
Alina:
Ich hoffe nicht. Aber das wäre auf jeden Fall eine Erklärung.
Jonas:
Eine Diva wird man nicht von heute auf morgen, das braucht einen langen Anlauf. Wann in deinem Leben wusstest du, dass du Musik machen willst?
Eine ältere Dame streckte mir einen Kinderriegel ins Gesicht und sagte: »Das hast du ganz toll gemacht.«
Alina:
Rückblickend habe ich das schon immer irgendwo tief in mir drin gewusst und eine besondere Faszination für Musik verspürt. Ich erinnere mich an zwei Schlüsselmomente in meiner Kindheit, die aus heutiger Sicht ein Hinweis darauf waren, welche Richtung mein Leben einmal einschlagen wird.
Der erste Moment bezieht sich auf eine Situation, als ich etwa vier Jahre alt war. Meine Eltern hatten sich gerade mit einem kleinen Bürofachhandel selbstständig gemacht und ein Ladenlokal übernommen. Während sie damit beschäftigt waren, den Laden zu renovieren, saß ich alleine im Treppenhaus direkt nebenan. Ich war so gelangweilt, dass ich angefangen habe, irgendwelche Laute von mir zu geben. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich meine Stimme in einem Raum wahrgenommen und den Hall gespürt! Das hat mich total in Trance versetzt und begeistert. Ich weiß noch, wie ich da auf der Treppe saß, immer wieder neue Melodien erfand und nach und nach merkte, welche Kraft meine Stimme hat. Irgendwann – ich hatte mich so richtig verloren in meiner Welt – tippte mir jemand auf die Schulter. Eine ältere Dame, die ebenfalls in dem Haus wohnte, streckte mir einen Kinderriegel ins Gesicht und sagte: „Das hast du ganz toll gemacht.“
(Alina lacht)
Schlüsselmoment Nummer zwei ereignete sich kurze Zeit später, als ich mit meiner Familie eine Vorstellung von „Das Phantom der Oper“ in Basel besuchen durfte. Anne-Marie Kaufmann spielte damals eine der Hauptrollen – schon wieder eine starke Frau. Ich war total geplättet: diese Musik, diese Opulenz, dieses Drama! Noch vor Ort kaufte mir mein Vater die Musical-CD, die in den nächsten Wochen ständig bei uns lief. Sobald die CD eingelegt war, habe ich performt, auch im Ladenlokal. Das war für die Kunden, die in unseren kleinen Bürobedarf-Laden reinkamen, immer ein Highlight. Es gibt da diese eine berühmte Arie, in der die Stimme immer höher und höher wird – diese Arie konnte ich mitsingen! Und zwar bis zum höchsten Ton.
Jonas:
Du bist dann aber nicht als Kinderstar durchgestartet, sondern hast ganz klassisch studiert: Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften an der Uni Konstanz – mit Nebenfach Verwaltungswissenschaften.
Alina:
Oh Gott, ich habe keine Ahnung, wie ich die Prüfung in diesem Nebenfach geschafft habe. Den Studiengang habe ich mir hauptsächlich wegen der Medienwissenschaften ausgesucht, Literatur und Kunst haben mich am Anfang eher weniger interessiert. Dann wollte es das Schicksal aber so, dass mein Literatur-Professor irgendwie auf mich aufmerksam wurde und mich fragte, ob ich als Tutorin arbeiten möchte – im Fach „Einführung der Literaturwissenschaften I“. Ich habe einfach ja gesagt und im nächsten Moment gedacht: Um Gottes Willen, was hast du dir da eingebrockt? Vor anderen Menschen zu reden und Vorträge zu halten, das war für mich eine absolute Horrorvorstellung. Aus heutiger Perspektive war das aber eine sehr gute Schule: Nachdem ich mir den Stoff draufgeschafft hatte, war es supercool, mit und vor den Studenten zu reden. Das hat mir bis heute Einiges gebracht.
Jonas:
Mitte Juni hast du auf Facebook einen Post veröffentlicht, in dem es heißt: „Das Schicksal hat mich vor fünf Jahren nach Berlin gebracht, meine Stadt aus Gold.“ Was genau hast du damit gemeint? Was in deinem Leben war damals so schicksalhaft?
Ich habe mich irgendwie wie ein Kind gefühlt, das keine Berührungsängste hat – als Kind war ich furchtlos, auch auf der Bühne.
Alina:
Es gab in meinem Leben nicht diesen einen Schicksalsschlag, sondern eher ein großes Erwachen. Die Geschichte fängt damit an, dass ich vor etlichen Jahren in Konstanz nach einer Location für meine Geburtstagsparty gesucht habe und per Zufall an eine Künstlergruppe geraten bin. Diese Gruppe bestand aus Schauspielern, Musikern, Designern und Kreativen aus aller Welt, die unter anderem ein eigenes Theaterstück auf die Beine gestellt hatten und in der besagten Location regelmäßig spontane Konzerte und Jam-Sessions abhielten – so auch an dem Abend, an dem ich dort mal vorbeigeschaut habe, um die Räumlichkeiten für meine Party zu begutachten. Plötzlich fand ich mich inmitten eines kleinen Jazz-Konzerts wieder. Aus dem Publikum heraus habe ich spontan mitgesungen – und als die Band das mitbekommen hat, hieß es kurzerhand: „Sing du doch mal und komm nach vorne!“
Bis zu diesem Moment hätte ich mir nie vorstellen können, einfach so auf die Bühne zu gehen und zu improvisieren, ohne mir vorher den Text anzueignen oder den Song einzuüben – ich war eine Person, die immer akkurat vorbereitet sein musste. Dementsprechend war das ein großes Aha-Erlebnis für mich, ich hatte das Gefühl, als wäre in mir eine riesige Tür aufgegangen. Die positive Reaktion der Leute, die Euphorie, das Glücksgefühl – es war so wunderschön, sich einfach in diesen Moment fallen zu lassen.
An dem Abend habe ich mich irgendwie wie ein Kind gefühlt, das keine Berührungsängste hat – als Kind war ich furchtlos, auch auf der Bühne. Als ich dieses besondere, überwältigende Kindheitsgefühl gespürt habe, habe ich mit jeder Zelle meines Körpers gewusst: Musik ist genau das, was ich machen will in meinem Leben. Denn eigentlich war Musik schon immer meine größte Kraft und meine größte Leidenschaft. In meinem Studium fühlte ich mich eh irgendwie verloren, alles dort hatte mich nur noch so ein bisschen interessiert. Und so war klar: Es ist die Musik. Also machen wir Musik!
In den folgenden Wochen und Monaten habe ich zusammen mit einigen Straßenmusikern überall in Konstanz Musik gemacht, das war eine tolle Zeit. Ich habe dann relativ schnell herausgefunden, dass die Popakademie in Mannheim ein Ort wäre, der mich interessieren könnte und wo ich mich gerne bewerben möchte. Also habe ich angefangen, auf diese eine Bewerbung hinzuarbeiten: Ein ganzes Jahr lang habe ich nichts anderes getan, als Songs zu schreiben, diese in Eigenregie aufzunehmen, eine Band zu organisieren oder Videos zu drehen. Am Ende hat sich die Mühe gelohnt, ich wurde angenommen – Gott sei Dank, denn einen alternativen Plan hatte ich nicht in der Tasche. Ich würde sagen, das war die Geburtsstunde meines Weges.
Drei Jahre später hatte ich schon wieder das Gefühl, dass ich weiterziehen muss – und irgendetwas tief in meinem Inneren sagte mir, dass ich nach Berlin gehen sollte. Dieses Gefühl hat sich absolut richtig angefühlt, also habe ich in Mannheim alle Zelte abgerissen und bin schließlich vor fünf Jahren nach Berlin gezogen.
Jonas:
Du hast für deine Musik einen sehr individuellen und prägnanten Stil entwickelt. Hattest du vom ersten Tag an eine konkrete Idee davon, in welche Richtung du mit deiner Musik willst? Oder hat sich dieser Stil erst im Laufe der Jahre ergeben?
Es ist wichtig herauszufinden, was man nicht will. Man kommt schneller ans Ziel, wenn man Dinge für sich ausschließen kann.
Alina:
Für einen Künstler ist es die größte Herausforderung, Antworten auf bestimmte Fragen zu finden, wie zum Beispiel: Wie klingt meine Stimme? Was ist mein Sound? Welche ist meine Sprache? Welche Geschichten erzähle ich mit meiner Musik? Auch für mich war es das große Ziel, das Musikalische herauszufiltern und meine eigene Identität zu finden – und zwar in dem Moment, in dem ich mich entschlossen habe, Musik zu machen, und an der Popakademie angenommen wurde. Dementsprechend hat sich mein Stil mit der Zeit erst entwickelt.
Rückblickend kann ich sagen, dass es bei einem solchen Findungsprozess wichtig ist, sehr viel auszuprobieren – und vor allem herauszufinden, was man nicht will. Man kommt schneller ans Ziel, wenn man Dinge für sich ausschließen kann. Wenn man sagen kann: Das gefällt mir nicht, das bin ich nicht.
Jonas:
Wie etwa auf Englisch zu singen?
Alina:
Ja, genau. Ich habe bis vor sechs, sieben Jahren nur auf Englisch gesungen, bis ich mich schließlich im Deutschen gefunden habe. Diese Reise zu gehen, hat mir vor allem die Popakademie ermöglicht. Ich habe dort herausgefunden, dass ich im Englischen sprachlich eher so lala bin und dazu keine wirkliche Verbindung herstellen kann. Im Deutschen, meiner Muttersprache, gelingt mir das viel besser: Mit dieser Sprache kann ich alles bauen und alles genauso sagen, wie ich es will. Ich glaube, das war noch so ein Schlüsselmoment in meinem Leben.
In all den Jahren zuvor hatte ich verschiedenste Genres ausprobiert und irgendwie versucht diese zu erfühlen. Ich hatte Jazz gesungen, mich in die Klassik begeben und mich mit Hip-Hop, RnB und Soul auseinandergesetzt. Aber nie konnte ich eine echte Verbindung aufbauen.
Für mich war es eine krasse Erfahrung, dass meine Musik im Deutschen auf einmal eine ganz andere Farbe hatte, stimmlich wie inhaltlich. Das erste Lied, das ich dann auf Deutsch geschrieben habe, war der Song „Kind sein“. Dieses Lied hat den Grundstein gelegt für die Identität, die ich heute als Künstlerin habe, und war für mich wie ein Geschenk: Der Song sprudelte plötzlich aus mir heraus, als ich mit verschiedenen Sounds herumprobiert habe und über ein Celeste-Thema gestolpert bin, das mich sehr stark an meine Kindheit erinnert hat und mich nicht mehr loslassen wollte.
Ich dachte nur: Wow, wo kommt das denn her? Welche Seite von mir ist das? Und warum fühlt es sich so richtig an? Während mir in meinen ersten Jahren an der Popakademie noch nichts so richtig gelingen wollte, wusste ich mit diesem Song genau, wohin ich will. Von da an hat es ziemlich genau sechs Jahre bis zur Fertigstellung meines ersten Albums gedauert.
Jonas:
Dein Album trägt den Titel „Die Einzige“ und ist nach dem gleichnamigen Song benannt, der wohl der schonungsloseste und intimste auf der ganzen Platte ist: Du besingst darin das Gefühl, nicht gut genug zu sein, und erzählst von der Angst, ein Leben lang alleine zu bleiben. Wie ist dieses Lied entstanden?
Alina:
Vor knapp zwei Jahren hatte ich geplant, eine eigene EP herauszubringen – zusammen mit dem kleinen Label meines Managements, auf dem ich damals gesignt war. Den Showcase, den wir dazu veranstaltet haben, hat sich auch Tom Bohne angesehen, der President of Music bei Universal Music Deutschland ist. Tom wollte mich noch am selben Abend kennenlernen und sich mit mir unterhalten. Das war ein wirklich tolles Gespräch, denn Tom hat mir ein so differenziertes und professionelles Feedback gegeben, wie ich es vorher noch von keinem erhalten hatte. Irgendwie habe ich mich dadurch total von ihm gesehen gefühlt.
Unser Gespräch gewann immer mehr an Tiefe und irgendwann sagte Tom: „Du, Alina, ich finde es ja toll, dass deine Songs so persönlich sind. Ich glaube aber, dass es da noch Themen gibt, an die du dich noch gar nicht herangetraut hast.“ Das hat richtig gesessen! Und schon wieder ging in mir eine riesige Tür auf. Nicht nur, weil jemand wie Tom, der für mich so etwas wie eine lebende Legende im Musikgeschäft ist, mir diese große Aufmerksamkeit gewidmet hat. Sondern auch, weil ich instinktiv das Gefühl hatte, dass da was dran ist.
In den nächsten sieben, acht Tagen drehten sich in meinem Kopf ununterbrochen die Rädchen. Ich fragte mich ständig: Gibt es da noch irgendwelche Themen? Habe ich irgendetwas in mir übersehen? Und plötzlich – ich war gerade dabei, meine Wäsche zusammenzulegen – schoss mir folgende Frage durch den Kopf: „Ey, sag mal, bin ich eigentlich die Einzige, die für immer alleine bleibt?“ Auf einmal war nicht nur das Thema da, nach dem ich die ganze Zeit gesucht hatte. Mit dieser Frage hatte ich dazu gleich auch die wichtigste Songzeile in der Hand.
Eigentlich pocht dieses Thema ja schon seit Jahren in meiner Brust und ist omnipräsent in meinem Leben. Ich rede mit meinen engsten Freunden ständig über gescheiterte Dates, unglückliches Verliebtsein und die Angst, alleine zu sein. Dennoch ist es mir jahrelang nicht in Sinn gekommen, dieses Thema künstlerisch anzupacken – obwohl es so offensichtlich war.
Jonas:
Hast du eine Erklärung dafür, warum du an diesem offensichtlichen Thema so lange vorbeigelaufen bist?
Wer stellt sich schon gerne hin und sagt: »Juhu, ich bin Dauersingle!« Man möchte sich ja nicht selbst demütigen.
Alina:
Vielleicht weil das Thema nicht wirklich sexy ist. Wer stellt sich schon gerne hin und sagt: „Juhu, ich bin Dauersingle!“ Man möchte sich ja nicht selbst demütigen. Daher hatte ich vor dem Thema wahrscheinlich richtig große Angst. Aber beflügelt durch mein Gespräch mit Tom war ich nun absolut offen dafür.
Jonas:
Der oder die Einzige auf der Welt zu sein, das sagt sich so schnell. Dabei gibt es womöglich Millionen andere Menschen, denen es ganz genauso geht.
Alina:
Ich mag es, mit großen Begrifflichkeiten zu arbeiten. Songtitel wie „Die Einzige“, „Schönheitskönigin“ oder „Mit Größe gehen“ sind zwar große, schwere Worte. Sie alle haben aber eine inhaltliche Kehrseite. Und die Kehrseite kann ich am besten erzählen, indem ich die glanzvolle Fläche auf der Vorderseite nutze. Diese Herangehensweise hat es mir auch ermöglicht, den Song „Die Einzige“ zu schreiben, ohne mich dabei lächerlich zu machen.
Jonas:
Mit einer einzelnen Zeile, die man beim Zusammenlegen der Wäsche textet, hat man noch lange keinen fertigen Song. Wie hast du daran weitergearbeitet? Immerhin war ja nun endlich das gesuchte Thema da.
Alina (lacht):
Stimmt! Als plötzlich dieser Satz da war, konnte ich nicht einfach so mit der Wäsche weitermachen. Ich wollte so schnell wie möglich den Song entwickeln. Leider hatte ich in diesem Moment kein Instrument zur Hand. Also habe ich mein Handy genommen und aus dem Nichts heraus improvisiert.
(Alina stimmt die Melodie des Refrains von „Die Einzige“ an)
So ist die Melodie des Refrains entstanden. Das war einer der seltenen Momente im Leben, in denen sich ein Song richtig aufdrängt und endlich aus einem heraus will. Als ich den Refrain hatte, habe ich mein Handy wieder zur Seite gelegt, mich um die nächste Ladung Wäsche gekümmert und mir dabei Gedanken darüber gemacht, wie ich in die Strophe reinkomme. Ich habe mich wieder an das Gespräch mit Tom erinnert, der damals zu mir sagte: „Manchmal ist es ein gutes Stilmittel, Fragen zu stellen.“ Also habe ich Fragen gestellt. Und hatte bald die erste Strophe zusammen.
Mit diesem Gerüst aus Refrain und Strophe bin ich in eine erste Session mit meinem heutigen Gitarristen Robert gegangen. Ich hatte vorher nie mit ihm gespielt und habe daher vorgeschlagen: Wir können jetzt bei Null anfangen oder wir spielen diesen Song – den muss ich unbedingt zu Ende bringen. Gott sei Dank war Robert dafür total offen. Und so haben wir gemeinsam ein wundervolles Arrangement erarbeitet und ich habe die zweite Strophe geschrieben.
Leider hatten wir keine Möglichkeit, den Song in einer halbwegs ordentlichen Qualität aufzunehmen. Wir hatten nur eine krakelige Aufnahme, die alles andere als optimal war. Diese Aufnahme habe ich zu meinem ersten offiziellen Meeting mit Tom Bohne bei Universal Music mitgenommen, aber habe mich erst mal nicht getraut, sie ihm vorzustellen. Erst ganz am Ende unseres Gesprächs sagte ich: „Tom, du hast mich zu einem Song inspiriert, den würde ich dir gerne vorspielen.“
Dann habe ich mein Handy an seine Anlage angeschlossen und war mehr als peinlich berührt: Die Aufnahme war wirklich unterirdisch, der Song krakelte nur so durch die Boxen. Die Situation war so unangenehmen, dass ich permanent aus dem Fenster gestarrt habe, um irgendeinen Punkt zu finden, an dem ich krampfhaft meinen Blick festmachen konnte. Als das Lied zu Ende war, sagte Tom mit tiefer Stimme: „Krass!“ – man muss wissen, dass er nicht die überschwänglichste Art hat (Alina lacht). In diesem Moment war klar, dass es irgendeine Zusammenarbeit geben würde.
Als wir uns einige Wochen später zu einem zweiten Meeting trafen, hatte das Lied intern bereits Wellen geschlagen. Man muss wissen, dass Toms Assistentinnen und Assistenten immer alles mitbekommen, was Tom so abspielt. Eine seiner Mitarbeiterinnen umarmte mich und sagte: „,Die Einzige’, ,Die Einzige’! Das ist mein Lied! Mir geht’s genauso!“ Und nicht nur die Mädels im Vorraum haben über den Song gesprochen, auch die Abteilung nebenan hat irgendwie Wind davon bekommen. Dort fragten sie sich nur: „Sagt mal, warum findet sie denn keinen?“
Dadurch, dass der Song so schnell seine Runden gemacht hatte, war für mich klar: Das ist das Lied des Albums. Die eigentliche Kraft des Songs besteht ja darin, dass er sich anfühlt wie eine Trost spendende Umarmung. Wie du bereits gesagt hast: Im Grunde gibt es unzählige Menschen auf der Welt, denen es ganz genauso geht, die das Gefühl haben, der oder die Einzige zu sein.
Jedes Lied, das man auf dem Album findet, ist in einem sehr intimen Moment entstanden – in einem Moment, in dem ich zu mir selbst sehr ehrlich war und mich sehr alleine gefühlt habe.
Jonas:
Und weil „Die Einzige“ das Lied des Albums ist, hast du auch das Album selbst so benannt?
Alina:
Nicht ganz. Warum auch das Album „Die Einzige“ heißen muss, ist mir erst später klar geworden: Jedes Lied, das man auf dem Album findet, ist in einem sehr intimen Moment entstanden – in einem Moment, in dem ich zu mir selbst sehr ehrlich war und mich sehr alleine gefühlt habe. In jedem dieser Momente kam es mir vor, als wäre ich der einzige Mensch auf der ganzen Welt, dem es so geht. Daher heißt nicht nur dieser eine Song so, sondern auch das gesamte Album.
