Michael Bradler
Portrait — Michael Bradler
Sieger der Geschichte
Weil er im Januar 1982 aus der DDR ausreisen wollte, wurde Michael Bradler von der Stasi verhaftet. Ein Dreivierteljahr lang saß der damals 20-Jährige im Gefängnis, davon mehrere Monate in Isolationshaft. Heute führt er als Zeitzeuge durch die ehemalige Haftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen.
22. Januar 2018 — MYP N° 22 »Widerstand« — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotos: Maximilian König
Als sich Michael Bradler am 11. Januar 1982 um 16:25 Uhr der Grenzübergangsstelle Sonnenallee in Ost-Berlin näherte, musste er seinen ganzen Mut zusammennehmen. Gerne hätte er in der Kneipe, die auf dem Weg lag, noch einen Cognac getrunken, aber man hatte dort seine Lieblingsmarke „Auslese“ nicht vorrätig. Also trat der 20-Jährige nüchtern vor das Wachhäuschen, schob seinen blauen DDR-Ausweis unter der Scheibe durch und erklärte dem wachhabenden Grenzposten, er wolle nach mittlerweile sieben erfolglosen Ausreiseanträgen sofort nach West-Berlin übersiedeln. Um seinem Vorhaben ein wenig Nachdruck zu verleihen, raunte er noch flapsig hinterher: „Die DDR ist mir scheißegal!“ Dann wurde er festgenommen. Erst ein Dreivierteljahr später war er wieder ein freier Mann – freigekauft durch die Bundesrepublik Deutschland und mit der Erfahrung monatelanger Isolationshaft in der zentralen Untersuchungshaftanstalt I des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Oder kurz: im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen.
Knapp 36 Jahre später steht Michael Bradler wieder hier, und das mehrmals pro Woche: 1994, fünf Jahre nach dem Mauerfall und vier Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, wurde auf dem ehemaligen Gefängnisgelände eine Gedenkstätte errichtet, die im Juli 2000 in eine selbstständige Stiftung des öffentlichen Rechts überführt wurde. Für diese Stiftung ist Bradler seit vielen Jahren als Zeitzeuge tätig und führt Woche für Woche interessierte Besucher durch genau den Ort, an dem er selbst für viele Monate eingesperrt war – und das nur, weil er von einem Land in ein anderes übersiedeln wollte. Darüber hinaus übernimmt er auch Führungen in der ehemaligen Stasi-Zentrale im Stadtteil Lichtenberg, die nur wenige Kilometer südlich der Gedenkstätte Hohenschönhausen liegt und von der aus die systematische Überwachung und Repression der DDR-Bevölkerung organisiert wurde.
Michael Bradler wuchs ideal zu den Vorstellungen des Sozialismus auf, beide Eltern waren Mitglieder der SED.
Dass Michael Bradler als junger Mann den Entschluss fasste, die DDR zu verlassen, war ihm keineswegs in die Wiege gelegt. Im Juni 1961, kurz vor dem Mauerbau, kam er in Ost-Berlin zur Welt und wuchs mit einem älteren Bruder und einer älteren Schwester „ideal zu den Vorstellungen des Sozialismus“ auf, wie er sagt. Beide Eltern waren Mitglieder der SED, die Mutter arbeitete im Ministerium des Inneren in einer nicht unbedeutenden Position, der Vater war stellvertretender Direktor im Ministerium für Wissenschaft und Technik – jedenfalls offiziell. Was genau der Vater beruflich tat, weiß Michael Bradler bis heute nicht. Die Tatsache, dass sich dessen Dienstsitz auf demselben Gelände befand, auf dem zeitweise auch die Abteilung III der Staatsicherheit mit Schwerpunkt Funkaufklärung ansässig war, macht ihn immer noch etwas stutzig. Unterlagen von damals, die etwas Licht in die Sache bringen könnten, gibt es leider nicht mehr. Sie fielen wohl – wie so viele Informationen zu wichtigen DDR-Funktionären – der konzertierten Vernichtungsaktion der Stasi in den Wochen und Monaten nach dem 9. November 1989 zum Opfer.