Jonas:
An diesem Album hast du ganze sechs Jahre lang gearbeitet. Hast du mit der Gewissheit, dass dein musikalisches Baby nun endlich geboren wird, auch deine Selbstzweifel besiegt?
Alina:
Selbstzweifel wird es in meinem Leben immer geben. Die Frage ist nur, woran genau ich zweifele. Als Künstlerin habe ich in den letzten Jahren sehr viel an Selbstbewusstsein gewonnen, das freut mich natürlich. Für mich ist es der allergrößte Erfolg, diese Platte gemacht zu haben. Dass sie genauso auf die Welt kommen darf, wie ich es wollte und geplante habe, macht mich sehr, sehr zufrieden.
Als Mensch ist es nochmal eine ganz andere Nummer. Dass man plötzlich ein glücklicherer Mensch wird, nur weil man eine Plattenfirma gefunden hat und endlich ein Album veröffentlichen kann, ist eine Illusion. Auch das ist mir in den letzten Jahren klar geworden. Glück zieht man nicht aus irgendeinem Erfolg, sondern aus anderen Momenten. Und die kann man nicht planen.
Trotzdem: Diesen Moment der vollkommenen Zufriedenheit und Glückseligkeit, den ich gerade erlebe, möchte ich so lange wie möglich konservieren und mir irgendwie erhalten. Ich weiß, das ist sauschwer, denn mein Leben schreibt sich kontinuierlich weiter – meine Musik schreibt sich kontinuierlich weiter. Da ich in meinen Songs immer das verarbeite, was ich gerade erlebe, bin ich eigentlich schon ein paar Schritte weiter. Und daher ist es auch schön, das Ganze nach sechs Jahren loszulassen.
Alina ist Musikerin und lebt in Berlin.
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Hair & Make-up: Luiza Simor / @luizasimor
Leonard Scheicher
Interview — Leonard Scheicher
Abschied vom Wilden Westen
Leonard Scheicher beschreitet als junger Boxer in „Es war einmal Indianerland“ die Täler der Liebe und die Gipfel der Ekstase. Rasend schnell und unglaublich intensiv erzählt dieses moderne Märchen vom letzten Wimpernschlag der Jugend.
18. Oktober 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Interview: Katharina Weiß, Fotos: Roberto Brundo
Wer erinnert sich noch an die erste verbotene Hausparty? Den Einbruch ins Freibad? Die besoffene Prügelei mit dem besten Kumpel? Damals, als alles nach Ausbruch schrie, dauerhaft ein erregter Seufzer auf den Lippen lag und der kleinste Kiez die größten Abenteuer bereithielt! Der Spielfilm „Es war einmal Indianerland“ hat sich zur Aufgabe gemacht, dieses Gefühl auf Leinwand zu bannen. Und wer sich mit der Hauptfigur Mauser auf den cineastischen Streifzug begibt, wird während dieses psychedelischen Großstadt-Westerns mehr als einem nostalgischen Gedanken nachhängen.
So ungewöhnlich und originell wie „Es war einmal Indianerland“ ist auch Hauptdarsteller Leonard Scheicher, der in seiner bisherigen Karriere ein bemerkenswert glückliches Händchen für bizarr-unterhaltsame Filmstoffe bewies. Er verbringt mit uns den letzten schönen Herbsttag in Kreuzberg: Wir teilen heiße Schokolade, selbstgedrehte Zigaretten und jede Menge wunderbarer Jugendgeschichten. Ein Gespräch über Ekstase und Erotik, Verzweiflung und Verwandlung – ganz großes Kino eben.
Katharina:
Der Autor des Romans „Es war einmal Indianerland“, den ihr in ein cineastisches Feuerwerk verwandelt, hat sich bewundernd über die „mörderische Disziplin“ geäußert, die du an den Tag legen musstest, um der Boxer-Physis deiner Rolle gerecht zu werden. Wie hat sich diese Metamorphose vollzogen?
Ich stand schon oft vor dem Spiegel im Fitness-Studio und hatte Tränen in den Augen, weil ich dachte: Verdammt, ich kriege das nicht hin.
Leonard:
Einen Boxer zu spielen war gleichzeitig Traum und Herausforderung. İlker Çatak, der Regisseur, meint, wir müssten andere Filme machen und neu erzählen! Er denkt groß und eigen, und da hatte ich so Lust drauf! Diese Rolle musste ich unbedingt spielen. Also bin ich vor dem Casting zum Boxtraining gegangen und habe mich im Fitnessstudio angemeldet. Als ich die Rolle dann bekam, war klar: Ich höre jetzt auf zu rauchen und zu trinken. Ich trainiere wirklich sechsmal die Woche, gehe zum Boxen und Gewichtheben. Ich bin normalerweise ja eher ein Strich in der Landschaft. Ohne eiserne Disziplin wäre das nicht möglich gewesen – einige Fitness Coaches meinten zuvor sogar, es sei unmöglich, diese Verwandlung in vier Monaten hinzubekommen… Da gibt es auch stille Momente der Verzweiflung. Wenn dir Mal wieder einer sagt: „Du schaffst das nicht.“ Ich stand schon oft vor dem Spiegel im Fitness-Studio und hatte Tränen in den Augen, weil ich dachte: Verdammt, ich kriege das nicht hin.
Katharina:
Welcher Verzicht war am härtesten?
Leonard:
Süßigkeiten! Crêpes und Croissants… Es ist ein sehr einsames Leben: Du stehst auf, isst, gehst zum Trai-ning, dann kaufst du ein, um das richtige Essen im Kühlschrank zu haben, und gehst früh schlafen. Es war unbedingt notwendig für mich, durch diese Veränderung des Körpers auch der Rolle näherzukommen. Ich wollte, dass man meiner Figur, dem Mauser, abnimmt, Sportler zu sein. Er sollte kein aufgepumptes Viech, sondern ein drahtiger Boxer in meiner Gewichtsklasse werden. Als ich dann die ersten deutlichen Erfolge sehen konnte, hat es sich auch total verändert, wie ich durch die Straßen gehe – man geht auf Konfrontationen anders ein.
Katharina:
Hast du dich geprügelt in dieser Zeit?
Leonard:
Nein, aber das Selbstbewusstsein wächst! Man weiß, dass man sich notfalls wehren kann… Ähnlich wie beim Schauspiel geht es viel um Räume: Wann und wie betrete ich den des anderen – und wie kann ich Reaktionen vorhersehen?
Katharina:
Hast du dich dann auch als #gymboy auf Instagram profiliert?
Leonard:
Instagram habe ich gar nicht. Diese Social Media-Technik hatte ich noch nie so raus. Aber natürlich konnte ich da jede Menge spannender Leute im Fitnessstudio beobachten. Zum Beispiel die eine Jungs-Gang mit den aufgepumpten Armen, die Freitagabend direkt vom Gewichtheben in den Club gehen. Ich hab’ meine Verwandlung dann eher im Privaten mit Stolz hergezeigt. Von diesem harten täglichen Training ist aber nach Drehschluss nicht viel übrig geblieben. So schnell die Muskeln da sind, so schnell sind sie auch wieder weg. Und abseits der Rolle genieße ich ein ungeplantes Leben viel zu sehr!
Zu Mauser passt am besten der Satz, mit dem er sich auch im Film beschreibt: »Da, wo ich herkomme, ist ein Wort ein Wort.«
Katharina:
Deine Figur Mauser verliebt sich in die wunderschöne und wohlstandsverwahrloste Jackie. Deine Schauspielkollegin Emilia Schule beschreibt sich im Film als „eitel, zickig und unkeusch“ – mit welchen drei Worten würdest du dich vorstellen?
Leonard:
Privat? Ehrlich, offen und zurückhaltend. Zu Mauser passt am besten der Satz, mit dem er sich auch im Film beschreibt: „Da, wo ich herkomme, ist ein Wort ein Wort.“
Katharina:
Mauser wird im Buch und im Film von einem stillen Indianer verfolgt – ein erzählerisches Sinnbild, das Mausers abstrakte Seelenlandschaft einfängt. Welcher Indianer verfolgt dich?
Leonard:
Das Bauchgefühl. Bei mir hat das was mit großem Wollen zu tun, das begleitet mich ständig. Für jede Figur entwickle ich zum Beispiel ganz am Anfang eine Idee – die verfolge ich dann mit dem vollen Risiko, nie zu wissen, ob diese Idee am Ende aufgeht.
Katharina:
Deine Figur macht am Anfang des Film etwas sehr aufregendes: Mauser ritzt sich die Handynummer seines neuen Schwarms Jackie in den Handrücken. Hast du schon mal etwas ganz Verrücktes für die Liebe gemacht?
Leonard:
Ich war eher so der Typ, der Gedichte geschrieben hat. Deswegen hat mich diese Arbeit auch so erfüllt: Dieses große Suchen „Wo ist Mauser in mir?“ war wahnsinnig spannend.
Katharina:
Spannend ist auch die Filmbeziehung zwischen dir und Kumpel Kondor – hattest du ebenfalls so draufgängerische Freunde, die dich in verbotene Abenteuer hineingezogen haben?
Leonard:
Wilde Freundschaften, in denen man sich behaupten muss? Ich erinnere mich an einen… der war älter und auch im Fußballverein – das alles war ganz schön ellenbogig. Er hatte schon Erfahrung mit Sexualität und diesen Dingen, im Gegensatz zu ihm sahen wir anderen ganz klein aus. So einem will man daher immer wieder genügen und beweisen, dass man auch cool ist. Obwohl einem die ganze Zeit bewusst wird, wie klein und süß man eigentlich noch ist.
Aber so einen ganz extremen Typ wie Kondor kannte ich nicht, den gab’s in meinem Umfeld einfach nicht. Allerdings habe ich mich oft von Mädchen mitreißen lassen, so wie es im Film der Figur Mauser mit der unnahbaren Jackie passiert. Ich glaube, jeder hat in seinem Leben eine Jackie – oder einen James!
Damals war ich oft verliebt in solche Mädchen wie Jackie – ich war aber natürlich viel zu schüchtern.
Katharina:
Hach, der eine „Bad Ass“-Typ aus der Parallelschule… Aber zehn Jahre später denkt man sich oft: Jetzt, wo er nicht mehr so unerreichbar ist, ist er nicht mehr so begehrenswert.
Leonard:
Später im Leben drehen sich diese Dynamiken meistens um, da ändert sich nochmal ganz viel. Damals war ich oft verliebt in solche Mädchen wie Jackie – ich war aber natürlich viel zu schüchtern.
Katharina:
Erinnerst du dich noch an den Geruch des ersten großen Party-Verliebtseins?
Leonard:
Ja, es hat unfassbar nach Wodka Bull gerochen. Und man hatte den Shisha-Rauch noch in der Nase, es lief Chartmucke…
Katharina:
…und der Raum war erfüllt von süßlichem Mädchendeo.
Leonard:
Uhja, auf jeden Fall!
Katharina:
Das Zitat „Mädchen riechen gut“ zieht sich ja auch durch den Film – für Mauser einfach der Geruch von Abenteuer. Ein bisschen hat mich die Wild-West-Thematik von „Es war einmal Indianerland“ daran erinnert, dass man in der Pubertät unerschlossenes Land betritt – und erobert.
Leonard:
Für mich liegt die Betonung des Filmtitels eher auf „Es war einmal“. Es geht um den Moment, in dem man den wilden Westen und die Spielzeuglandschaft hinter dich lässt. Das Indianerland ist vorbei, jetzt beginnt so langsam das Erwachsenwerden.
Die Abizeit – mein Gott, war das schön! So sorglos, so behütet und doch so wild.
Katharina:
Erinnerst du dich noch an die Phase, als du angefangen hast, der Jugend hinterher zu trauern?
Leonard:
Das passiert ziemlich oft. Vor allem, wenn ich in München alte Leute aus der Schulzeit treffe und wir gemeinsam an die Abizeit denken. Mein Gott, war das schön! So sorglos, so behütet und doch so wild. Danach bin ich ja nach Berlin an die Schauspielschule gegangen – und musste schon Steuererklärungen machen!
Katharina:
Wie es der Zufall will, habe ich bisher alle deine Filme gesehen. Von „Die Quellen des Lebens“ über „Finsterworld“ und „Das Romeo-Prinzip“ hast du ein eigenartig glückliches Händchen für deine Rollenauswahl bewiesen – alle sehr ungewöhnliche und einzigartige Filme, die ein sehr spezielles Bild des neuen deutschen Humors zeichnen. Wie hast du es als junger Darsteller geschafft, um die klischeehaften Brötchen-Jobs herumzukommen?
Leonard:
Zum einen hatte ich Glück, von Anfang an für solch große Produktionen spielen zu dürfen, zum anderen liegt es an der Auswahl: Zu welchen Castings geht man und zu welchen nicht. Ich habe öfter Nein gesagt – weil ich mich nur für Dinge engagieren kann, die mich wirklich interessieren. Ich habe ja auch noch keine Verpflichtungen anderen gegenüber, muss keine Familie ernähren und kann daher freier wählen. Als ich nach meinen ersten beiden Filmen und dem Schulabschluss von Bayern nach Berlin gezogen bin, um an der Hochschule Ernst Busch Schauspiel zu studieren, hatte ich auch eine Zeit, in der ich mich ausschließlich auf das Theater konzentrieren konnte. Ich hatte nur dort vorgesprochen – mein Alternativplan wäre Wasserbauingenieur gewesen. Ich wollte Brunnen in Afrika bauen und Flüsse begradigen.
Katharina:
Kannst du dich mit dem extrem schrägen, morbiden Humor dieser Filme identifizieren?
Leonard:
Ja, tatsächlich. Trocken und irgendwie vielleicht auch intellektuell, diese Art von Humor mag ich besonders. Aber ich stehe auch auf solche Witze wie: „Zwei Eier im Kühlschrank, sagt das eine: Boah, rasier’ dich mal! Darauf das andere: Ich bin ’ne Kiwi, du Idiot!“
Katharina:
Gerade dein erster Film – „Die Quellen des Lebens“ – hatte einen außergewöhnlichen Cast, dort traf sich das „Who is Who“ der deutschen Schauspielszene. Wie war es damals, als absoluter Anfänger so einen Start zu erleben?
Leonard:
Moritz Bleibtreu spielte meinen Vater, Jürgen Vogel meinen Großvater, Meret Becker meine Oma – das war schon echt ein Traum. Ich weiß auch noch: Bei meinem zweiten Casting bei Oskar Roehler wollte ich ein Autogramm von ihm haben. Er ist auf die wunderbarste Weise verrückt.
Katharina:
Du siehst in jedem Film grundverschieden aus – eine Wandlungsfähigkeit, die gute Schauspieler auszeichnet. Spielst du auch im Privaten gerne mit verschiedenen Rollen und Accessoires?
Leonard:
Überhaupt nicht. Ich hab nicht viele Klamotten – und die trage ich, bis sie zerschlissen sind. Ich sehe eigentlich immer gleich aus.
Katharina:
Aber ein paar Fashion-Jugendsünden werden doch auch bei dir dabei sein? Du kommst ja wie ich aus München, da war in unserer Pubertät „Ed Hardy“ ganz in…
Leonard:
„Ed Hardy“? Tatsächlich nicht! Ich war Indie-Rocker. Knallenge Röhrenjeans, ein Katzenshirt und darüber ein zu kurzes Jackett. In diesem Outfit bin ich zur Schulzeit oft mit einem Kumpel nach Berlin gefahren. Und dann sind wir in den „Bang Bang Club“ gegangen, der war damals am Hackeschen Markt unter der S-Bahn-Brücke. Da kam man schon mit 16 Jahren rein, für zwei Euro – was für einen Münchner der Wahnsinn war. Und da konnten wir dann immer mit irgendwelchen Mädchen rumknutschen, das war das Höchste. Das war das Pendant zum „Atomic Café“ in München. Legendär, aber jetzt leider geschlossen. Die Erinnerungen an diese Zeit sind wie ein großer Strudel und nicht linear erzählbar. Genau das wollten wir auch mit „Es war einmal Indianerland“ umsetzen. Der Film hat bewusst keine klassische Zeitstruktur, weil sich auch die Jugend nicht chronologisch erzählen lässt.
Ekstatisches Arbeiten. Verzweifeln und dann doch unfassbar befriedigt sein, bis man nach der Vorstellung ein Lob bekommt und ganz kurz denkt: Yeah, ich bin der Größte!
Katharina:
Was waren für dich als Jugendlicher Momente absoluter Ekstase?
Leonard:
Zum einen: Die ersten Male tanzen gehen, mit allem was dazugehört. Zum anderen: Auf der Bühne sein, dass empfand ich immer wie einen Rausch. Bis spät in die Nacht arbeiten, oft an eigenen Sachen, viel reden, viel trinken… und dann völlig verschlafen in der Schulbank sitzen, um nachmittags wieder zur Probe zu gehen um mit ganz vielen Freunden ein Stück auf die Beine zu kriegen. Ekstatisches Arbeiten. Verzweifeln und dann doch unfassbar befriedigt sein, bis man nach der Vorstellung ein Lob bekommt und ganz kurz denkt: Yeah, ich bin der Größte! Aber man erlebt diese Ekstase in der Gemeinschaft, das ist ganz besonders.
Katharina:
In “Es war einmal Indianerland“ landet der asketische Mauser ja mehr oder weniger unfreiwillig auf diesem irren Festival. Dort probiert er eine LSD-ähnlichen Drogen und wird von Jackie in den Sog dieses Partyabenteuers gezogen. Wie erinnerst du dich an diese Szene?
Leonard:
Mauser ist ja ein eher zurückgezogener Typ. In diesem Teil der Geschichte konnte ich ihn zum ersten Mal körperlich groß spielen, theatral und extrem. Wir hatten richtige Choreografien, alles war abgefahren – vom Licht bis zu unserer Stimmung. So wie es jetzt für den Zuschauer aussieht, hat es sich auch angefühlt.
Katharina:
Damit befasst sich auch eine andere, sehr einprägsame Szene: Mauser ist im Drogenrausch und es bahnt sich ein verstörender und doch seltsam erregender Liebesakt zwischen dir und Schauspielkollegin Emilia Schüle an.
Leonard:
Für mich war das immer eine Fast-Vergewaltigung…
Katharina:
…die für mich als Zuschauerin gerade noch so im richtigen Moment aufgelöst wurde, um die Sympathien mit der Hauptfigur nicht vollkommen zu verlieren.
Die Szene enthält Gewalt, aber auch ehrliche Sexualität. Da denkt man als Zuschauer fast schon an den Reiz von BDSM.
Leonard:
Dieser Moment im Film ist sehr ambivalent: Er enthält Gewalt, aber auch ehrliche Sexualität. Da denkt man als Zuschauer fast schon an den Reiz von BDSM. Alles gedreht in einem engen Zelt, darin nur wie beide und die Kamera – sehr intensiv.
Katharina:
Dieses Netz aus Zärtlichkeit und Aggression blieb mir stark im Gedächtnis. Hat euch der Regisseur die Kamera im Zelt gelassen und gesagt: „Macht mal!“ Oder wie choreografiert man das?
Leonard:
Ein „Macht mal!“ bei solchen Szenen ist eine Katastrophe für Schauspieler. Dann wüsste man gar nicht, wohin mit sich. Wie spielt man? Oder lässt man sich von seinem Gefühl, also seinem Trieb leiten? Das wäre wirklich peinlich. Nein, nein, wir haben uns da Wochen vorher eine Choreografie überlegt und diese dann so gut wie möglich gefüllt.
Katharina:
Ihr habt ja auf dem polnischen „Garbicz Festival“ gedreht – während sich in diesem Hipsterparadies die echten Festivalbesucher ringsherum ausgelassen mit Techno und Drogen vergnügt haben. Wie wild darf man sich so einen Dreh ausmalen?
Leonard:
Es ist ein Spielplatz für Erwachsene, abseits jedes Berufsalltags – ein Ort, an dem man träumen kann. Und für mich auch das allererste Festival, auf dem ich je war. Die Umsetzung dort war zum Teil sehr anstrengend, weil sich in dem Zustand natürlich keiner filmen lassen will. Es gibt keine Spiegel dort – und wir kamen da mit Kameras an. İlker Çatak kannte aber viele, die auf dem Festival gearbeitet haben. Und der Komponist der Filmmusik, Acid Pauli, hat dort aufgelegt und ein paar Freunde mit vor die Kamera geschleppt.
Katharina:
Und wie ging es nach Drehschluss weiter?
Leonard:
Was auf dem „Garbicz“ passiert, bleibt auf dem „Garbicz“. Aus unserer kleinen Crew ist so eine eingeschworene Gemeinschaft geworden – wir hatten eine super Zeit!
Katharina:
Was steht bei dir gerade an?
Leonard:
Als nächstes kommt „Macht euch keine Sorgen“: Ein Film über einen jungen Mann, der in den „Heiligen Krieg“ des IS zieht. Sein Vater und sein älterer Bruder, verkörpert von mir, reisen ihm nach, um ihn zurückzuholen. Dafür haben wir auch eine Woche in Palästina gedreht. Ein Land, umgeben von Stacheldrahtzäunen und einer neun Meter hohen Mauer. Man sieht den anderen gar nicht mehr – ein wahnsinnig eindringliches Erlebnis.
Katharina:
Mit der Geschichte einer Mauer beschäftigt sich auch dein zweites neues Projekt „Das schweigende Klassenzimmer“.
Leonard:
Der Film handelt von einer Schulklasse 1956 in Storkow. Junge Abiturienten hören auf einem Westsender, wie brutal der Aufstand in Ungarn niedergeschlagen wurde. Daraufhin hält diese Klasse während des Unterrichts eine Schweigeminute ab und gerät dadurch in die Mühlen des Stasi-Systems. Wir erzählen die Geschichte, wie diese Klasse gegen alle Erpressungsversuche zusammenhält.
Bei dem gegenwärtigen Rechtsruck ist es unbedingt nötig, sich ständig zu informieren.
Katharina:
Bist du politisch interessiert?
Leonard:
Ich versuche es zu sein. Ich bin nicht damit aufgewachsen, aber bei dem gegenwärtigen Rechtsruck ist es unbedingt nötig, sich ständig zu informieren. Ich bewundere auch Künstler, die da direkt Stellung beziehen.
Katharina:
Und welche Künstler bewunderst du aus schauspielerischer Sicht am meisten?
Leonard:
Ein sehr extremes Spiel fasziniert mich. Das können oftmals und besonders die Schauspieler, die vom Theater kommen. Einige Zuschauer empfinden das als unglaubwürdig, aber für mich hat das eine Virtuosität, die mich unglaublich begeistert. Auf der anderen Seite schätze ich Unmittelbarkeit – direkt, natürlich, locker. Letzteres können vor allem die Amerikaner: Immer aus der Hüfte, das begeistert mich sehr.
Katharina:
Die Amerikaner haben jetzt mit dem „Harvey Weinstein-Skandal“ ein ganz schönes Branchenproblem aufgedeckt. Wäre so etwas hier in Deutschland auch möglich?
Leonard:
Ja, davon bin ich überzeugt. Auch wenn ich als Mann weniger damit konfrontiert werde: Diese Zeichen von Machtausübung und was man mit Macht alles anstellen kann, durchdringen jeden Bereich der Gesellschaft.
Katharina:
Wo wir gerade bei den Schattenseiten der menschlichen Seele angelangt sind: In „Es war einmal Indianerland“ passiert ein Mord – neben den zwei Boxkämpfen ein weiterer stilistischer Kniff. Wie muss man mit dem Stilmittel Gewalt in so einem Film umgehen?
Leonard:
Wir arbeiten da eher mit Andeutungen, die Gewalt ist nicht so bildlich wie bei „Game of Thrones“. Zeigen durch Verbergen: Ein altbewährtes Stilmittel der Kunst, das zwar intellektuell fordert, aber auch Projektionsflächen für den Zuschauer eröffnet. Hier verbinden sich Fantasie und Fallhöhe.
Leonard Scheicher ist 25 Jahre alt, Schauspieler und lebt in Berlin.
Aaron Hilmer
Interview — Aaron Hilmer
Spiel mit Extremen
Der Hamburger Schauspieler Aaron Hilmer gilt im deutschen Film als Spezialist für die Rollen markanter Underdogs, zuletzt war er im Kino als ultrareligiös erzogener Teenager zu sehen. Im Interview verrät uns der 18-Jährige, wie er sich am Set in Ekstase versetzt, warum er keine Angst vor dem Erwachsenwerden hat und wieso seine Generation alles andere als unpolitisch ist.
9. Oktober 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke
Als Oliver Hörr vor etlichen Jahren nach Hamburg zog, wollte er sich nicht so recht wohlfühlen in der Stadt. Irgendetwas fehlte ihm. Der 49-Jährige, der im Laufe seines Lebens die ganze Welt bereist hatte, hätte sich eigentlich pudelwohl fühlen müssen hier in Hamburg, dem sogenannten Tor zur Welt, mit all den aufregend-anrüchigen Bars, Clubs und Etablissements, in die seit Jahrzehnten, ja seit Jahrhunderten jeder einkehrt, der aus der kleinen und der großen Welt mal eben zu Besuch ist.
Hamburg versteht es auf besondere Art, den Besuchern und Zugezogenen seinen ganz eigenen, in Lokalkolorit getauchten Stempel aufzudrücken: auf der Reeperbahn versacken, Fischbrötchen essen, Anker tätowieren. Aber umgekehrt? Was, wenn die Stadt nicht zum eigenen Stil, zum eigenen Leben passt? Was, wenn es keinen Ort gibt, an dem man sich richtig wohlfühlt, wenn man abends seine Freunde auf ein Getränk treffen will?
Für Oliver lag die Lösung auf der Hand: Wenn es einen solchen Ort nicht gibt, muss man ihn schaffen. Und so entstand vor wenigen Jahren in der Steinstraße der Central Congress – eine Bar, die so ganz anders ist als das, was man vor Augen hat, wenn man an Hamburg und Nachtleben denkt. Mit klar gezeichneten Stühlen und Tischen, die wie in einem Konferenzsaal arrangiert sind, und holzvertäfelten Wänden lässt die Bar die zurückhaltende Eleganz aus Zeiten der Bonner Republik wiederauferstehen. Stilvoller kann man die Sachlichkeit der 1960er Jahre nicht inszenieren.
Hier im Central Congress haben wir uns heute mit dem Hamburger Schauspieler Aaron Hilmer verabredet. Zuletzt war der 18-Jährige im Kinofilm Einsamkeit und Sex und Mitleid von Regisseur Lars Montag zu sehen, in dem er einen verschüchterten jungen Mann namens Johnny spielt. Davor hatte er als Kleinkrimineller einen schlagkräftigen Auftritt im Berliner Tatort und spielte an der Seite von Frederick Lau in der Komödie „Schrotten!“. Drei Charaktere, die sich irgendwie nicht damit abfinden wollen, dass ihre Umwelt von ihnen eine gewisse Anpassung verlangt. Passt ja eigentlich ganz gut, hier im Central Congress. Also auf zur Konferenz mit Aaron Hilmer!
Jonas:
In „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ hast du die Rolle des Johnny übernommen, der in einer sektenartigen Religionsgemeinschaft aufgewachsen ist und unter der autoritären Herrschaft seiner Mutter leidet. Was hast du für diesen Charakter empfunden, als du dich mit dem Drehbuch befasst hast?
Aaron:
Johnny war mir viel näher, als ich vermutet hätte – diese Nähe ist bereits beim allerersten Lesen entstanden. Ich habe ihn als einen wahnsinnig liebevollen, aber gebrochenen Charakter wahrgenommen und großes Mitleid empfunden. Dieser Figur steht meiner Meinung nach der Part „Mitleid“ am meisten zu. „Sex“ natürlich auch, aber hauptsächlich „Mitleid“.
Johnny ist eigentlich ein richtig guter Kerl und total harmlos, er hat sein Herz am rechten Fleck. Leider ist sein Leben komplett von den Umständen geformt, in denen er aufgewachsen ist. Dadurch steht er im Zwiespalt mit sich selbst: Auf der einen Seite versucht er, die Regeln der Sekte einzuhalten – Sexualität gilt als große Sünde. Auf der anderen Seite ist er ein ganz normaler Jugendlicher, der sich für Mädchen interessiert und sich ausprobieren und endlich Sex haben will. Irgendwo dazwischen versucht er sich zu finden.
Bei jemandem, der mir im echten Leben begegnet, kann ich nicht erahnen, welche Hintergründe, welche Abgründe er hat.
Jonas:
Wenn du in der Realität, beispielweise in der Schule, einem Menschen wie Johnny begegnet wärst, wäre da eine ähnliche Nähe entstanden? Hättest du für ihn dasselbe Maß an Mitleid empfunden?
Aaron:
Nein, ich glaube nicht. Wenn ich so einen Menschen im echten Leben getroffen hätte, wäre er mir wahrscheinlich nicht so nah gewesen wie Johnny. Und ich hätte weniger Mitleid gehabt. Das liegt aber daran, dass mir das Drehbuch des Films gleich auch die gesamten Lebensumstände von Johnny mitgeliefert hat – das passiert in der Realität eher selten. Bei jemandem, der mir im echten Leben begegnet, kann ich normalerweise nicht erahnen, welche Hintergründe, welche Abgründe er hat. Plakativ gesagt: Ich würde immer nur einen Johnny sehen, bei dem ich nichts von der grauenvollen Mutter oder der Sekte wüsste.
Ganz allgemein bin ich aber jemand, der andere Menschen gerne dazu anregt, aus sich herauszukommen – in der Schule, im Freundeskreis, wo auch immer. Die Hintergründe der Leute spielen da zuerst einmal keine Rolle, man kann sie einfach wegfallen lassen.
Jonas:
Im Leben des Johnny ist alles verboten, was für andere alltäglich ist: Liebe, Sex, Ausgelassenheit, Freiheit, Individualität. Das ist fast so, als wäre es einem untersagt zu atmen. Wie hast du dich auf eine Rolle vorbereitet, der jede Selbstverständlichkeit eines normalen Lebens fremd ist?
Aaron:
Ich mache mir im Vorfeld eher wenige Gedanken darüber, wie ich so eine Rolle konkret angehen kann. Wenn ich spiele, bin ich sehr impulsiv und lasse mich von meinem Instinkt leiten. Ich komme dann in eine Art Tunnel und höre auf zu denken. Das klappt natürlich nur, wenn ich in meinem Text sicher bin und den Charakter, den ich spiele, verinnerlicht habe. Anhand der Fakten, die mir das Drehbuch liefert, versuche ich nachzuvollziehen, wie es der Figur in der entsprechenden Situation gehen muss. Und dann setze ich mir diesen Charakter Stück für Stück zusammen.
Was mir speziell bei Johnny sehr geholfen hat, war seine Körperhaltung: Er steht nie aufrecht, ist in sich zusammengesackt, verspannt und verängstigt. Alleine mit dieser Körperlichkeit kann man den Charakter sehr gut erzählen.
Als ich das gespielt habe, war ich mit meinen Gefühlen irgendwo ganz anders.
Jonas:
Durch seinen inneren Kampf wird Johnny letztendlich dazu gebracht, sich auszupeitschen, um sich für seine „sündigen Gedanken“ zu bestrafen. Dabei gerät er in einen Modus irgendwo zwischen Fanatismus und Ekstase. Hast du dich bei dieser Szene ebenfalls von deinem Instinkt leiten lassen?
Aaron:
Als ich das gespielt habe, war ich mit meinen Gefühlen irgendwo ganz anders. Das war ein echtes Erlebnis! Ich liebe diese Momente, in denen man emotional ganz aus sich heraustritt und sich in seinem Spiel in eine Art Ekstase begibt. Das Schwierige dabei ist, trotzdem die Kontrolle über seine Technik zu behalten, um das, was man gerade tut, irgendwie lenken zu können. Das ist ein echter Balanceakt – und war bei Johnny eine große Herausforderung.
Jonas:
Wie war das erste Treffen mit Regisseur Lars Montag? Hattet ihr beide eine ähnliche Vorstellung von der Rolle?
Aaron:
Ich glaube, bei diesem Charakter gab es für mich gar nicht so viel Spielraum – was in Johnnys Leben passiert, ist dafür einfach zu eindeutig. Ohnehin war es auch nicht so, dass mir Lars zuerst erzählt hat, wie er sich die Figur vorstellt, und ich dann meine Gedanken dazu präsentiert habe. Das war eher ein Prozess. Johnny ist Stück für Stück entstanden und mit jeder Idee gewachsen, die dazukam.
Jonas:
Johnny scheint im Film die einzige Figur zu sein, die ein reines Herz hat – er ist der Einzige, der keine Schuld daran hat, dass er so ist, wie er ist. Allen anderen Charakteren haftet irgendein selbst verursachter Makel an, weil sie sich falsch verhalten oder eine Tat begangen haben.
Aaron:
Er ist auch eine der wenigen Figuren, die sich über den Film stark entwickeln. Neben ihm gelingt das nur Robert Pfennig – dem Vater des Mädchens, in das sich Johnny verliebt. Robert wird übrigens gespielt von Rainer Bock, den ich wirklich sehr bewundere. Die anderen Figuren, beispielweise die beiden Polizisten, schaffen diese große Entwicklung nicht.
Jonas:
„Einsamkeit und Sex und Mitleid“ erzählt im Großen und Ganzen die Tragik des menschlichen Lebens und beschreibt dabei Situationen, die man eher im fortgeschrittenen Erwachsenenalter als in seiner Jugend erlebt. Du selbst warst bei Drehbeginn gerade einmal 17 Jahre alt. Hat es dich beängstigt, welchen Ausblick der Film auf das Leben gibt?
Aaron:
Nein, überhaupt nicht. Jeder hat doch so seine Baustellen und wird immer wieder vor Probleme gestellt. Daher hat mich die Vorstellung auch nicht schockiert, wie es vielleicht später einmal sein könnte. So weit denke ich auch gar nicht – ich denke eher im Moment und schaue, was jetzt gerade Sache ist. Meine Mutter sagt immer, wenn mir die Dinge zu Kopf steigen: „Aaron, vertrau doch einfach mal.“ Aber auf was genau, das sagt sie nicht.
Jonas:
Was war denn bisher deine größte Baustelle?
Aaron:
Ich hatte eine lange Zeit mit einer starken Gelenkkrankheit zu tun. Und zu Hause war es auch nicht immer leicht. Aber gerade beim Schauspielen merke ich, dass solche Baustellen auch gleichzeitig ein riesiges Geschenk sein können. Ich finde, an so etwas wächst man.
Dass sich alle Figuren meistens falsch entscheiden, macht letztendlich die große Satire des Films aus.
Jonas:
Ganz abgesehen davon, dass „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ in seiner gesamten Tragik wahnsinnig lustig ist: Gibt es darüber hinaus noch etwas Positives, das du aus dem Film ziehen kannst?
Aaron:
Absolut! Der Film ermutigt ein Stück weit dazu, in seinem Leben Dinge zu tun, an die man sich sonst nicht herantrauen würde.
Jonas:
Zum Beispiel?
Aaron:
Alle Charaktere setzen sich permanent mit sich selbst auseinander – auf die verschiedensten Arten: Allen Figuren stehen etliche Optionen und Richtungen offen, die sie wählen können. Dass sie sich meistens falsch entscheiden, macht letztendlich die große Satire des Films aus, der ja unsere gesamte Gesellschaft auf überzogene Art und Weise darstellt.
Jonas:
Ist die Darstellung wirklich überzogen?
Aaron:
Nein, eigentlich nicht. Man hat sich hier und da aber definitiv auch Extreme herausgesucht.
Jonas:
Es gibt eine interessante Parallele in deiner noch jungen Karriere: Die Figur Johnny ist sehr stark vom Thema Liebe getrieben und agiert auch dementsprechend. Dasselbe Motiv charakterisiert eine ganz andere Rolle, in der man dich vor einigen Monaten sehen konnte: Im Berliner Tatort „Amour Fou“ spielst du Stipe Rajic, einen Teenager, dessen Handlungen im Wesentlichen dadurch bestimmt sind, dass er unglücklich in ein Mädchen verliebt ist.
Egal woher man kommt, egal wer man ist: Am Ende geht es immer nur um ein Stück Anerkennung und Liebe.
Aaron:
Stimmt. Johnny und Stipe – beide haben eigentlich ein gutes Herz. Beide suchen nach einem Platz, an den sie hingehören, beide suchen die Liebe. Wir alle suchen doch die Liebe! Egal woher man kommt, egal wer man ist: Am Ende geht es immer nur um ein Stück Anerkennung und Liebe. Zwischen beiden Figuren gibt es allerdings einen entscheidenden Unterschied: Während Johnny eher verschüchtert ist und keiner Fliege etwas antut, ist Stipe getrieben von Wut, Aggressionen und Vorurteilen.
Für mich geht es bei der Schauspielerei darum, Missstände aufzudecken und gewissen Problemen eine Bühne zu geben.
Jonas:
Auch „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ dreht sich um Vorurteile und gesellschaftliche Konventionen, beispielweise bei den Vorbehalten der Polizisten gegenüber dem jungen Migranten Mahmud oder den aus der Luft gegriffenen Vergewaltigungsvorwürfen des Mädchens gegenüber dem Lehrer. Ist es dir als Schauspieler generell wichtig, an Projekten mitzuwirken, die gesellschaftsrelevante Themen behandeln?
Aaron:
Klar, darum geht’s doch! Ich will nicht sterben, ohne dass ich auf dieser Welt irgendetwas verändert oder hinterlassen habe, ohne dass ich irgendetwas Sinnvolles gemacht habe. Für mich geht es bei der Schauspielerei darum, Missstände aufzudecken und gewissen Problemen eine Bühne zu geben. Daher war es für mich auch eine riesige Ehre, einen Charakter wie Johnny spielen zu dürfen – eine Figur, die einen berührt und in gewisser Weise auch schockt. Wenn man sich mit einer solchen Rolle befasst, erweitert man die eigene Toleranz. Aber man fragt sich auch: Was gibt es nur alles auf dieser Welt?
Ich weiß, dass ich noch lange nicht in der Lage bin, mir aussuchen zu können, was ich machen will und was nicht. Aber wenn mich ein Drehbuch nicht interessiert oder ich mir absolut nicht vorstellen kann, bei einem Projekt mitzuwirken, dann sage ich ab. Es gibt gewisse Formate, die so inhaltslos sind, dass ich das einfach nicht machen kann. Man will mit seiner Arbeit ja auch etwas verändern, etwas anstoßen, die Leute dazu bringen, über etwas nachzudenken. Wenn die Rolle – oder das gesamte Projekt – das nicht hergibt, dann ist es für mich sinnlos, da mitzumachen. So etwas gibt es ja auch schon zur Genüge. Man muss nur mal am frühen Nachmittag den Fernseher anschalten – was da so läuft: Halleluja!
Jonas:
Oder freitagabends, wenn auf Tele5 die „SchleFaZ“ laufen.
Aaron:
Wie bitte?
Jonas:
Die „SchleFaZ“ – die schlechtesten Filme aller Zeiten. Der Sender Tele5 hat daraus ein Format gemacht: Jeden Freitagabend präsentieren Oliver Kalkofe und Peter Rütten die schlechtesten Filme, die ihnen in die Hände geraten sind, und kommentieren sie fortlaufend. Da willst du als Schauspieler nicht landen.
Aaron (grinst):
Wieso? Gerade das wäre doch wieder witzig.
Jonas:
Durch die Filme, in denen du mitspielst, lernt man immer wieder außergewöhnliche Vornamen kennen: Johnny, Stipe oder Kamelle – so heißt deine Rolle in Max Zähles Film „Schrotten!“ aus dem Jahr 2016. Alles Underdogs. Es scheint, als hättest du einen leichten Hang zu diesen sehr speziellen Charakteren.
Aaron:
Ja, für mich ist es auch ein riesiges Glück, dass ich immer wieder solche Extreme spielen darf. Ich liebe Extreme, im Film wie im echten Leben.
Jonas:
Und wo suchst du Extreme im echten Leben?