Als 1971 Michael Bradlers Mutter starb, sprangen die Großeltern mütterlicherseits zur Hilfe und kümmerten sich ab nun verstärkt um ihn und seine Geschwister. Über die Jahre entwickelte er ein immer engeres Verhältnis zu den Großeltern, die mit ihren Jahrgängen 1900 und 1901 bereits zwei Weltkriege und die Gründung der DDR erlebt hatten. „Auch bei den Großeltern“, so erinnert sich Michael Bradler, „stimmte im Wesentlichen die Einstellung, was die DDR betrifft.“ Ab und zu machten sie mal einen Ausnahme und ließen die Enkel West-Fernsehen schauen: „Das war dann meistens so etwas wie Bonanza – als Kind schaut man ja das, was einen interessiert.“
»Wenn wir politische Informationen haben wollten, bekamen wir die hauptsächlich aus der DDR, die mir bis dahin auch ein klares Feindbild vermittelt hatte.«
„Hin und wieder“, sagt Bradler, „haben wir auch die Tagesschau oder andere West-Nachrichten geschaut. Aber wenn wir politische Informationen haben wollten, bekamen wir die hauptsächlich aus der DDR, die mir bis dahin auch ein klares Feindbild vermittelt hatte. Da hieß es: ‚Im Westen, da leben die ganzen bösen Menschen – Kapitalisten, Faschisten, Nazis. Und die, die dort keine Kapitalisten, Faschisten oder Nazis sind, sind Sozialhilfeempfänger, arbeitslos, drogenabhängig, Terroristen oder sonst was.’ Wenn man das sein Leben lang hört, verändert das einen irgendwann. Und als Kind ist man dafür sowieso sehr empfänglich.“
Doch dann kam 1977. Dieses Jahr sollte Michael Bradler nachdrücklich prägen, denn es brachte gleich zwei einschneidende Ereignisse mit sich: Zum einen durfte ein sehr guter Schulfreund von ihm, Thomas, mit seiner Mutter die DDR verlassen. Zum anderen hatten ihm die Großeltern eröffnet, dass sie ebenfalls in den Westen ausreisen würden. Bradler war verwirrt: „Ich fragte mich: Thomas und meine Großeltern wollen plötzlich irgendwo leben, wo alles so böse und schlecht sein soll?“ Und so fing er an, sich mehr und mehr mit dem Thema zu beschäftigen. Er schaute bestimmte Sendungen im West-Fernsehen und versuchte, sich öfter mal mit West-Berlinern auszutauschen, die in der DDR auf Besuch waren. „Ich war damals 16, in dem Alter hat man sowieso den Drang, sich nach allen Seiten zu orientieren“, erzählt er. „Am wichtigsten war mir in dieser Zeit, den Kontakt zu Thomas und meinen Großeltern nicht abreißen zu lassen. Die durften ja nach wie vor in die DDR einreisen.“
»Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass die mir nicht alles erzählen, dass die mich anlügen. Und vor allen Dingen: dass die mich einengen.«
Dieses Jahr 1977 setzte in Michael Bradler einen längeren Prozess in Gange, der letztendlich vier Jahre anhalten sollte. Nach und nach stellte er fest, so sagt er, dass irgendetwas nicht stimmte in der DDR: „Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass die mir nicht alles erzählen, dass die mich anlügen. Und vor allen Dingen: dass die mich einengen.“ Und so entschloss er sich im Sommer 1981, einen „Antrag auf ständige Ausreise“ in den Westen Deutschlands zu stellen und damit die DDR zu verlassen. „Der eigentliche Auslöser für diesen Entschluss – es gibt ja für alles einen gewissen Auslöser – war, dass es meinem Schulfreund Thomas ab dem Sommer 1981 plötzlich nicht mehr erlaubt war, in die DDR einzureisen. Ich hatte Angst, dass meinen Großeltern das Gleiche passieren könnte.“
Als Begründung für seinen Ausreiseantrag gab Michael Bradler an, seine Großeltern in West-Berlin unterstützen zu wollen, die mittlerweile in einem gewissen Alter und dementsprechend auf Hilfe angewiesen waren. „Einen Ausreiseantrag zu stellen erschien mir als die für mich einzige legale Möglichkeit, die DDR zu verlassen“, erzählt er. „Eine Flucht kam für mich von vornherein nicht in Frage. Ich wollte nicht an der Mauer erschossen werden – dass man dort erschossen wird, wusste man aus den West-Nachrichten. Die Nachrichten der DDR haben das zwar nicht verbreitet, aber wenn man genau hinhörte, konnte man erfahren, dass Grenzzwischenfälle auch meistens mit Schusswechseln verbunden waren. Das war mir einfach zu gefährlich.“