Aaron:
Beim Feiern! Da geht die eine oder andere Nacht schonmal bis zum nächsten Morgen. Ansonsten beim Sport. Ich mache zwar nicht wahnsinnig viel Sport, aber wenn ich etwas tue, dann spüre ich eine übertriebene Energie in mir, die plötzlich da ist und die mich über meine Grenzen hinausträgt.
Wenn kein Baum in der Nähe war, haben wir unsere Kletterausrüstung geholt und uns an den Balkonen abgeseilt.
Jonas:
Auf YouTube findet man einige Videos, die zeigen, wie Du bereits als kleines Kind vor er Kamera gestanden hast. Wie bist du in so jungen Jahren zur Schauspielerei gekommen?
Aaron:
Da sind wir wieder bei den Extremen: Mein Bruder und ich sind immer auf jeden Baum geklettert, den wir finden konnten. Und wenn kein Baum in der Nähe war, haben wir unsere Kletterausrüstung geholt und uns an unserem Haus an den Balkonen abgeseilt. Einer unserer Nachbarn ist ein erfahrener Kletterer, er hat uns einiges beigebracht.
Dieser Nachbar hat damals bei dem Musical „Tarzan“ als Techniker gearbeitet. Eines Tages meinte er zu mir: „Klettere doch mal bei Tarzan!“ Also bin ich zum Casting gegangen, habe eine nach der anderen Runde absolviert und war irgendwann tatsächlich Tarzan – da muss ich so um die elf, zwölf Jahre alt gewesen sein. Bevor ich aber beim Musical mitmachen durfte, musste ich ein halbes Jahr lang unter der Woche Tanz-, Gesang- und Schauspieltraining nehmen. Erst dann habe ich in den Shows den Tarzan spielen dürfen – ebenfalls ein halbes Jahr lang, bis ich rausgeflogen bin.
Jonas:
Was war passiert?
Aaron:
Ich habe ein einziges Mal meinen Einsatz verpasst und wurde deshalb rausgekickt. Meine Mutter hat zwar noch für eine Derniere, eine letzte Vorstellung, gekämpft, aber danach war’s das. Auch wenn ich nicht mehr in „Tarzan“ mitspielen konnte, war von da an ziemlich klar, dass ich irgendetwas brauche, was mich auslastet. Schule allein hat mir scheinbar nicht gereicht, ich musste mich zusätzlich irgendwo auspowern.
Gott sei Dank kam es kurze Zeit nach „Tarzan“ zu einem weiteren Zufall: Die Ex-Freundin meines Onkel arbeitet als Produzentin an der HMS, der Hamburg Media School. Sie und ihre Kollegen haben Anfang 2012 einen jungen Darsteller für den Zehnminüter „Cowboy & Indianer“ von Jan-Gerrit Seyler gesucht. Jan ist bis heute einer meiner engsten Freunde – für mich ist er Vater, Bruder und Freund in einer Person. Demnächst werde ich sogar Patenonkel seines Kindes! Ihm habe ich so wahnsinnig viel zu verdanken…
Und dann ging’s irgendwie los. Zuerst hatte ich nur irgendwelche Minirollen, bei denen es kaum etwas zu spielen gab – beispielsweise bei der Kinderserie „Die Pfefferkörner“, bei der ich in zwei, drei kleinen Szenen mitspielen durfte. Komparse mit Text sozusagen. Seit etwa drei Jahren kann ich endlich auch größere Rollen übernehmen und damit die Filme ein Stück weit mitgestalten.
Jonas:
Die Fernsehserie „Die Pfefferkörner“ gibt es seit fast 20 Jahren und wirkt wie Durchlauferhitzer: Etliche deutsche Jungschauspielerinnen und Jungschauspieler haben dort ihre Karrieren gestartet.
Aaron (grinst):
Stimmt, „Die Pfefferkörner“ macht irgendwie jeder.
Jonas:
Was kann man dort lernen?
Aaron:
Schauspielerisch kann man da nicht so viel mitnehmen. Aber man lernt die technischen Abläufe beim Film. Und mir persönlich haben „Die Pfefferkörner“ etwas mitgegeben, was mir heute noch hilft: Diese erste Fernseherfahrung hat mir einen Teil der Aufregung vor der Kamera genommen. Von da an war alles, was an einem Set passiert, etwas gewohnter für mich.
Jonas:
Spielt Aufregung für dich überhaupt noch eine Rolle? Du wirkst sehr abgeklärt, sowohl im Film als auch gerade jetzt im persönlichen Gespräch.
Aaron:
Ich bin vor jedem neuen Projekt aufgeregt. Und ich finde, es ist auch gut, eine gesunde Aufregung zu spüren. Oder ist es eher Vorfreude? Ich weiß nicht.
Jonas:
A propos Aufregung: Ich bin auf ein Zitat des Protestforschers Simon Teune aus der Süddeutschen Zeitung gestoßen, das Du Mitte Juli – kurz nach dem G20-Gipfel in Hamburg – auf Facebook geteilt hast: „Das Konzept heißt: die Demonstration zulassen, ihr Raum geben, kleinere Verstöße ignorieren. Vor allem muss das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gewährleistet werden. Wenn man versammlungsfeindlich agiert, verhärtet das die Fronten.“ Wie hast du diese Tage in deiner Heimatstadt Hamburg erlebt? Und welchen Blick hast du heute darauf?
Ich verstehe ja, dass viele Menschen das Gefühl haben, nicht gehört zu werden, aber Gewalt ist das falsche Mittel. Immer!
Aaron:
Das ist sehr schwer zu sagen, die gesamte G20-Zeit hatte zu viele Facetten. Auf der einen Seite gab es Menschen, die der Meinung waren, sie würden irgendetwas ändern, wenn sie Hamburg zerstören würden. Auf der anderen Seite konnte man wunderschöne Aktionen erleben – Proteste, die mehr eine Feier waren und bei denen die Kreativität im Vordergrund stand.
Mein Fazit daher, gerade auch zu den Gewaltausbrüchen, die es auf beiden Seiten gab, sprich bei den Demonstranten wie bei der Polizei: ein absoluter Wahnsinn! In Hamburg Krieg zu spielen, während man eigentlich für Frieden und Veränderung demonstrieren will, kann man nur als absoluten Wahnsinn beschreiben. Was soll das? Wir leben doch in einem Land, in dem man offen seine Meinung sagen kann. Ich verstehe ja, dass viele Menschen das Gefühl haben, nicht gehört zu werden, aber Gewalt ist das falsche Mittel. Immer! Wenn Leute durch Hamburg ziehen und Kleinwagen anzünden, muss man sich wirklich fragen: Leute, habt ihr eigentlich irgendwas verstanden in eurem Leben? Was ist los bei euch?
In vielem, was ich in dieser Zeit erlebt habe, habe ich absolut keinen Sinn gesehen. Vor allem weil einige Leute einfach nur Spaß daran hatten, für ein paar Stunden oder Tage ein wenig Anarchie zu zelebrieren – um danach wieder in ihr altes, normales und langweiliges Leben zurückzugehen, als wäre nichts gewesen. Zuerst ziehen sie schwarze, angsteinflößende Klamotten über und ziehen randalierend durch die Straßen. Danach laufen sie um die Ecke, ziehen die Sachen in irgendeinem Hinterhof wieder aus und werfen sie in die Mülltonne. Und plötzlich sind sie wieder die Ottos von nebenan, denen es eigentlich wunderbar geht in ihrem Leben.
Jonas:
Es soll ja Leute geben, die der jungen Generation vorwerfen, politisch eher desinteressiert zu sein. Empfindest du dich selbst eher als eine Ausnahme? Wie erlebst du die Thematisierung von Politik im Klassenzimmer, in deinem Freundeskreis?
Aaron:
Nein, ich bin keine Ausnahme. Es ist nicht so, dass wir nur konsumieren und konsumieren und konsumieren, ohne zu wissen, was hier und auf der Welt abgeht. Ganz im Gegenteil. Ich erlebe, dass alle um mich herum starke politische Meinungen haben und Position beziehen. Mein Freundeskreis ist sehr heterogen, dementsprechend ist auch die Art und Weise, wie sich meine Freunde politisch äußern, sehr unterschiedlich. Manche drücken beispielsweise ihre Meinung über Rap aus. Es ist ihre ganz eigene Art, um zu beklagen, wie ungerecht vieles ist, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Das ist ein großes Thema bei uns.
Jonas:
Bei der Bundestagswahl in diesem Jahr wirst du zum ersten Mal in deinem Leben wählen. Wie geht es dir damit?
Wenn die Leute einmal die Chance haben, durch ihre Stimme wirklich Einfluss zu nehmen, nehmen sie sie nicht wahr.
Aaron:
Ich fühle mich verpflichtet, wählen zu gehen. Ich finde es immer albern, wenn Menschen darüber meckern, dass die Politik angeblich eh nichts verändert, und sie deshalb auch nicht wählen gehen. Das ist doch grotesk: Sie beschweren sich, dass sie nicht beteiligt werden und man alles über ihre Köpfe hinweg bestimmt. Aber wenn sie einmal die Chance haben, durch ihre Stimme wirklich Einfluss zu nehmen, nehmen sie sie nicht wahr. Mein Gott, springt doch einfach mal über euren Schatten – und informiert euch vor allem! Klickt euch wenigstens mal durch den Wahl-o-mat, wenn ihr keine Orientierung habt! Ist doch eigentlich eine ganz gute Idee.
Jonas:
Orientierung – ein gutes Stichwort. Was gibt dir in deinem Leben Orientierung? Wer hilft dir, deinen Kompass auszurichten?
Aaron:
Meine Mutter – indem sie mich immer unterstützt in dem, was ich tue. Und indem sie mir Freiraum gibt. Sie akzeptiert alle Entscheidungen, die ich fälle. „Mach, was du willst.“ – das ist letztendlich auch eine Richtung. Bei meinem Vater ist das ähnlich, den sehe ich nur nicht so oft. Darüber hinaus gibt mir mein Bruder viel: Von ihm lerne ich, was teilen heißt. Und was es heißt, den Rücken gerade zu machen. Das lerne ich von ihm auf eine sehr besondere Art.
Natürlich lerne ich auch von meinen Freunden, das ist ein ständiges Geben und Nehmen. Und ich selbst gebe mir oft auch eine Richtung. Ich bin für vieles offen und probiere vieles aus. Und dabei finde ich mich – erfinde ich mich – immer wieder neu.
Jonas:
Du hast eben angesprochen, dass du Rainer Bock sehr bewunderst. Was kannst du von ihm lernen?
Aaron:
Generell fällt es mir eher schwer, die Frage zu beantworten, was ich schauspielerisch von jemandem lernen kann. Für mich gibt keine bestimmte Technik, ich tue einfach, was ich tue. Daher kann ich auch bei Rainer nicht genau sagen, was ich von ihm lernen kann.
Ich kann aber sagen, was ich an ihm mag: Rainer ist wahnsinnig fein – menschlich und in seinem Spiel. Er hat eine äußerst warme, liebevolle Ausstrahlung, die er auf seine Rollen überträgt, was wiederum sein Spiel sehr klar und spannend macht. Wie gesagt: Ich weiß nicht genau, was ich von ihm lernen kann. Aber ich schaue ihm sehr gerne zu.
Jonas:
Das ist wahrscheinlich das schönste Kompliment, das man einem Schauspieler machen kann.
Aaron (lächelt):
So war es auch gedacht.
Jonas:
Spannend zu spielen wird umso wichtiger, wenn es einen als Schauspieler in die unspannendsten und trostlosesten Gegenden verschlägt – beispielsweise auf einen entlegenen Schrottplatz in der nordwestdeutschen Provinz: Die Dreharbeiten zu „Schrotten!“ haben dich in eine Welt geworfen, die für viele absolut langweilig und nicht beachtenswert ist: irgendwo draußen auf dem Land, mitten in der Einöde, fernab vom Schuss – das Gegenteil von Hamburg sozusagen. Wie hast du diese Welt wahrgenommen?
In der Provinz sieht man immer nur dieselben Leute, abends kann man nicht um die Häuser ziehen, alles ist sehr eintönig.
Aaron:
Ich bin ganz ehrlich: Vor dem Film habe ich immer nur das Negative an der Provinz gesehen. Wir haben in der Nähe einer Kleinstadt gedreht, in der nicht nur im Film nichts los war. Dort sieht man immer nur dieselben Leute, abends kann man nicht um die Häuser ziehen, alles ist sehr eintönig. Aber während der Dreharbeiten habe ich gemerkt, dass es darum gar nicht geht – sondern um Gemeinschaft. Und um Kleinigkeiten, etwa wenn sich jemand ein neues Auto kauft und sich die gesamte Nachbarschaft für ihn freut.
Ich habe das Gefühl, dass die Menschen in einer solchen Gegend viel mehr von dem mitbekommen, was um sie herum passiert. Und dass sie die kleinen Dinge viel stärker wahrnehmen als die Leute, die in einer Großstadt wie Hamburg leben. Hier wird man ständig von allen Seiten mit Input beballert, die kleinen Dinge gehen viel zu schnell unter. Aber gerade um die geht es doch im Leben, oder?
Aaron Hilmer ist 18 Jahre alt, Schauspieler und lebt in Hamburg.
Max Löffler
Submission — Max Löffler
Eksta...was?
6. Oktober 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Illustration und Text: Max Löffler
Bin ich in meinem Leben schon einmal in Ekstase geraten? Also so richtig? Weiß ich überhaupt, was Ekstase ist? Ohne vorher die Bedeutung googeln zu müssen? Ob schon mal jemand Ekstase gegoogelt hat, während er oder sie in Ekstase war?
Weiß nicht.
Hat das was mit diesem Ecstasy zu tun? Heißt ähnlich, fühlt sich vielleicht auch ähnlich an? Oder ist das diese ominöse gute Zeit, die man immer haben muss, um Fotos davon auf Instagram hochladen zu können? Gibt es einen total nicht-ekstatischen Instagram-Account, auf dem niemand lacht? Würde ich folgen?
Weiß nicht.
Ist Ekstase dieser kleine flüchtige Moment, in dem für den Bruchteil einer Sekunde etwas Goldenes durch die Risse blitzt, und man erahnt dass es da einen unendlichen Frieden gibt, etwas das größer ist als unser welkes Fleisch – irgendwo – und man ist kurz ein Teil des bunten Treibens?
Weiß nicht.
Ist Ekstase überhaupt erstrebenswert? Wäre es nicht wünschenswert, öfter ein ekstatisches Hochgefühl zu erleben? Impliziert das unbedingte Streben nach diesem Hochgefühl, nach endlosem Spaß, ein momentan nicht so geiles Leben? Flüchtet man dann vor diesem Leben?
Weiß nicht.
Ach Ekstase, altes Haus, weiß nicht, ob ich zu dir fähig bin.
Ich hab‘ aber auch niedrigen Blutdruck. Und bin oft müde und schlecht gelaunt.
Vielleicht liegt’s daran.
Max Löffler ist 28 Jahre alt, lebt in Aschaffenburg und arbeitet als freiberuflicher Illustrator und Grafikdesigner.
www.maxloeffler.com
www.behance.net/maxloeffler
@haxloeffler
Ariel Pink
Interview — Ariel Pink
Forever Five Years Old
Whether he is seen as a misunderstood genius or a controversial artist, LA-based Ariel Pink is undefinable. We navigate through his fascinating mind and enter a domain filled with random rants, music, and the constant battle of having to explain yourself.
26. September 2017 — MYP N° 21 »Ecstasy« — Interview: Christina Heckmann, Photography: Moritz Jekat
After his last full-length release in 2014, Pom Pom, Pink is about to unveil the follow up, his 11th studio album “Dedicated to Bobby Jameson”. Having started recording on cassette tapes in his bedroom in the late 90s while attending Cal Arts he has since come a long way writing, performing, recording, and producing a great experimental body of art. Having been labeled as the godfather of chillwave, the inventor of glo-fi, Pink grew into a musician known for his weirdness and unpredictability, spinning an alternative to reality for himself and his listeners.
After signing with 4AD, the artist’s experimental style got accepted by a more mainstream following, which coincided with the media turning Pink’s often controversial interview statements into perfect clickbait. The name Ariel Pink and „meltdown“ became some sort of collocation and he seemed to achieve more coverage for something like his chaotic Coachella gig in 2011, than for an album release. Ranting about anything and everything, the media labeled him as racist, misogynist and homophobic, while Pink, being very aware of his reputation, accomplished his mission to hyperbolize his jokes as a means to offend and to agitate. Or maybe he just didn’t give a fuck. If controversy and craziness becomes what people expect from an artist, is the only way to react to embrace the opposite? Or is there just no way you can create your own identity in the musical landscape as there will always be someone else judging and depicting you in a different way than you imagined?
One might think this is one of the reasons there seems to be a certain bitterness surrounding Pink when he talks about the industry and media, and this might just be where he draws a connection to the L.A. musician Bobby Jameson, who is the name referenced in Pink’s album title. Jameson wrote his autobiography and tragic life story in a series of blogs and YouTube tirades, after having been long presumed dead. His writings are tales of troubles that came with the fall after a brief taste of success in the 70s when the musician was being hyped after recording with the Stones and Zappa. Struggling with drug and alcohol addiction, while dealing with his lack of success and searching for acceptance, Jameson spent his life being institutionalised and living in the streets. After 35 reclusive years he suddenly reemerged online to tell his story.
“His book and life resonated with me to such a degree,” Pink states, “that I felt a need to dedicate my latest record to him.” Beginning with the end and ending with the beginning, this concept album also seems to bring another shift in Ariel Pink’s musical cosmos. Having said goodbye to his old label, 4AD, he is now releasing with Brooklyn-based Indie Mexican Summer. For the creation Pink went back to where it all began: his bedroom. By simplifying the recording environment, it seems he also rediscovered the freedom of the past as well as achieving a different mindset over the years: more profound and away from the overly eccentric, but still, Pink is confidently keeping his familiar formula of following his own rules alive.
Well aware of his aversion towards interviews, we are excited but admittedly also apprehensive to meet Ariel Pink at the Michelberger hotel in Berlin. Surprisingly comfortably, we ease into a chat about false goals of fame, the power of music to evoke states of ecstasy and get a tiny insight into what the genius behind Ariel Pink, the man born Ariel Marcus Rosenberg, is all about.
Every time I end up in a corner answering the same questions about things that I didn't fucking want to talk about.
Christina:
Ariel, I have to admit I have been biting my nails in anticipation of this interview. If I trust my research sources, you’re going to hate every single second, every question, no matter how hard I am going to try. I refuse to believe that, so tell me this isn’t true.
Ariel:
I have probably done a thousand interviews in my life and I think they all say that about me afterwards. They don’t necessarily have to be bad interviews, but generally, thinking of them as interviews is where the problem begins. It automatically makes me feel like I am repeating the same things over and over again, which is very boring for me. Mostly because the questions people ask are the same. They somehow do their research to find out what questions have been asked and end up asking that very same question. No! Don’t do that! It’s already been answered! It’s exactly what they shouldn’t ask. So every time I end up in a corner answering the same questions about things that I didn’t fucking want to talk about. There is no story there. Instead, they should ask me something about astronomy or something else I’m interested in, and not ask me about animal cruelty or anything I don’t fucking want to talk about.
Christina:
Duly noted. It seems though people want to hear your opinion on absolutely everything and most of all, they want to see you react.
Ariel:
The thing is, they already know my opinion. It’s more that they want to provoke me, it’s like as if they tell a dog to bark or to jump, they want to throw me a bone and see me get mad. They just want me to go like (pretends to be angry): ‚You guys, this is fucking pissing me off, because this is what always happens in interviews.‘ So yeah, I do end up saying that every fucking time. See, now I am pissed off. (laughs)
Nobody needs to be afraid of me. I'm like a fucking human Chihuahua, the nicest guy in the world.
Christina:
Argh, damn it. I already messed it up. I can see how this gets annoying, being put on a pedestal on the one hand and on the other hand getting provoked into delivering perfect material for a clickbait article.