Um einen Ausreiseantrag zu stellen, habe man sich zu der Abteilung Inneres des Rates des jeweiligen Kreises oder Stadtbezirks begeben müssen, in dem man gemeldet war, erklärt Michael Bradler. Diese Abteilungen, so weiß man heute, arbeiteten eng mit der Stasi zusammen, die daraufhin die Antragsteller beobachtete. „In dieser Abteilung Inneres des Stadtbezirkrats saßen Leute, vor denen man einen gewissen Respekt hatte, man wusste ja nicht, wie sie reagieren würden. Wenn man seinen Antrag dort abgegeben hatte, wurde er geprüft – diese Prüfung dauerte in meinem Fall 15 Sekunden, dann wurde er abgelehnt. Verwaltungsgerichte in der Form, wie wir sie in der Bundesrepublik kennen, gab es nicht. Man musste sich mit der Entscheidung abfinden. Wenn nicht, blieb einem nur noch die Flucht.“
»Thomas erzählte, dass man im Westen ohne Probleme in andere Länder reisen konnte. Da fragt man sich natürlich: Wieso kann der das und ich nicht?«
Um irgendwie mit Thomas in Kontakt zu bleiben, fuhr Michael Bradler zusammen mit seiner Schwester Ende September 1981 in die Tschechoslowakei. „Wir durften nicht in den Westen fahren, er durfte nicht in die DDR. Also mussten wir uns irgendwo anders treffen”, erzählt er. Das Wiedersehen mit seinem Schulfreund war für ihn prägend. Bereits in der DDR hatte Bradler ihm telefonisch von seinem Ausreiseantrag berichtet, jetzt hatte er zwei Kopien dabei, die er Thomas aushändigte – mit der Bitte, ihn von West-Berliner Seite zu unterstützen. Thomas wiederum erzählte, dass er zwischenzeitlich eine Ausbildung zum KFZ-Mechaniker bei Mercedes-Benz angefangen hatte. Schon wieder war Michael Bradler irritiert: „Uns in der DDR sagte man immer, dass die Schüler im Westen extreme Probleme hätten, nach ihrem Schulabschluss einen Ausbildungsplatz zu finden – da konnte also irgendetwas nicht stimmen. Thomas erzählte auch, dass man im Westen ohne Probleme in andere Länder reisen konnte. Da fragt man sich natürlich: Wieso kann der das und ich nicht?“ Da Thomas nicht irgendein West-Bürger war, sondern ein guter Freund, gab es für Michael Bradler keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Dass Bradler dieses Treffen mit Thomas, dem West-Bürger, nicht der Stasi gemeldet hatte und dass er diesem West-Bürger zudem noch von seinem Antrag auf ständige Ausreise erzählt hatte, sollte ein Jahr später zu Michael Bradlers Verurteilung vor Gericht führen. Aber dazu später mehr.
Nach seiner Rückkehr aus der Tschechoslowakei fing Bradler an, sich intensiv mit der Frage auseinanderzusetzen, wie er die DDR verlassen könnte, und beschloss Anfang Oktober, einen zweiten Ausreiseantrag zu stellen. Was er in dem Zusammenhang nicht wusste: „Alleine deshalb hätte ich nach DDR-Recht bereits verhaftet werden können – die DDR schuf sich ihre Gesetze eben so, wie sie sie gerade brauchte. Diese Gesetzte kannte man in der Regel aber nicht, da man in der DDR nicht ohne Weiteres Zugang zu juristischen Unterlagen oder Gesetzestexten erhalten konnte. Und so dolle mit den Rechtsanwälten war es in der DDR auch nicht.“
Und so stellte Michael Bradler von August bis Dezember 1981 insgesamt sieben Ausreiseanträge – jedes Mal ohne Erfolg. Als auch der siebte Antrag abgelehnt wurde, kam in ihm so langsam die Befürchtung auf, dass der Staat ihn bald zur Nationalen Volksarmee einziehen würde und es dann zu spät wäre: „Mir war klar, dass ich keine Chance mehr hätte, die DDR zu verlassen, wenn ich erst einmal bei der Armee war. Wir waren ja mitten im Kalten Krieg. Wer da als NVA-Mitglied einen gewissen militärischen Wissensstand hatte, der hätte niemals in den Westen reisen dürfen. Umgekehrt war das bei der Bundeswehr nicht anders, das war zu dieser Zeit halt so.“
Von 1963 bis zum Fall der Mauer 1989 verkaufte die DDR etwa 33.000 politische Gefangene an die Bundesrepublik.