Ariel:
What has become clear to me is, they don’t care. It doesn’t offend me, because I don’t really want people prying into my life, therefore I am glad that they don’t care. It just seems like a massive waste of time. The thing is, they want me to make it interesting for them. They want ME to do that. I already made the record for them! Is that not enough? Why do I have to be the creative one, why don’t they create an interesting question and then it will be an interesting interview. No, everyone just wants me to do all the work. One of the interviewers today said: ‘You know Ariel, they are afraid of you.’ Nobody needs to be afraid of me. I’m like a fucking human Chihuahua, the nicest guy in the world, there is no reason to be afraid of me.
Christina:
They are all looking for that stereotype though: the damaged, fragile musician, the romanticised idea of the rock outsider. In a way you’re giving them exactly what they want.
Ariel:
It’s true! That’s me! I am totally that person! That’s why I’m an easy target too, because I get emotional about anything.
Nothing sounds more boring to me than a typical »rock story«.
Christina:
So I figured you have this strategy of diverting the conversation towards talk about your music rather than yourself. Or diverting it towards somebody else, like for example Bobby Jameson, the artist you dedicated your album to.
Ariel:
It’s the best strategy! Guess what the first question is, that everybody is asking: ‘Who is Bobby Jameson?’ If this question comes up, I just talk about it forever. They don’t get any opportunity to ask me about anything else. We won’t talk about me, which is great because I can talk about Bobby Jameson all day long and I don’t fucking want to shoot myself in the head afterwards.
Christina:
At the same time, you obviously wanted to bring attention to Bobby Jameson and his life. I didn’t know anything about this guy until I heard about your album. As soon as I looked up his blog I was captivated by his tragic story.
Ariel:
Yes, that was of course the main reason. It wasn’t because of his music to be honest, I don’t care about his work. I listened to a lot of it but I honestly don’t like it. It’s the blog I was sucked into, it spoke to me. I don’t normally enjoy reading rock autobiography anymore since high school. Nothing sounds more boring to me than a typical „rock story“. But there is something about the way Bobby writes. He is not even a real writer, he is just grabbing you by the collar, saying ‚Listen man, I’m just telling you this stuff because this is what happened.’ He is just desperately trying to explain himself to the reader.
The secret's out, the veil is lifted. Whatever mystery was there at the very beginning got fucking overexposed.
Christina:
Fortunately for him he found the internet and used it as a gateway to finally explain himself after never having had that chance before. He died two years ago, did you find out about him before or after he passed away?
Ariel:
Right after. I was surprised I never heard about him before. I know a lot about music, but I never heard about him. I checked out some songs and went to his blog and I started reading his story… If he hadn’t written it, nobody would have known any of what happened. He actually wrote the story, the artist himself wrote the facts. So now the facts are his. If he had not written the blog, he would have died and nobody would have known any of it. He just did this at the very end of his life. To me this is just so mind-blowing. Who gets to write their story, their immortality? Everybody else writes it for you. Nobody lets you fucking have that.
Christina:
He took control of something he never felt he was in control of before. How come this resonated with you so intensely?
Ariel:
He took control of his own fate in the smallest way. It affected me, as I sometimes grapple with this. I wanted to do certain things when I started. I wanted to release records and make music to escape into fantasy land. Nobody would know it’s me. I would use pictures that didn’t look like me. I felt I was in control. I would change my voice, completely make a fantasy reality, just pretend. But then all of a sudden, somebody is there snapping a shot of me in broad daylight and it’s fucking terrible. Or people see a show and the sound is awful and they go like, oh no, we did not want to see this. The secret’s out, the veil is lifted. Whatever mystery was there at the very beginning got fucking overexposed.
I wanted to be totally misunderstood. I wanted to be the worst thing ever.
Christina:
Do you wish you could have kept going like in the very beginning? Do you think there could have been a way to keep up that world?
Ariel:
The art form that I got involved with in the first place was the fantasy of the anonymity and being able to control this art form. It took me a while to learn it’s not about that, these are in fact just control issues. You have to face all these realities that you can’t control. That is a humbling experience which probably made me a better person than what I would have been otherwise. I throw myself into these things now and I am ok with it for the most part. It was very much a childish feeling that I had back then, this need to feel invisible. My identity used to be rock solid. It was me against the world. Making music was a revenge fantasy of some sort. In my mind I knew what I was doing and I was doing something nobody else had ever done. I was completely full of shit. I thought I was a total prank on the world, that’s what I wanted to be. I wanted to be totally misunderstood. I wanted to be the worst thing ever. But in the end it wasn’t any of that. Now it’s just so normal. People do it better than I do. I don’t want to own this thing.
I just don't have an identity anymore.
Christina:
You know how Bobby Jameson said that the worst addiction in his life was fame. He said he ‘lived to tell how the pursuit of fame is as deadly as any narcotic’ he has ever used. This seems to be something you learned as well, what is it about seeing your name written in papers?
Ariel:
First of all, Jameson’s whole thing was trying to get his name consistent. I was dealing with the same thing with the „Ariel Pink’s Haunted Graffiti“ issue. It still comes up! Even when I explain it to people it seems to make it worse. They want me to explain the persona „Ariel Pink“. And I am just like, come on, let me explain it to you again: there is no Ariel Pink! There is Ariel Pink’s Haunted Graffiti. I started responding to Ariel Pink because people thought of me as that. And then when I got the band they thought that band was Haunted Graffiti. But it was never a separate project. Ariel Pink’s Haunted Graffiti was a solo project. It’s as simple as that. The band is made out of players, like hey, Michael Jackson has a band too. They would have never asked him about his band, would they? My name is Ariel Rosenberg, there is no persona, that’s it. Ariel Pink is not a fantasy alter ego, it’s me as a person.
Christina:
It’s easy to see why the media latches on to those ideas though, can you really blame them?
Ariel:
No, but that’s why I basically killed of the Haunted Graffiti part, because it was just too complicated. I just thought, okay, just make it Ariel Pink. Now it’s just this. And people say, oh, he doesn’t have a band anymore… I thought I got the winning name back then, Ariel Pink’s Haunted Graffiti. With that name nobody would ever question who the boss is. My fucking name is in the title! But I took that for granted. Actually, somebody did come out of the band and said they were a founding member of that band and I got fucking sued for it. And they were gonna win because I took it all for granted. It was a humbling experience, my whole plan went to shit. I didn’t want to spend the rest of my life explaining what the band name thing was. That’s not how I envisioned how this would go when I first started out! That was not what I wanted and I didn’t have any control over it. So now I just don’t have an identity anymore. I am basically a middle aged guy and I am doing this for the money because I don’t have any other income. I don’t know how to do anything else.
Christina:
That sadly sounds like you surrendered. Is this what the music business ends up doing to you? The same as what it did to Bobby according to him?
Ariel:
No, no, not at all. I am not Bobby. Even though…
Christina:
…one might say there is a little bit of Bobby in all of us.
Ariel:
I see Bobby in me before I was discovered by the Animal Collective. Bobby is basically me before I got released on Paw Tracks. As soon as that happened I got a little bit of attention and I was like, oh, that’s it. That’s it! I was twenty-two years old and I got reviews and people acknowledged me. I thought, that’s all it was? What am I going to do now? I didn’t realize how much I was dying for acknowledgement and attention. I didn’t realize I was operating below zero and this little attention brought me to actual zero. I stopped writing every day like a maniac. I basically stopped writing songs for five years after that. Instead, I just focused on learning the songs that I had written in the years before and teaching them to the bands so we could play live, which would be the necessary step in order to get a real record deal. You need a live following for that. So that’s what I did. I focused on the live playing and I didn’t even know if I would ever write a song again.
I’d rather not do music and be happy.
Christina:
Did you need a break from it because you also didn’t enjoy doing it anymore or was this just something you felt was necessary to achieve success?
Ariel:
At that time I wasn’t inspired. I wasn’t driven, I wasn’t desperate to write. Inspiration for me was normally coming from a bad place, it was always a means to escape. In a way I am glad that I went through that stage because, honestly, I’d rather not do music and be happy. Though now, I am a lot happier knowing I can also be happy about making a song, even if it happens more infrequently. But hey, I still got it, almost 40 years old and I can still do it. (laughs)
Christina:
Writing music as a means to escape brings me to the theme of this MYP edition: Ecstasy. Important to mention, we are talking about the emotion, not that particular drug that carries the same name… Is ecstasy for you something you find when making music?
Ariel:
No, I just take Ecstasy. (laughs)
Christina:
So annoying how the word has entirely been taken over by the drug! Not SEO friendly at all. Unfortunate, as it is actually such a nice expression.
Ariel:
Yes, the actual word sounds like a crucifixion, like something sacred. E-c-s-t-a-s-y.
I wanted to revisit that old place and create that feeling that I had as a five-year-old and I wanted to stay there. Forever.
Christina:
I like to think of it as something sensual. An experience. A feeling. Letting go and being captivated at the same time. In the Ancient Greek ecstasy was apparently considered the culmination of human possibility…
Ariel:
The ecstatic. I have to tap into that topic, because that is a way that I used to write. I was always trying to recreate that feeling that I had as a five-year-old kid. That feeling of when you were younger and you listened to music and it completely possessed you and you couldn’t explain it. Those were the most amazing musical experiences I had. The older I got, sadly, the more that feeling disappeared. Maybe because I learned more about the music itself. In comparison, when I was young, I never actually learned how to play an instrument. In general, music started going into a different direction at some point. It seemed like it was moving away from emotion. Stupid empty dance music appeared. The 60s got buried, the melodies got buried, they got rid of it, people just wanted to hear fucking: (makes a simple beat noise).Where did all the juicy stuff go? I wanted to revisit that old place and create that feeling that I had as a five-year-old and I wanted to stay there. Forever. That was my plan. The big question was: What if I just stay five years old forever? Just staying with that feeling – that is what art is to me.
Anne Pretzsch
Interview — Anne Pretzsch
Momentaufnahme
Anne Pretzsch ist Performance-Künstlerin und lebt in Hamburg. Gerade war sie für zwei Wochen in Berlin, um mit geflüchteten Jugendlichen ein Theaterstück zu erarbeiten. Im Interview verrät sie uns, wie man verängstigten Teenagern neues Selbstbewusstsein gibt, was es mit dem Begriff Performance auf sich hat und warum es wichtig ist, immer wieder bei Null zu starten.
22. September 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Roberto Brundo
Ein Freitagnachmittag mitten im August. Wir stehen im Innenhof des Kreuzberger Theaters „Expedition Metropolis“ und fühlen uns wie in einem Ameisenhaufen. Um uns herum wuseln gut 30 Jugendliche plus erwachsene Betreuer, die gemeinsam eine Stimmung aus Anspannung, Nervosität und freudiger Erwartung verbreiten – Gefühle, die wohl bei allen Menschen auf der Welt aufkommen, wenn sie kurz vor der Premiere ihres eigenen Theaterstücks stehen.
Für viele der Jugendlichen hier ist es die allererste Theaterpremiere ihres Lebens. Gemeinsam mit einem zehnköpfigen Team aus Dramaturg*innen, Regisseur*innen, Musiker*innen und Pädagog*innen haben sie in den letzten zwei Wochen mehrere kleine Theaterstücke erarbeitet, die sie heute vor geladenem Publikum uraufführen – auf Deutsch. Das ist insofern bemerkenswert, da noch zwei Wochen zuvor fast keiner der Teenager überhaupt ein Wort Deutsch gesprochen hat. Viele sind erst vor kurzem nach Deutschland gekommen –mit Lebensgeschichten im Gepäck, die teilweise für uns am Rande des Vorstellbaren liegen.
Initiator dieses Theaterworkshops in den Sommerferien ist der amerikanische Komponist und Regisseur Todd Fletcher. Vor über zwanzig Jahren hat er in den USA die Organisation Plural Arts gegründet, mit der er sich der künstlerischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen widmet, die aus schwierigen Verhältnissen oder Konfliktregionen stammen. Seit 2007 gibt es „Plural Arts“ auch in Deutschland. Vor zwei Jahren – im Schicksalsjahr 2015 – hat man sich entschieden, verstärkt Projekte für und mit geflüchteten Teenagern anzubieten.
Von dieser wertvollen Arbeit hätten wir vielleicht nie erfahren, wenn wir zwei Tage zuvor nicht durch Zufall Anne Pretzsch kennengelernt hätten. Die 24-jährige Hamburgerin arbeitet als freiberufliche Performance-Künstlerin und Dramaturgin und gehört zu dem Team von professionellen Theatermachern um Todd Fletcher, die in den letzten beiden Wochen gemeinsam mit den Jugendlichen drei kleine Theaterstücke erarbeitet haben.
Eine Stunde später, die Vorstellung ist vorbei. Schon wieder stehen wir im Innenhof, schon wieder haben wir das Gefühl, uns im Zentrum eines Ameisenhaufens zu befinden – nur dass die Stimmung um uns herum eine andere ist. Die Anspannung, die noch vor einer Stunde in der Luft lag, ist großer Erleichterung gewichen. Und wo eben noch Nervosität zu spüren war, machen sich nun bei allen Beteiligten Freude, Glück und ein gewisser Stolz breit. Die Stimmung ist so ausgelassen, dass einer der Teenager kurzerhand die Soundanlage kapert und sein Smartphone mit den Boxen verbindet. Arabische Musik schallert plötzlich aus der Anlage, die Kids stürzen aus dem Innenhof zurück auf die Bühne. Was folgt, ist Ekstase pur – und ein Lehrstück für alle Tanzmuffel, wie man sich zu Musik bewegen kann.
Jonas:
Zwei intensive Wochen liegen hinter dir: Zusammen mit einem guten Dutzend Jugendlicher hast du ein Theaterstück erarbeitet. Dabei hatten diese Kids noch nie in ihrem Leben mit Theater zu tun, die meisten von ihnen sprechen kein oder nur gebrochen Deutsch. Wie geht man an so eine Mammutaufgabe heran? Wie gestaltet man den ersten Tag?
Anne:
Man startet bei Null – und lässt dann alles auf sich zukommen. Konkret bedeutet das, dass man im ersten Schritt die wichtigsten Fakten abklopft: Wie sind die Namen der Kids? Wie ist die Dynamik in ihrer Gruppe? Wie steht es um ihre Deutschkenntnisse? Über welche Fähigkeiten verfügen sie? Manche Jugendliche bringen ungeahnte Talente mit – du hast es selbst gesehen, wie gut sie beispielsweise tanzen können. Daher ist es auch zu fragen: Was tust du so in deiner Freizeit? Was beschäftigt dich, was machst du besonders gerne?
Erst im nächsten Schritt versucht man, sich dem Ganzen aus einer Theaterperspektive zu nähern und gemeinsam mit den Jugendlichen aus dem gewonnenen Wissen Texte oder Bewegungen zu erarbeiten. Dadurch haben wir für unser kleines Theaterstück relativ schnell ein gemeinsames Thema gefunden: Hoffnung.
Ich habe selbst keine Definition von Theater.
Jonas:
Versuchst du, den Jugendlichen von Anfang an eine Definition von Theater mitzugeben?
Anne:
Ich habe selbst keine Definition von Theater – Theorie spielt an dieser Stelle auch überhaupt keine Rolle. Was aber eine Rolle spielt, sind bestimmte Grundregeln, wie zum Beispiel laut zu sprechen oder nicht mit dem Rücken zum Publikum zu stehen. Das sind zwar ganz basale Verhaltensprinzipien, aber wir wollen damit den Kids zeigen, dass wir – auch wenn es hier nur um einen kleinen Ferienworkshop geht – eine gewisse professionelle Ebene schaffen wollen. Also sagen wir: Toll, dass ihr diesen Text geschrieben habt, aber jetzt geht es darum, das Erarbeitete auch gut auf die Bühne zu bringen.
Jonas:
Das Stück beginnt damit, dass einige der Darstellerinnen und Darsteller ihre Träume und Wünsche äußern. Ein Jugendlicher erzählt beispielsweise, dass er sonntags auf dem Markt als Schuhputzer arbeitet und davon träumt, Pilot zu werden. Ist diese Story fiktiv? Oder hat sie einen tatsächlichen Bezug zu der Lebensrealität des Jungen?
Teilweise hören wir dabei so krasse Lebensgeschichten und Hintergründe, die wir uns selbst im Traum nicht hätten vorstellen können.
Anne:
Dass er Pilot werden will, kann ich mir gut vorstellen – ich weiß es aber nicht definitiv. Alle Texte wurden von den Jugendlichen verfasst, ich selbst habe keinen einzigen geschrieben. Wie stark der Bezug zu ihrem eigenen Leben ist, kann ich daher auch nicht sagen.
Aber genau das ist es auch, was mir so wichtig ist: Wenn sie ihre eigenen Texte produzieren, geht es darum, einen gewissen Deutungsraum zu lassen. Ich erkläre den Jugendlichen, dass weder der Zwang besteht, ein rein biografisches Theaterstück zu entwickeln, bei dem sie ganz persönliche, intime Dinge aus ihrem Leben erzählen müssen, noch es die strikte Vorgabe gibt, dass alles ausgedacht sein muss.
Natürlich kommen auch viele mit dem Bedürfnis in die Theaterschule, etwas von sich zu zeigen und zu erzählen. Teilweise hören wir dabei so krasse Lebensgeschichten und Hintergründe, die wir uns selbst im Traum nicht hätten vorstellen können. Allerdings kann ich es im Rahmen eines zweiwöchigen Ferienworkshops gar nicht leisten, mich darum zu kümmern – alleine schon deshalb nicht, weil ich keine ausgebildete Psychologin bin. Daher vermeiden meine Kollegen und ich es auch, bei so einem Format wie der Theaterschule beispielsweise ein Stück zum Thema Krieg zu machen. Diese Verantwortung können wir einfach nicht übernehmen, schon gar nicht in zwei Wochen. Es ist sowieso fraglich, ob Theater überhaupt eine therapeutische Wirkung haben muss oder sollte. Dieser Raum ist für die Kids ja eher als eine Art Schutzraum gedacht.
Jonas:
Ich habe das nicht als ein Manko wahrgenommen, ganz im Gegenteil: Hoffnung ist ja ein zutiefst menschliches Thema, bei dem Parameter wie Herkunft, Hautfarbe oder Etnie zuerst einmal keine Rolle spielen. Im Stückt sagt ein Junge einem Mädchen, dass er sie liebt. Sie will ihn aber nicht und für den Jungen bricht eine Welt zusammen. Das ist eine Story, die an jedem Ort auf der Welt, zu jeder Zeit und in jeder Altersklasse funktioniert. Interessant war, dass eine der Liebesszenen von zwei arabischen Jungs gespielt wurde – einer der beiden hat dabei die Rolle des Mädchens übernommen. War es schwierig, die beiden für diese Konstellation zu ermutigen?
Anne:
Das war kein Vorschlag von mir, sondern von den zwei Jungs. Dem Ganzen vorausgegangen war die spaßige Idee der beiden, gemeinsam eine Szene zu spielen, die etwas mit Liebe zu tun hat. Ich glaube, dabei ging es ihnen darum, Grenzen auszutesten. Ich habe ihnen gesagt: Klar, ihr könnt das so machen. Aber wenn ihr das durchzieht, darf es auf der Bühne kein Lachen oder Gekicher geben. Diese Szene muss genauso ernst genommen werden wie jede andere auch.
Jonas:
Du hattest es in den letzten zwei Wochen mit einer regelrechten Rasselbande zu tun. Kannst du bei so einer großen Gruppe und in der kurzen Zeit überhaupt irgendwelche Entwicklungen bei den Jugendlichen erkennen?
Die Jugendlichen haben ein gewisses Bewusstsein für Bühnenpräsenz entwickelt, was sich wiederum positiv auf ihr Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl auswirkt.
Anne:
Für meine Begriffe sind es unglaubliche Fortschritte, die die Jugendlichen in nur zwei Wochen gemacht haben, vor allem, was ihr Deutsch angeht. Die Sprache zu lernen ist auch eines der primären Projektziele von „Plural Arts“. Darüber hinaus war es stark zu sehen, wie sehr die Kids in der kurzen Zeit zusammengewachsen sind und wie viel Nähe und Vertrauen dabei entstanden ist.
Was man außerdem feststellen kann: Die Jugendlichen haben ein gewisses Bewusstsein für Bühnenpräsenz entwickelt, was sich wiederum positiv auf ihr Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl auswirkt. Eines der Mädchen beispielsweise hat kein einziges Wort gesprochen, als sie zu uns kam. Sie war total verschüchtert und hat nur nach unten geschaut. Jetzt, zwei Wochen später, hat sie einen enormen Sprung gemacht. Sie wirkt viel fröhlicher und aktiver.
Jonas:
Ich fand vor allem den Mut sehr besonders, den die Jugendlichen aufgebracht haben: sich vor einem unbekannten Publikum auf die Bühne zu stellen, ein Theaterstück in einer gänzlich unbekannten Sprache aufzuführen und am Ende sogar noch auf Deutsch zu singen – viele Leute schaffen das nicht einmal in ihrer eigenen Sprache.
Anne:
Dieser Mut hat sich auch erst entwickelt. Und was das Singen vor Publikum angeht – das hat Todd Fletcher möglich gemacht. Du hättest Todd mal sehen sollen, wie er am Klavier mit den Jugendlichen Songs einstudiert. Er ist sehr fordernd, sehr schnell, und seine Lieder und Texte sind so ausgewählt, dass sie relativ bald ein großes Gruppengefühl provozieren.
Am Anfang waren diese Gesangsübungen für die Jugendlichen natürlich total schwer, da manche von ihnen so gut wie kein Deutsch gesprochen haben. Sie haben zwar versucht, irgendwie ein Lied mitzusingen, sich dabei aber immer wieder geschämt, weil sie Text und Melodie nicht konnten. Je mehr man aber mit ihnen geübt und sie gelobt hat, desto besser wurde der Gesang, desto größer wurde das Selbstvertrauen. Am Ende war es sehr beeindruckend zu sehen, mit wie viel Power die Kids die Lieder vorgetragen haben.
Jonas:
Im Gegensatz zu Todd bist du mit deinen 24 Jahren nur wenig älter als die Jugendlichen. Darüber hinaus stammen fast alle Kids aus patriarchalisch geprägten Kulturkreisen und sind in ihrem Leben womöglich eher selten mit weiblichen Autoritäten in Kontakt gekommen. Hattest du Mühe, dich durchzusetzen, vor allem gegenüber den Jungs in der Gruppe?
Ihr Verhalten hat nichts mit der Herkunft zu tun – es sind halt 17-jährige Jungs.
Anne:
Mit dem kulturellen Aspekt hatte ich keine Probleme. Der Punkt, weibliche Autoritäten zu akzeptieren, wurde von den meisten bereits überwunden, als sie nach Deutschland gekommen sind und angefangen haben, sich hier zurecht zu finden. Meiner Meinung nach hat ihr Verhalten auch gar nichts mit der Herkunft zu tun – es sind halt 17-jährige Jungs.
Jonas:
Also Pubertät vor kulturellem Background.
Anne:
Auf jeden Fall. In Hamburg arbeite ich ebenfalls mit Jugendlichen aller Altersklassen. Und glaub’ mir, es sind überall die gleichen Kämpfe: soziale Machtspielchen, die sich nicht unterscheiden, egal woher die Kids kommen oder wie alt sie sind. Ob ein Fünfjähriger versucht sich durchzusetzen oder ein 17-Jähriger, das ist ein ähnliches Prinzip. Nur die Mittel sind andere. Aber dafür habe ich so meine Tricks. (Anne grinst)
Jonas:
Du selbst bist auch relativ früh mit Theater in Berührung gekommen – auf deiner Website schreibst du, dass du eine zwölfjährige Grundausbildung am Leipziger Tanztheater absolviert hast. Wie kam es dazu?
Anne:
Stimmt. Als Kind habe ich angefangen, neben der Schule semiprofessionell Tanztheater zu machen. Meine Mutter hatte mich dort angemeldet.
Jonas:
Haben deine Eltern einen künstlerischen Hintergrund?
Anne:
Nein, beide sind Orthopäden. Ich bin das schwarze Schaf der Familie. Alle anderen machen etwas Anständiges, sind Anwälte, Ärzte oder Lehrer. Nur ich musste mir für mein Leben etwas Verrücktes ausdenken – meine Familie weiß noch nicht einmal so richtig, wie das heißt, was ich mache.
Jonas:
Auch wenn das Tanztheater semiprofessionell war: Was konntest du für dich persönlich aus dem Tanzen herausziehen?
Anne:
In erster Linie habe ich durch das Tanzen ein starkes Körperbewusstsein bekommen, was mir auch im Alltag immer wieder hilft – vielleicht im Gegensatz zu Menschen, die in ihrer Kindheit nicht so viel Bewegung hatten oder wenig Sport getrieben haben. Ich halte Tanzen ohnehin für einen sehr besonderen Sport, weil es Bewegung für den gesamten Körper ist. Und es ist ein soziales und politisches Ausdrucksmittel.
Darüber hinaus habe ich durch meine Zeit am Tanztheater ein erstes Gefühl für die Arbeit mit Jugendlichen entwickelt. Das Leipziger Tanztheater realisiert regelmäßig Großprojekte mit Tänzerinnen und Tänzern aller Altersstufen, von acht bis 18 Jahren ist da alles vertreten. Die Idee dahinter empfinde ich als unglaublich schön: Man gibt jedem eine kleine Aufgabe und wenn man alles zusammenfügt, wird es zu einem großen Ganzen. Das ist etwas, was ich mir auch für meine eigene Arbeit noch stärker wünsche: Ich würde gerne das, was ich mit den Jugendlichen mache, irgendwann einmal mit einem größeren Projekt kombinieren können.
Jonas:
Neben der Bewegung, dem Körperlichen, scheint es in deinem Leben noch einen weiteren Grundpfeiler zu geben: die Sprache. Wann hast du deine Leidenschaft für das gesprochene und geschriebene Wort entdeckt?
Anne:
Sehr früh. Sobald ich schreiben konnte, habe ich angefangen, Geschichten zu schreiben. Und mit 14 habe ich begonnen, unglaublich viel zu lesen. Das hat bis heute nicht aufgehört.
Jonas:
Ich kann mich an einen Satz meines ehemaligen Französichlehrers erinnern, den er immer wiederholt hat: „Alles, was man sich vorstellen kann, kann man auch mit Sprache beschreiben.“ Würdest du das unterschreiben?
Es gibt so viele Zustände, Umstände und Momente im Leben, für die man einfach kein Worte hat.
Anne:
Nein. Ich finde den Gedanken zwar total schön, aber meiner Meinung nach ist es eher andersherum. Sprache ist ein Versuch, die vielen Dinge zu erklären, die auf der Welt passieren. Aber es gibt so viele Zustände, Umstände und Momente im Leben, für die man einfach kein Worte hat. Ein Beispiel: Ich selbst spreche Deutsch und Englisch, daher kann ich mich auch nur aus diesem Wortschatz bedienen. Daneben gibt es aber in anderen Sprachen unzählige weitere Wörter und Ausdrücke, die im Deutschen und Englischen nicht vorkommen – mit denen ich im Zweifel aber vielleicht viel besser ausdrücken könnte, was ich denke, sehe, fühle. Daher funktioniert der Satz deines ehemaligen Französichlehrers für mich nicht.
Jonas:
Mit 17 hast du den Roman „Die Tragödie des geistreichen Menschen: Ein Trauerspiel ohne Aufzüge“ verfasst, der 2011 im Engelsdorfer Verlag erschienen ist. Der Titel klingt sehr schwermütig – aus welcher Motivation heraus hast du das Buch geschrieben?
Anne:
Aus Liebeskummer.
Jonas:
Liebeskummer hat immer wieder das Potenzial, gute Geschichten hervorzubringen.
Anne:
Ach, das Buch ist ganz nett geworden. Was man mit 17 eben so verfasst, wenn man unglücklich verliebt ist.
Jonas:
Wenige Jahre später hat es dich aus Leipzig heraus nach Hamburg getrieben – ebenfalls aus Liebeskummer?
Anne:
Nein, das ist eher per Zufall passiert. Ich wollte immer in Berlin leben, daher habe ich mich dort um einen Studienplatz für Literaturwissenschaften beworben – neben Potsdam und Hamburg. In Berlin wurde ich leider abgelehent, aber von den beiden anderen Unis gab’s eine Zusage. Und da Potsdam für mich eine blöde Alternative war, bin ich nach Hamburg gegangen. Letztendlich war das eine gute Entscheidung – ich mag die Stadt sehr und lebe wirklich gerne dort. Die Kunstszene ist im Vergleich zu Berlin nicht so superalternativ, sondern eher sortiert. Vieles läuft über wenige, immer gleiche Institutionen. Trotzdem ist die Szene sehr spannend, weil dort ein hoher Professionalitätsgrad erreicht wird – im Gegensatz vielleicht zu anderen Städten, in der man eher die Einstellung à la „Ich mache irgendwelche Off-Projekte.“ hat.
Jonas:
Du setzt dich in deiner Arbeit sehr stark mit Performance auseinander – ein Begriff, der für Menschen, die weniger Berührungspunkte mit Kunst haben, schwer zu fassen ist. Kannst du erklären, was dahinter steckt?
Wieso gehe ich nicht dazwischen, wenn etwas passiert, was nicht ok ist?
Anne:
Performance ist ein eher modernes Phänomen, das in den 1960er Jahren aufgekommen ist – unter anderem durch Menschen wie die serbische Künstlerin Marina Abramovic, die bis heute mit ihren Performances international für Aufmerksamkeit sorgt. Was genau dahinter steckt, darüber gibt es sehr viele Theorien. Für mich ist Performance eine Kunstform, die nicht an einen Ort gebunden ist. Sie kann auf der Bühne stattfinden, aber auch im öffentlichen Raum. Performance befragt nicht nur ein Thema, sondern befragt immer auch den Moment: Wie bin ich gerade hier? Wer ist um mich herum? Für die Perspektive des Publikums ergeben sich dadurch ebenfalls Fragen: Wie bewege ich mich als Zuschauer durch den Raum? Wo stehe ich gerade und wie interagiere ich mit anderen Leuten? Wieso gehe ich nicht dazwischen, wenn etwas passiert, was nicht ok ist? Mir als Künstlerin geht es darum herauszufinden, welche körperlichen und emotionalen Reaktionen diese Interaktionen mit dem Publikum hervorrufen. Und es geht mir darum zu erfahren, wie ich mit diesen Reaktionen weiterarbeitet. Performance hat viel mit dem Moment zu tun hat, in dem man sich gerade befindet. Es gibt dafür auch ein Wort: Liveness – das, was gerade jetzt passiert.
Jonas:
Würdest du auch Flashmobs als Performances bezeichnen?
Anne:
Ich würde sagen, sie sind eine populäre Form davon. Das Konzept ist zwar ähnlich, aber Flashmobs haben häufig keinen inhaltlichen Anspruch, kein künstlerisches Konzept. Das Ganze ist eher Entertainment.
Jonas:
Die letzte Performance, die bundesweit für Aufsehen gesorgt hat, war die Aktion Tausend Gestalten während des G20-Gipfels in Hamburg. Hast du diese Aktion persönlich erlebt? Oder bist du vor dem Gipfel geflüchtet?
Anne:
„Tausend Gestalten“ war eine richtig tolle Idee, dahinter stand ein enormer Aufwand. Ich selbst wurde auch eingeladen, bei der Aktion mitzumachen. Aber ich hatte zu dieser Zeit eine Premiere und konnte mich leider nicht beteiligen an diesem demonstrativen Treiben.
Jonas:
Es ist schade, dass die Aktion in der allgemeinen Berichterstattung untergegangen ist – die Medien haben sich während des Gipfels fast ausschließlich mit den enormen Gewaltausbrüchen in der Hamburger Innenstadt beschäftigt.
Während des G20-Gipfels in Hamburg war es beeindruckend zu sehen, wie verbunden alle miteinander waren und wie gut teilweise die Atmosphäre in der Stadt war – bis die Autos brannten.
Anne:
Von den „Tausend Gestalten“ hat man ja zumindest noch etwas mitbekommen. Es gab aber noch so viele andere, schöne Gegendemonstrationen und Aktionen, von denen die Leute außerhalb Hamburgs überhaupt nichts gehört, gesehen oder gelesen haben. Beispielsweise gab es Yoga auf der Kennedy-Brücke – morgens um halb sechs mit hunderten meditierenden Menschen, die ganz in Weiß gekleidet waren. Oder „Lieber tanz’ ich als G20“ mit unzähligen Leuten, die in bunten Klamotten auf den Kiez gekommen sind und stundenlang getanzt haben. Das war einfach megaschön.
Aber dann gibt es diese Eskalationen und die ganze Welt bekommt nichts anderes mehr mit. Ich finde das sehr, sehr schade. Es sind so unglaublich viele Menschen auf die Straße gegangen, um friedlich und kreativ gegen den Gipfel zu protestieren. Es war beeindruckend zu sehen, wie verbunden alle miteinander waren und wie gut teilweise die Atmosphäre in der Stadt war – bis die Autos brannten.
Jonas:
Die Aktion „Tausend Gestalten“ hatte ein großes politisches Anliegen. Versuchst du bei deiner eigenen Arbeit auch, bestimmte Schwerpunkte zu setzen?
Anne:
Ich habe ja im Prinzip zwei Standbeine: Auf der einen Seite entwickle ich selbst Performances und führe sie auf, auf der anderen Seite leiste ich Vermittlungsarbeit wie beispielsweise für das Projekt „Plural Arts“. Was meine eigenen Performances angeht, kann ich zu allen möglichen Themen arbeiten, seien es körperliche, politische oder soziale.
Grundsätzlich habe ich aber immer den Anspruch, bestimmte Fragen zu stellen: Warum muss ich das machen? Und warum soll sich das jemand anschauen? Nur weil zum Beispiel viele Kulturprojekte mit Geflüchteten gefördert werden, heißt das für mich noch nicht zwangsläufig, dass ich selbst auch ein Projekt zu dem Thema machen muss. Zuerst muss ich eine Antwort auf die Frage finden, warum ich selbst dazu ein Stück entwickeln und in die Welt bringen sollte. Ich nehme es sehr ernst, dass es den Beruf des Künstlers beziehungsweise der Künstlerin gibt. Und dass dieser Beruf auch eine Aufgabe hat in der Gesellschaft.
Darüber hinaus habe ich einen hohen Anspruch, was Konzentration und Fokussierung angeht – an mich selbst, aber auch an die Kids. Das heißt, es ist mir sehr wichtig, dass sie das Ganze so ernst nehmen wie ich. Was nicht heißt, dass man dabei keinen Spaß haben kann oder alle perfekt sein müssen. Aber sie sollen spüren, dass es wichtig und relevant ist, was sie tun. Bei solchen Projekten muss ich allerdings meinen Anspruch an die künstlerische Qualität oder den Inhalt immer wieder zurückstellen. Denn es geht hier nicht um mich, sondern um die Kids. Wichtig ist, dass sie den nötigen Raum haben, um ihr Bestes zu geben und über Dinge sprechen zu können, die ihnen wichtig sind. Da kann ich nicht von außen kommen und sagen: So, wir machen jetzt Shakespeare. Bitte alle den Text lernen, viel Spaß! Viel wichtiger ist, was sie gerade persönlich beschäftigt. Daher beginne ich grundsätzlich jede meiner Stunden mit der Frage an jede und jeden Einzelnen: Wie geht es dir? Teilweise sind die Jugendlichen schon alleine damit total überfordert…
Jonas:
… weil sie noch nie jemand danach gefragt hat.
Anne:
Genau. Und weil auch in der Schule oder in sozialen Einrichtungen kein Raum dafür ist. Dort müssen sie ständig irgendetwas machen und in vorgegebenen Hierarchien funktionieren. Das kann ich nur aufbrechen, indem ich sage: Seht her, ich selbst habe auch keine Ahnung. Ich bin wie ihr. Jetzt schauen wir mal zusammen, wie wir vorankommen.
Jonas:
Es gibt unendlich viele Probleme und ungelöste Konflikte auf der Welt – offene Baustellen, wohin man schaut. Schlägst du als Künstlerin nicht manchmal die Hände über dem Kopf zusammen, weil du nicht weißt, wo du thematisch anfangen sollst?
Ich weiß zwar, dass ich letztendlich keinen der Jugendlichen wirklich gerettet habe – schon nach ein paar Tagen hat die Hälfte von ihnen meinen Namen wieder vergessen.
Anne:
Nein, das war noch nie ein Punkt. Die Probleme sind so oder so da, egal ob ich mich damit beschäftige oder nicht. Außerdem habe ich in meinem Leben gelernt, dass sich solche kritischen Momente auch wieder auflösen, genauso wie sie entstanden sind.
Das ist bei der Arbeit mit den Kids nicht anders. Ganz am Anfang steht noch ein großes Problem. Dann arbeitet man zwei Wochen mit ihnen und feiert am Ende gemeinsam den Erfolg. Ich weiß zwar, dass ich letztendlich keinen der Jugendlichen wirklich gerettet habe – schon nach ein paar Tagen hat die Hälfte von ihnen meinen Namen wieder vergessen. Aber lass’ es zwei, drei Kinder sein, die wirklich etwas aus dem Workshop mitgenommen haben. Das ist am Ende zwar nur ein kleines Stück vom großen Puzzle, aber immerhin konnte ich diesen kleinen Teil dazu beitragen.
Jonas:
Das Stück, das du mit den Kids erarbeitet hast, tägt den Titel „Hoffnung“. Was ist deine eigene Hoffnung?
Anne:
Beruflich gesehen besteht meine Hoffnung darin, dass ich es schaffen will, mich so gut es geht freizuhalten von dem Druck, irgendetwas erfüllen oder irgendjemandem gerecht werden zu müssen. Ich will die Dinge immer nur so angehen, wie ich es selbst gut finde und wie ich es vertreten kann. Und ich will mir einen Raum schaffen können, der groß genug ist, dass meine Kreativität darin genug Platz hat.
Persönlich wünsche ich mir, dass ich mich immer wieder von Ängsten und gesellschaftlichen Ansprüchen befreien kann. Und ich hoffe, dass es mir gelingt, die dafür nötige Kraft aufzubringen.
Jonas:
Das ist wahrscheinlich etwas, das sich jeder Mensch wünscht, der in unserer Leistungsgesellschaft lebt. Hast du ein Zaubermittel, mit dem du dir diesen Wunsch erfüllen kannst?
Wenn man scheitert, geht man woanders lang. Das zu wissen, beruhigt sehr.
Anne:
Mein Zaubermittel ist, mir viel Zeit für mich zu nehmen. Mich viel auszuruhen, viel zu meditieren und mich viel zu bewegen. Es ist wichtig, immer wieder an einen Punkt zurückzugehen, an dem man sich fragt: Was will ich eigentlich? Worum geht es mir in meinem Leben? Und genauso wichtig ist es, sich immer wieder zu sagen: Der Weg ist offen. Vor allem in Momenten, in denen man glaubt, sich fest für etwas entschieden zu haben und aus der Nummer nicht mehr herauszukommen. Es ist ja alles immer nur ein Versuch. Und wenn man scheitert, geht man woanders lang. Das zu wissen, beruhigt sehr.
Jonas:
Gibt es neben diesen Momenten der Ruhe auch Situationen, in denen du die Ekstase suchst – wie beispielsweise deine Schützlinge, die immer noch wie wild auf der Tanzfläche ihre Theaterpremiere feiern?
Anne:
Tanz ist Ekstase. Denken kann Ekstase sein. Manchmal lese ich ekstaitsch viele, viele Seiten am Tag oder schreibe wie eine Verrückte. Und die Arbeit mit den Kids kann auch richtig knallen. Aber Ekstase, glaube ich, kann man nicht suchen – sie begegnet dir.
Jakob M. Erwa
Interview — Jakob M. Erwa
Von Opulenz und Intimität
Sechs Jahre musste Filmemacher Jakob M. Erwa warten, dann durfte er endlich den Roman »Die Mitte der Welt« verfilmen. Wie er die Premiere in Russland erlebte, was sein nächstes Projekt mit Ausländerfeindlichkeit zu tun hat und warum großes Kino gleichzeitig opulent und nahbar sein muss, verrät er uns im Interview.
19. September 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke
Als am 20. August 2017 die Kunden wie gewohnt ihren Edeka-Supermarkt in der Hamburger Hafencity betraten, waren sie mehr als irritiert. Sämtliche Regale, Frischetheken und Kühltruhen waren bis auf wenige Produkte leergeräumt, es herrschte gähnende Leere. Wer sich aus seiner Konsumenten-Schockstarre lösen konnte und näher an die Regale herantrat, entdeckte überall kleine bunte Aufsteller mit Hinweisen wie „Dieses Regal zeigt: Wir wären ärmer ohne Vielfalt.“ oder „So leer ist ein Regal ohne Ausländer.“ Ausgedacht und initiiert wurde die Aktion von einer großen Werbeagentur, die für einen Tag im Auftrag von Edeka alle ausländischen Produkte aus dem Supermarkt entfernen ließ. Ein kreatives Statement für mehr Vielfalt, Offenheit und Toleranz.
Jemand, der sich dem Thema Vielfalt in ähnlich kreativer, aber künstlerischer Art und Weise verschrieben hat, ist der Regisseur Jakob M. Erwa. Im Herbst letzten Jahres brachte der gebürtige Grazer seinen Film „Die Mitte der Welt“ in die Kinos, der auf dem gleichnamigen Roman von Andreas Steinhöfel aus dem Jahr 1998 basiert. Erzählt wird eine Liebesgeschichte zwischen zwei Teenagern in einer deutschen Kleinstadt. Die beiden heißen Phil und Nicholas, im Film gespielt von Louis Hofmann und Jannik Schümann.
Nach der Premiere in Köln ist Jakob ein Jahr lang um die Welt gereist, um seinen Film vorzustellen – in den unterschiedlichsten Ländern, vor den unterschiedlichsten Zuschauern. Um dem 36-jährigen Filmemacher, der heute in Berlin lebt, nach diesen Strapazen so etwas wie ein Urlaubsgefühl zu geben, haben wir ihn für einen Nachmittag in die Tropenwelt der Biosphäre Potsdam eingeladen. Auszug aus dem Pressetext: „Die Dschungellandschaft der Biosphäre mit über 20.000 prächtigen Tropenpflanzen und rund 130 verschiedenen Tierarten sowie einem stündlichen Gewitter mit Blitz und Donner versetzt die Besucher in eine ferne Welt.“ Vielfalt kann so schön sein – fanden wir auch irgendwie spannender als leere Regale.
Jonas:
Du bist in den letzten Monaten Tausende von Kilometern um die Welt gereist, um deinen Film „Die Mitte der Welt“ zu promoten. Wie geht es dir nach dieser Zeit?
Jakob:
Mir geht es gut – wieder gut. Wieder sage ich deshalb, weil sich erstens die Sonne nach langer Zeit wieder blicken lässt und es endlich Sommer ist. Und zweitens, weil ich nach dem Kinostart von „Die Mitte der Welt“ so ausgepowert war, dass ich in eine klassiche Herbst-Winter-Depression geschlittert bin. Am 10. November 2016, als der Film in den Deutschen und Österreichischen Kinos anlief, ist ein riesiges Bündel an Hoffnungen und Belastungen von mir abgefallen. Mit einem Moment war ich total kaputt. Zwar haben mich die vielen interessanten Reisen und das überaus positive Feedback der letzten Monate wieder etwas aufgebaut, aber jetzt muss ich endlich mal das Tempo reduzieren und Luft holen. Der Großteil der Arbeit ist vorbei, ich befinde mich bereits im Abnabelungsprozess. Für mich geht es jetzt darum, die Fenster aufzureißen und frischen Wind in die Bude zu lassen. Auf zu neuen Ufern!
Jonas:
Mit welcher Bilanz kannst du dieses Projekt für dich abschließen?
Jakob:
Mit „Die Mitte der Welt“ konnte ich einen Film machen, der mir extrem nah ist – nicht nur, weil ich so viel Zeit in dieses Projekt investiert habe: Acht Jahre habe ich auf die Rechte gewartet, sechs weitere Jahre habe ich an dem Film gearbeitet und fast ein ganzes Jahr lang bin ich damit um die Welt gereist. Sondern auch, weil er mir inahltlich so wichtig ist.
Für mich ist die „Die Mitte der Welt“ deshalb ein so besonderes Projekt, weil ich nicht gezwungen war, damit ein ganz bestimmtes Publikum bedienen zu müssen. Ich werde nicht müde es zu betonen: Dieser Film ist kein Schwulenfilm! Es ist vielmehr ein Film, der dazu einlädt, über das Leben nachzudenken – mit all seinen Facetten und Varianten, mit all seinen Familienkonstellationen und Freundschaften, in all seiner Vielfalt, mit all seiner Liebe.
Jonas:
Würdest du sagen, dass aus diesem Grund „Die Mitte der Welt“ nichts anderes ist als ein Abbild unserer heutigen Gesellschaft? Oder verstehst du den Film eher als einen gesellschaftlichen Auftrag?
Ein Abbild der Gesellschaft kann der Film nicht sein, weil unsere Gesellschaft einfach noch nicht so weit ist.
Jakob:
Weder noch. Ein gesellschaftlicher Auftrag an die Gesellschaft wäre mir viel zu pädagogisch. Und ein Abbild der Gesellschaft kann der Film nicht sein, weil unsere Gesellschaft einfach noch nicht so weit ist.
Man kann ohnehin nicht von „die Gesellschaft“ sprechen, denn das würde voraussetzen, dass unsere Gesellschaft eine homogene ist. Aber das ist sie nicht. So ist der Film – auch wenn er in der Provinz spielt – sicherlich kein adäquates Abbild für das Leben auf dem Dorf. Bezogen auf das erzählte Lebensgefühl und die Einstellung der Charaktere orientiert er sich wahrscheinlich eher an der gesellschaftlichen Vielfalt einer liberalen Großstadt wie beispielsweise Berlin.
Ich würde den Film vielmehr als einen Wunsch beschreiben. Oder besser gesagt als einen Wunschtraum. Filme sind ja generell zum Träumen da. Und wie jeder weiß: Manche Träume können einfach so wahr werden und an anderen muss man hart arbeiten, damit sie in Erfüllung gehen.
Dementsprechend ist in „Die Mitte der Welt“ nicht alles perfekt: Die Art und Weise, wie Glass die Kinder erzieht – das hat viel Gutes, aber auch viel Schlechtes. Und so wie Phil und Kat miteinander umgehen, das hat viel Schönes, aber auch viele Schwierigkeiten. So sind Menschen nun einmal. So sind Beziehungen. Das ist völlig normal. Für mich war es wichtig, dass der Film Höhen und Tiefen hat. Darauf lege ich nicht nur bei Filmen Wert, die ich sehen will, sondern auch bei Filmen, die ich machen will.
Jonas:
Du hast „Die Mitte der Welt“ auf bislang über 60 Filmfestivals weltweit vorgestellt. Hast du regionale Unterschiede bemerkt, was die Reaktionen deines Publikums angeht? Wie gehen beispielsweise Zuschauer in Mexiko mit dem Film um im Vergleich zu Japan oder Russland?
Ich wurde so erzogen, dass ich frei wählen kann, wen und wie ich liebe, und dass ich mit genügend Toleranz durch die Welt gehen muss, um zu erkennen, was im Leben alles möglich ist.
Jakob:
Was das Beispiel Mexiko angeht, habe ich nicht wirklich Unterschiede zu Deutschland feststellen können. Dafür war die Premiere in Moskau eine ziemlich große Nummer. Man muss wissen, dass es Filme mit queerer Thematik im Allgemeinen in Russland ziemlich schwer haben. Dementsprechend bin ich auch mit einem etwas mulmigen Gefühl nach Moskau gefahren. Umso überraschter war ich, dass sich die Leute dort wesentlich offener geben, als ich mir das vorher so vorgestellt habe. Denn das, was wir vor Ort bei den Vorstellungen erlebt haben, war total schön und wirklich positiv.
Die anschließende Pressekonferenz war ebenfalls sehr ermutigend. Natürlich begegnen einem dort Fragen wie „Was ist eigentlich in deiner Erziehung passiert, dass du so einen Film machst?“ Da hat es mir erstmal die Sprache verschlagen. Ich wusste in diesem Moment nicht, ob ich die Frage ernst nehmen und sachlich bleiben soll oder es besser wäre, auf Konfrontation umzuschalten. Als noch eine zweite Frage dieser Art nachgeschoben wurde, habe ich mich gegen die Konfrontation entschieden und bin überaus höflich geblieben. Ich habe dem betreffenden Reporter geantwortet, dass ich so erzogen wurde, dass ich frei wählen kann, wen und wie ich liebe, und dass ich mit genügend Toleranz durch die Welt gehen muss, um zu erkennen, was im Leben alles möglich ist. Für diese Antwort gab es von den anderen Journalisten spontanen Applaus. Das hat mir gezeigt, dass es auch ein anderes Klima geben kann in einem Land, in dem der Staat und die Kirche so viel Macht über die Gesellschaft haben. Das war mir persönlich eine wichtige Lehre.
Natürlich täuscht das nicht darüber hinweg, dass in diesem Land immer wieder schlimme Dinge passieren. In Moskau habe ich mich dann auch mit Vertreter*innen einer NGO getroffen, die sich für die Rechte von LGBTI-Menschen in Russland einsetzen, um mir ein Bild über die Situation des „normalen“ queeren Lebens in Russland zu verschaffen – was die so erzählt hat, war schon sehr erschreckend.
Jonas:
Findest du dich in Momenten wie bei der Pressekonferenz plötzlich in einer politischen Rolle wieder, die du ursprünglich für dich als Regisseur gar nicht angedacht hast?
Jakob:
Manchmal, das ist dann aber auch okay für mich. Ich hab ja auch ein sozialpolitisches Anliegen mit dem Film. Aber generell kommt „Die Mitte der Welt“ ja nicht so bierernst und überpolitisch daher. Das ist eher Gefühlskino als Politkino. Man kann ohnehin nicht alles wollen: Im selben Film die Selbstverständlichkeit einer schwulen Beziehung darstellen und gleichzeitig zeigen, dass queeres Leben grundsätzlich anders sein muss – das geht nicht. Das will ich auch nicht. Alles zu seiner Zeit.
Jonas:
Du spielst auf die selbstverständliche Liebesbeziehung zwischen den Charakteren Phil und Nicholas an. Hättest Du dir damals als Jugendlicher in Graz vorstellen können, mit der gleichen Selbstverständlichkeit so einen Film im Kino anzuschauen?
Jakob (zögert einen Moment):
Ich hatte das Glück, in einem sehr offenen Umfeld aufzuwachsen. Meine Eltern entstammen dem typischen Bildungsbürgertum, beide haben studiert, sind belesen, kunstinteressiert, politisch engagiert, aufgeschlossen und sehr kommunikativ. Für sie war Homosexualität etwas völlig Normales – ebenso wie für ihre Freunde, mit deren Kindern ich aufgewachsen bin und bei denen das demensprechend auch nie wirklich ein Thema war.
Hätte ich mir also vorstellen können, als Jugendlicher wie selbstverständlich in so einen Film zu gehen? Von der intellektuellen Grundausstattung auf jeden Fall. Ich überlege deshalb so lange, weil ich versucht habe, ein Beispiel aus der damaligen Zeit zu finden. Es will mir aber gerade keines einfallen.
Jonas:
Wenn du aus einer so kunstinteressierten Familie kommst, ist es ja nicht wirklich verwunderlich, dass du Filmemacher geworden bist.
Etwa ein Jahr vor dem Abi habe ich angefangen, mir große Sorgen um meine Zukunft zu machen.
Jakob (lacht):
Dieser Beruf wurde mir tatsächlich in die Wiege gelegt. Meine Mutter hat als Kulturkritikerin für eine Zeitung und einen Radiosender gearbeitet. Bereits 1981 hat sie mich zur Berlinale mitgenommen – ich war gerade minus fünf Monate alt und sie mit mir im vierten Monat schwanger.
Aber Spaß beiseite: Dass es irgendetwas mit Kunst werden würde in meinem Leben, das war mir schon sehr, sehr früh klar. Mit 14 habe ich an der HTL für Kunst und Design angefangen – eine Art berufsbildende höhere Schule mit Ausbildungschwerpunkten in diversen Kreativbereichen. Dort habe ich insgesamt fünf Jahre verbracht und mich tagtäglich mit Bildhauerei, Malerei, Design, Kunstgeschichte et cetera auseinander gesetzt.
Neben der Schule habe ich Musik gemacht – seit ich zwölf war, habe ich immer in diversen Bands gespielt. Das war total meine Welt. Und mein großer Traum war es, Rockstar zu werden. Aber Rockstar werden kann man leider nicht einfach so lernen oder studieren, da spielt neben Talent auch der Zufall eine große Rolle.
Und so habe ich etwa ein Jahr vor dem Abi – in Österreich sagt man Matura – angefangen, mir große Sorgen um meine Zukunft zu machen, und habe mich gefragt, ob Musik wirklich das Einzige sein soll in meinem Leben.
Meine Mutter war es dann, die den Begriff Film in den Raum geworfen hat. Einfach so. Film war für mich bis dahin nichts anderes als schöne Unterhaltung und irgendwie unbeschreiblich groß – im Sinne von unzerlegbar.
Aber plötzlich ist da etwas in meinem Kopf umhergeschwirrt. Also bin ich brav zu einer Berufsberatungsstelle für Jugendliche gestapft und habe mich informiert, was man im Filmbereich beruflich machen kann. Vor Ort habe ich mir zwei Seiten aus einem Ratgeber kopiert – die eine handelte von Kamera, die andere von Regie. Vor allem die Beschreibung zum Punkt Regie war sehr nah an dem, was ich mir vorstellen konnte: die Verbindung unterschiedlichster Kunstformen.
In den folgenden Tagen und Wochen habe ich mir diverse Bücher besorgt, die erklären, wie sich zum Beispiel Drehbücher aufbauen und wie man sie zerlegen kann. Dieses Zerlegen ist übrigens auch heute noch ein Prinzip, nach dem ich arbeite: Man muss eine Geschichte zuerst in ihre Einzelteile stückeln, um zu verstehen, wie sie aufgebaut ist. Dann setzt man diese Einzelteile wieder zusammensetzen – und versucht, sie besser oder spannender zu arrangieren.
Jonas:
Und so wurde der große Traum vom Leben eines Rockstars abgelöst durch den Wunsch, irgendwann einmal als Filmemacher zu arbeiten?
Jakob:
Lustigerweise ging es damals musikalisch gerade so richtig bergauf. Ich hatte mit meiner Band zwei Demos an diverse Verlage geschickt, die zu unserem Erstaunen überall gut ankamen. Allerdings hat sich auch hier wieder meine Mutter zu Wort gemeldet. Sie sagte: „Mach’ das mit der Musik ruhig weiter. Aber an deiner Stelle würde ich mich sicherheitshalber mal an einer Filmhochschule bewerben.“
Diesen Rat habe ich befolgt und mich an die Bewerbungen für die Wiener Filmakademie und die Münchener HFF – die Hochschule für Fernsehen und Film – gesetzt. Ursprünglich wollte ich ja nach Berlin, das war die Stadt, die mich am meisten interessiert hat. Aber mit gerade mal 18 Jahren war ich noch zu jung für die Aufnahmebestimmungen der dortigen Deutschen Film- und Fernsehakademie.
Jonas:
Die Münchener HFF, an der du schließlich gelandet bist und insgesamt fünf Jahre studiert hast, ist ja auch nicht von schlechten Eltern – sie gehört zu den renommiertesten Filmhochschulen in Europa.
Jakob:
Stimmt. Und im Vergleich zu Wien war München zumindest einen kleinen Schritt näher an Berlin.
Jonas:
Du hättest dich ja ein Jahr später wieder in Berlin bewerben können.
Jakob:
Nein! Diesen Wahnsinn des mehrstufigen Bewerbungsprozesses an einer Filmhochschule macht man kein zweites Mal mit, glaub’ mir. Dafür war ich dann doch zu faul. Und das Umfeld in München war letztendlich auch wirklich fein.
Jonas:
Im Jahr 2003 – noch mitten im Studium – hast du zusammen mit der Schauspielerin Rachel Honegger die Produktionsfirma mojo:pictures gegründet. Konntest du es nicht abwarten, deine eigenen Filme zu produzieren?
Neben dem Künstlerischen liegt mir auch sehr viel daran, die ganze Welt darum herum zu erschaffen.
Jakob:
Die Geschichte fängt eigentlich viel früher an. Bereits zu Schulzeiten habe ich immer schon meine Bands gemanagt und dabei die Kohle aufgetrieben für Demoaufnahmen, CD-Produktionen, Poster und all das. Ich glaube, neben dem Künstlerischen liegt mir auch sehr viel daran, die ganze Welt darum herum zu erschaffen. Und die erschafft sich nicht ohne finanzielle Unterstützung. So hat es sich damals schon aus der Notwendigkeit heraus ergeben, dass ich mich immer auch mit dem organisatorischen Teil beschäftige.
Auslöser für die Gründung der Produktionsfirma im Jahr 2003 war die Bitte eines gemeinsamen Freundes an Rachel und mich, dessen Abschlussfilm zu produzieren. Von Seiten der HFF hieß es damals, dass wir als Produzenten das Projekt unter einem bestimmten Namen einreichen müssten – und so haben wir uns spontan für „mojo“ entschieden.
Das alles wollten wir zuerst gar nicht so ernst nehmen. Dennoch ist die Produktionsfirma letztendlich aus dem Gedanken heraus entstanden, eigene Projekte auch unter einem eigenen Label weiterentwickeln zu können. Und so habe ich mit „Mojo“ an der Filmhochschule erst meine eigenen Kurzfilme produziert und etwas später – im Jahr 2007 – ging es an den ersten Spielfilm: meinen Abschlussfilm „Heile Welt“.
Jonas:
Dieser Film wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem „Großen Diagonale-Preis“ für den besten österreichischen Spielfilm 2006/07 und den „German Independence Award“ auf dem Filmfest Oldenburg für den besten deutschen Film.
Ich wollte allen beweisen, dass ich groß und amtlich arbeiten kann.
Jakob:
Dabei ist „Heile Welt“ aus purem Zufall entstanden. Der Film war eigentlich als ein Kurzfilm konzipiert, mit dem ich eine Inszenierungsübung machen wollte. Dem Ganzen vorausgegangen war die Produktion eines anderen Kurzfilms mit dem Titel „Wie Schnee hinter Glas“ im Jahr 2005. Diese Produktion hat mich wahnsinnig viel Kraft gekostet. Ich wollte den Film so richtig groß machen, mit teurem Filmmaterial, mit großem Team – ich wollte allen beweisen, dass ich groß und amtlich arbeiten kann. Dementsprechend war nicht nur die Produktionsarbeit so richtig aufwändig, sondern auch die Bemühung um die Finanzierung.
Der ganze Prozess war so schwierig und hat so lange gedauert hat, dass ich danach absolut keinen Bock mehr hatte und mir dachte: Das muss auch anderes gehen. Nicht nur, weil eine so große Produktion viel zu viel Kraft und Geld schluckt, sondern weil dabei auch die ganze Spontaneität und Flexibilität verloren geht.
Daher habe ich mir vorgenommen, bei meinem nächsten Projekt etwas sehr Schnelles zu machen, bei dem es nur darum geht, nah an den Schauspieler*innen zu sein und die Energie am Set einzufangen – egal ob es technisch geil ist oder nicht. Und so war der Kurzfilm „Heile Welt“ in einer Nacht geschrieben und innerhalb weniger Tage abgedreht. Das Ergebnis war ein 30-minütiger Kurzfilm, zu dem es sehr viel positives Feedback gab.
Als mir die Frage gestellt wurde, was ich nun als nächstes machen würde, dachte ich mir: Ich habe allein während der Proben so viel schönes Material gesammelt und so viel spannendes Wissen über alle Charaktere angehäuft, von denen einige im finalen Film leider kaum zu sehen sind. Eigentlich müsste ich diesen Film ausbauen, statt ein neues Projekt zu starten.
Und zack, war die Finanzierung da! Zack, haben wir gedreht! Zack, kam der Österreichische Filmpreis! Das ging wie im Zeitraffer – und war Ursache für diverse Film- und Fernsehanfragen, die ich in der Folge erhalten habe.
Jonas:
In „Heile Welt“ hast du fast ausschließlich mit jungen Darstellern gearbeitet, die keine oder nur wenig Schauspielerfahrung hatten – für die drei jugendlichen Hauptrollen war der Dreh die erste professionelle Filmerfahrung. Das erinnert mich an die sehr erfolgreiche skandinavische Serie Skam, bei der die Regisseurin ebenfalls bewusst auf unerfahrene junge Darsteller zurückgreift. Ist diese Herangehensweise ein Erfolgsrezept für die Zukunft? Zumal sich die Feuillettons auch regelmäßig darüber beklagen, dass man in Kino und TV immer wieder dieselben Gesichter sieht.
Jakob:
Dass es sich dabei um ein generelles Erfolgsrezept handelt, glaube ich nicht. Aber mutig ist es in jedem Fall. Und manchmal wird Mut belohnt, manchmal nicht.
Was das Thema mit den immer wiederkehrenden Gesichtern angeht, muss man einen Schritt zurückgehen und sich fragen, was die Ursache dafür ist. Meiner Meinung nach liegt das einzig und allein am Publikum. Beispiel „Fack ju Göthe“ mit Elyas M’Barek in der Hauptrolle: Warum läuft dieser Film so gut in den Kinos? Weil das Publikum einfach auch gern bekannte, ihnen vertraute Gesichter sehen will. Aber das ist ja zum Glück nicht in allen Filmen so.
Jonas:
Welchen Einfluss hat dieses Zuschauerverhalten auf deine Arbeit als Regisseur und Produzent?
Wenn man die Rolle nicht mit einem Schauspieler besetzen kann, den der Verleih sexy findet, dann stirbt das ganze Projekt.
Jakob:
Es macht meine Arbeit schwieriger. Ein Projekt, an dem ich in jüngerer Zeit gearbeitet habe, wurde beispielsweise alleine deshalb nicht realisiert, weil wir keinen „bankable“ Schauspiel-Star für die Hauptrolle gefunden haben. Alle, die das Drehbuch kannten und in das Projekt involviert waren, haben gesagt: „Ach, was für eine tolle Story, die gefällt uns wahnsinnig gut! Aber wer in Deutschland soll das nur spielen?“
Der ganze Film war von dieser einen Figur abhängig. Aber wenn man die Rolle nicht mit einem Schauspieler besetzen kann, den der Verleih sexy findet, dann stirbt das ganze Projekt.
Jonas:
Man will sich gar nicht ausmalen, wie viele gute Ideen und Drehbücher wieder zurück in die Schubladen gewandert sind, nur weil sich aus marktwirtschaftlichen Gründen keine passende Besetzung gefunden hat.
Jakob:
Tja.
Jonas:
Für den ORF hast du von 2007 bis 2009 die Jugend-Fernsehserie „tschuschen:power“ konzipiert und realisiert, eine fünfteilige Miniserie über Migranten der zweiten und dritten Generation in Wien. Haben für dich Filmprojekte, die sich mit aktuellen gesellschaftlichen Themen auseinandersetzen, einen besonderen Reiz?
Jakob:
Mich interessieren solche Themen sehr. Und es ist mir wichtig, den sogenannten Randgruppen der Gesellschaft eine Stimme zu geben. Das schaffe ich nur, indem ich solche Gruppen ins erzählerische Zentrum setze und – ganz wichtig – dafür auch die passenden Bilder finde. Ich glaube, dieser Anspruch kommt daher, dass ich mich selbst auch irgendwie als Teil einer Randgruppe sehe, die – wenn sie einmal eine Stimme hat – viel bewirken kann.
Jonas:
Hättest du dir beim Sendestart von „tschuschen:power“ im Jahr 2007 ausmalen können, dass die Themen Migration und Integration, die in der Serie behandelt werden, zehn Jahre später aktueller denn je sind – in Österreich, in Deutschland, in ganz Europa?
Jakob:
Nein, jedenfalls nicht in diesem bedrückenden Ausmaß, das wir gerade erleben.
Jonas:
Welchen Einfluss hat diese Entwicklung auf deine Arbeit als Filmemacher? Fühlst du dich getrieben, dieses Thema wieder aufzugreifen?
Ich definiere mich als einen politisch denkenden und fühlenden Menschen. Und ich habe ein sehr ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden.
Jakob:
Getrieben nicht, eher getriggerd. Ich bin natürlich kein Politiker, sonst wäre ich wohl auch in die Politik gegangen. Aber ich definiere mich als einen politisch denkenden und fühlenden Menschen. Und ich habe ein sehr ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Daher interessieren mich diese Themen grundsätzlich. Für mich als Regisseur ist es daher nach wie vor spannend, derartige Themen zu erzählen und sie in Bilder zu fassen.
Außerdem kann man den privaten Jakob nicht von dem beruflichen abkoppeln. Wenn ich für etwas brenne, berührt dieses Gefühl weder ausschließlich meine private noch meine berufliche Seite. Das kann doch eh kein Mensch – es sei denn, man ist einer dieser Regisseure, die der Reihe nach alle Aufträge entgegennehmen und abarbeiten, ohne sie zu hinterfragen. Ich selbst bin dafür jedenfalls zu idealistisch, als dass ich das jemals könnte oder wollte.
Jonas:
Du sprichst davon, dass es als Regisseur dein Anspruch ist, für ein Thema geeignete Bilder zu finden. Wie geht man mit diesem Anspruch bei der Verfilmung eines Romans wie beispielsweise „Die Mitte der Welt“ um? Jeder, der das Buch seit der Veröffentlichung vor 20 Jahren gelesen hat, hat doch bereits in seinem Kopf ganz eigene Bilder zu der Geschichte gezeichnet – wie bei jedem Buch, in das man versinkt. Das wird bei Dir nicht anders gewesen sein, oder? Wie viele der Bilder, die du selbst beim ersten Lesen des Buchs vor Augen hattest, haben es letztendlich auch in den Film geschafft?
Jakob:
Das kann ich gar nicht mehr so genau sagen, dazu müsste ich das Buch noch einmal lesen. Ich vermute, dass es Stellen im Roman gibt, die sich mit den Filmbildern vermischen, und dass es wiederum Stellen gibt, die mittlerweile von den Bildern des Films überlagert werden.
Grundsätzlich ist bei einer Buchverfilmung immer so, dass man den Absprung schaffen muss. Wenn es darum geht, etwas aus der einen Kunstform in eine andere zu übersetzen, bleibt einem nichts anderes übrig, als seinen eigenen Weg zu finden. Das war bei „Die Mitte der Welt“ nicht anders. Darin waren sich übrigens nicht nur alle Projektbeteiligten einig, sondern auch der Autor Andreas Steinhöfel, der an dieser Stelle von seinem Werk wirklich loslassen konnte.
Natürlich besteht immer die Gefahr, dass man Leute enttäuschen wird, wenn man versucht, die Atmosphäre, den und die Charaktere eines Buches einzufangen und in einen Film zu übertragen. Das war mir von Anfang an klar. Wie du selbst sagst: Man findet Bilder für Szenen, die andere Menschen für sich vollkommen anders gezeichnet oder abgespeichert haben. Zum Glück haben sich bei „Die Mitte der Welt“ sehr viele Leser*innen auf den Film eingelassen.
Jonas:
Der Film bedient sich nicht nur einer eigenständigen Bildsprache, sondern wird auch mit speziellen visuellen Effekte aufgeladen, die das Buch gar nicht liefern kann. So friert zum Beispiel an einer Stelle kurz das Bild ein und wird rot gefärbt. Und am Anfang des Films arbeitest du mit einer Art Collage, bei der du Fotos von „normalen“ Familien hintereinander geschnitten hast. Helfen solche Elemente, das filmische Werk individueller zu machen und stärker vom Buch abzuheben?
Ich wollte stille Intimität im Wechsel mit lauten, übertriebenen »larger than life«-Momenten, für die man so gerne ins Kino geht.
Jakob:
Von Anfang an war es mein Wunsch, keinen homogenen Stil zu verfolgen – der Film sollte so divers sein wie die Gesellschaft, die Menschen, die Charaktere. Dabei war es mir wichtig, einen Gegensatz herzustellen zwischen der nahbaren, begleitenden und authentischen Erzählweise einerseits und der visuellen Opulenz des Kinos andererseits. Ich wollte stille Intimität im Wechsel mit lauten, übertriebenen „larger than life“-Momenten, für die man so gerne ins Kino geht und für die man eine fette Leinwand braucht. Die von dir beschriebenen Effekte haben mir geholfen, diese großen Momente zu unterstreichen.
Die Collage am Anfang des Films mag ich übrigens besonders gerne. Diese Verspieltheit zeigt aufs Neue, dass Film nicht nur ein dokumentarisches Medium ist, sondern auch ein künstlerisches und unerwartetes. Außerdem hat mir dieser Kunstgriff geholfen, 50 Seiten familiäre Vorgeschichte aus dem Roman in wenigen Minuten Film zu erzählen.
Jonas:
Für diejenigen, die sich auf Instagram, Snapchat & Co. herumtreiben, dürfte dieser Effekt nichts wirklich Neues sein – er entspricht ihren Sehgwohnheiten.
Jakob:
Ganz genau. Nur dass Film im Allgemeinen den Anspruch hat, auch erzählerisch das Maximum rauszuholen – aus der klugen Kombination von Script, Sprache, Bildwelt, Ton, Effekten und Charakteren.
Jonas:
Blicken wir in die Zukunft. „Die Mitte der Welt“ liegt hinter dir, es sind also wieder Kapazitäten frei. Was ist dein nächstes Projekt?
Jakob:
Ich arbeite gerne an diversen Filmprojekten gleichzeitig. Es ist einfach sicherer, auf mehrere Pferde zu setzen – wir haben ja eben schon darüber gesprochen, wie schnell ein Film vor dem Aus stehen kann, wenn sich beispielsweise kein Hauptdarsteller findet.
Zur Zeit arbeite ich unter anderem an einer Serie, die sich mit der Frage auseinandersetzt, wie sich unsere Beziehungen künftig verändern. Dieses Projekt geht zurück auf meine Dankesrede Mitte Januar beim Bayerischen Filmpreis, als ich für „Die Mitte der Welt“ ausgezeichnet wurde. Die Rede endete mit dem Satz: „Dieser Preis ist für alle, die anders leben und anders lieben.“ Nach der Veranstaltung kamen Produzenten auf mich zu, die mir sagten, dass dieses Thema – anders zu leben und anders zu lieben – ihrer Meinung nach gerade mehr als aktuell sei und förmlich in der Luft liege. Und so kam eins zum anderen.
Unsere Generation der Millenials ist ja eine, die ganz und gar in Projekten denkt und lebt. Die Beziehungen, die wir führen, sind davon nicht ausgeschlossen. Unsere Beziehungen müssen heute wahnsinnig viel können – so viel wie früher ganze Freundeskreise geleistet haben. Auf der einen Seite müssen sie Sicherheit und Vertrautheit bieten, auf der anderen Seite müssen sie permanent aufregend und spannend sein. Die Sehnsucht nach dem Unerwarteten und nach Freiheit steht gleichbedeutend neben dem Wunsch, sich bei jemandem zuhause zu fühlen. Wir sind die erste Generation, die das alles in eine einzige Beziehung packen will.
Bei der Entwicklung der Serie stelle ich mir daher folgende Fragen: Was müssen Beziehungen heute können? Welche Bedeutung haben Lust, Liebe und Körperlichkeit? Was versteht man überhaupt unter einer modernen Beziehung? Entspricht die Idee der Monogamie noch der Lebensrealität? Oder werden wir in Zukunft viele verschiedene Wegbegleiter haben – wie ein Planetensystem, das um uns kreist?
Jonas:
Du sagst, dass du immer auf mehrere Pferde setzt – welche anderen Projekte liegen gerade auf deinem Schreibtisch herum?
Jakob:
Ein weiteres Projekt, an dem ich gerade sitze, trägt den Titel „Valeska“ und basiert auf der Autobiografie mit „Blumen für ein Chamäleon“, die 2013 erschienen ist. Es ist die wahre Geschichte einer jungen Frau, die in den 80er Jahren hier in Deutschland eine Friseurausbildung macht und per Zufall von einem französischen Fotografen entdeckt wird. Wenig später wird sie von einer Modelagentur nach Paris eingeladen, unter Vertrag genommen und ist als Model binnen kürzester Zeit total gefragt. Sie hat allerdings ein großes Geheimnis, von dem niemand erfahren darf: Sie wurde als Junge geboren.
Jonas:
Wie bist du auf diese Story gestoßen?
Jakob:
Lustigerweise auch wieder per Zufall. Als das Buch erschienen ist, habe ich dazu in irgendeiner Zeitschrift eine kurze, aber total spannende Verlagsankündigung gelesen. Mit nur wenigen Zeilen hat es der Text geschafft, neben einem kleinen Augenzwinkern auch eine persönliche Tiefe zu transportieren, die mich sehr gefesselt hat. Und da ich das Thema Identität ohnehin spannend finde, habe ich mir das Buch besorgt und angefangen zu lesen. Schon nach der Hälfte habe ich dem Verlag geschrieben, dass ich gerne die Option zur Verfilmung erwerben würde, und bin dadurch auch relativ schnell mit der Autorin in Kontakt gekommen. Durch die vielen Gespräche mit ihr wurde die Story für mich nochmal eine Stufe spannender.
Mein Traum wäre es, mit einer Transgender-Schauspielerin zu arbeiten.
Jonas:
Wann ist Drehbeginn?
Jakob:
Ich befürchte, dass wir mit dem Dreh nicht vor 2019 starten können, unter anderem weil dieses Projekt ein größeres Investitionsvolumen braucht und die Produktionsbudgets der Sender für das kommende Jahr schon relativ ausgebucht sind. Ganz aktuell sitze ich an der dritten Drehbuchfassung, die dazu verdammt ist, richtig gut zu werden – mit dieser Fassung entscheidet sich, ob wir für den Film eine Förderung erhalten oder nicht.
Aber schon im nächsten Jahr starten wir ein großes Casting für den Film, auf das ich mich sehr freue. Mein Ziel ist es auch hier, möglichst authentische Darstellerinnen und Darsteller zu finden, mit denen ich die Geschichte glaubhaft und lebensnah erzählen kann. Mein Traum wäre es, mit einer Transgender-Schauspielerin zu arbeiten, die für diesen Film allein aus ihrer eigenen Persönlichkeit heraus viel Erfahrung mitbringen und so die Rolle sicherlich noch viel intensiver gestalten kann.
Jonas:
Lass mich raten – es gibt sicher noch ein drittes Pferd, auf das du setzt.
Jakob:
Stimmt. Ein weiteres, sehr spannendes Projekt ist ein Fernsehspiel, das auf dem Roman „Erwachsene reden. Marco hat was getan“ von Kirsten Boie basiert. In dem Buch, das 1994 erschienen ist, geht es um einen 15-jährigen Jungen, der einen Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim verübt hat. Dabei sind zwei Kinder ums Leben gekommen. Thematisch greift die Story damit die vielen traurigen Ereignisse Anfang der 90er Jahre auf, als es überall in Deutschland abscheuliche Angriffe auf Ausländer gab – wie etwa bei den tödlichen Brandanschlägen in Solingen und Mölln oder bei den Ausschreitungen und gewalttätigen Übergriffen in Rostock-Lichtenhagen. In der Verfilmung möchte ich den Bogen schlagen in die Gegenwart.
Jonas:
Schon wieder ein Thema, das nichts an gesellschaftlicher Aktualität eingebüßt hat.
Jakob:
Ja, leider. Als ich das Buch zum ersten Mal gelesen habe, war ich noch ein Jugendlicher. Und heute, über 20 Jahre später, ist das Thema immer noch – oder schon wieder – so aktuell, wie man es nie gehofft hatte.
Das Besondere an dem Buch ist, dass es nicht nur inhaltlich krass ist, sondern auch stilistisch sehr besonders. Die Geschichte wird aus den unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten erzählt, und das durchgehend in Interviewform. Alle Interviewten schildern dabei ihre Sicht auf den besagten Marco, der dabei selbst nie zu Wort kommt.
Für mich ist das Ganze auch deswegen so spannend, weil dem Leser durch diese Erzählweise drei Ebenen eröffnet werden: Er erfährt nicht nur etwas über die Tat und über den Täter, sondern auch über die interviewten Personen selbst, die sich von der Tat distanzieren. Im Verlauf des Buchs erfährt man zwischen den Zeilen, dass eigentlich alle Befragten eine gewisse Mitschuld an der Tragödie tragen. Auch wenn sie nicht unmittelbar an der Tat beteiligt waren, haben sich dennoch schuldig gemacht – durch Unterlassen, durch Überfordern, durch ihr in Worte gefasstes Gedankengut.
Man muss das Große klein machen, um es zu verstehen.
Jonas:
Wie gehst du an eine solche Geschichte heran?
Jakob:
Erstens voller Demut – wie bei jedem fremden Stoff. Und zweitens mit meinem bewährten Prinzip des Zerlegens. Man muss das Große klein machen, um es zu verstehen. Das ist wie im Leben: Wenn man diese komplexe, vielteilige Welt begreifen will, muss man sich mit ihren Einzelteilen befassen. Das ist auch etwas, was ich meinen Drehbuch-Workshops für Jugendliche versuche zu vermitteln.
Jonas:
Diese Workshops bietest du bereits seit 2011 an: Einmal im Jahr können dort ein knappes Dutzend 15- bis 18-Jährige ein paar Tage lang intensiv erfahren, wie man Filme macht. Was können die Jugendlichen von dir lernen?
Jakob:
Ich glaube, das Wichtigste, was man von mir lernen kann, ist Offenheit, Ehrlichkeit und Mut – Mut, um sagen zu können: „Das weiß ich nicht, bitte hilf mir dabei.“ Als ich vor sechs Jahren angefangen habe, diese Workshops anzubieten, war in mir selbst auch noch eine große Unsicherheit – ich dachte, ich sei noch viel zu unerfahren, um anderen etwas beizubringen zu können. Gegen diese Unsicherheit gibt es aber ein einfaches Rezept. Man muss den Jugendlichen auf Augenhöhe und als Partner begegnen. Daher mache ich ihnen gleich am ersten Tag klar: Ihr bekommt hier etwas von mir, aber ihr müsst mir dafür auch etwas geben – alleine schaffe ich es nicht.
Darüber hinaus gibt es noch etwas anderes, was ich ihnen sage: Alles, was ich euch hier beibringe, ist nicht die Wahrheit! Zumindest nicht die einzige, allgemein gültige. Ich vermittle in den Workshops lediglich meine eigene, individuelle Herangehensweise. Dieses Angebot muss jeder Jugendliche nehmen und zu seinem ganz persönlichen Modell umformen. Es geht darum, seinen eigenen Weg zu finden und ihn dann auch zu gehen.
Und was ich ganz besonders feiere, ist die Gewissheit, dass ich den Jugendlichen auch eine soziale Komponente mitgeben kann – in Form von Akzeptanz, Aufgeschlossenheit und Mut zur Vielfalt.
Jonas:
Und was kannst du selbst von den Jugendlichen lernen?
Jakob:
Ich bin jedes Jahr aufs Neue tief beeindruckt von der Unbefangenheit und dem Feuer, mit dem die Kids an die Sache herangehen. Wenn dieses Feuer einmal entzündet ist, sind sie nicht mehr zu bremsen. In diesen Momenten merke ich, wie sehr ich es liebe, selbst mit ganzem Herzen für etwas zu brennen und mich darin zu verlieren. Und jeden Tag besser zu werden in dem, was ich tue.