Im Laufe der weiteren Suche nach einer Möglichkeit, das Land zu verlassen, erfuhr Michael Bradler dann etwas von einem möglichen Häftlingsfreikauf durch die Bundesrepublik: „Ich hatte gehört, dass Leute, die nach bundesdeutschem Recht unschuldig in einem Gefängnis der DDR saßen, regelmäßig von der BRD freigekauft wurden.“ Und tatsächlich: Von 1963 bis zum Fall der Mauer 1989 verkaufte die DDR etwa 33.000 politische Gefangene an die Bundesrepublik. Kostete ein Mensch am Anfang noch 40.000 DM, kletterte der Preis zwischenzeitlich auf bis zu 200.000 DM pro Häftling und pendelte sich bis zum Ende der DDR bei pauschal 96.000 DM ein. So zahlte der Westen in gut 25 Jahren etwa drei Milliarden DM an die DDR, die wegen ihrer maroden Wirtschaft dringend auf Devisen angewiesen war und für die diese Vereinbarung dementsprechend ein willkommenes Geschäft darstellte. (Quelle: Deutschlandfunk)
Und so nahm Michael Bradler am 11. Januar 1982 seinen DDR-Ausweis, begab sich zur Grenzübergangsstelle Sonnenallee und erklärte dem wachhabenden Posten, dass er nach West-Berlin ausreisen wollte. Daraufhin wurde er verhaftet und geriet in die Mühlen des Systems. „Aus meiner Sicht war relativ klar, dass die mich da nicht einfach durchlaufen lassen”, erklärt Bradler. „Aber von dem, was mich nach der Verhaftung erwarten würde, hatte ich absolut keine Ahnung. Ich kannte ja niemanden, der mal in Haft war und mir davon hätte berichten können. Ich kannte so etwas nur aus Krimis und hatte dementsprechend das Bild im Kopf, dass ich in einen dunklen Keller geschleppt und vor eine Lampe gesetzt würde.“
Bradler wurde über drei Stunden lang kommentarlos an der Grenzübergangsstelle festgehalten, bis um 19:50 Uhr zwei Männer in Zivil erschienen: „Stehnse auf, kommse!“ Auch wenn sich Bradler fest vorgenommen hatte, einen unbeirrbaren Gesichtsausdruck aufzusetzen und stark zu wirken, flatterten innerlich die Nerven. Begleitet von einigen Grenzsoldaten mit angelegter Maschinenpistole brachten ihn die beiden Männer zu einem Wartburg. Sie öffneten die Tür, drückten seinen Kopf nach unten und schoben seinen Körper in den Wagen. In ruhiger Stimmlage ordnete einer der Männer an, Bradler solle die ganze Fahrt über den Kopf unten halten und auf die Knie drücken. Dann fuhr der Wagen los.
»Sieben Stunden – das war relativ kurz für eine Erstbefragung. Ich kenne Vernehmungen, die gingen etliche Stunden länger, teilweise über Tage. Da nutzte die Stasi einfach den Schock der Verhaftung aus.«
Nach einer Viertelstunde erreichten sie die Untersuchungshaftanstalt II der Staatssicherheit in der Magdalenenstraße, die im Stadtteil Lichtenberg direkt neben der Stasi-Zentrale gelegen war. Was folgte, war Michael Bradlers sogenannte Erstbefragung – sie dauerte sieben Stunden, von 21 Uhr abends bis 4 Uhr morgens. Dazwischen gab es eine Pause von 15 Minuten. „Sieben Stunden – das war relativ kurz für eine Erstbefragung, wie man heute weiß”, erklärt Bradler. „Ich kenne Vernehmungen, die gingen etliche Stunden länger, teilweise über Tage. Da nutzte die Stasi einfach den Schock der Verhaftung aus. Es gab sogar eine spezielle Abteilung innerhalb der Stasi, die sich ausschließlich mit Verhaftungen beschäftigte.“
Nach der Befragung wurde Michael Bradler – mit den Nerven durch und furchtbar müde – in eine kleine Zelle gesperrt. Doch an Schlafen war nicht zu denken, denn das Licht blieb angeschaltet und von außen wurde permanent die Klappe des Türspions geöffnet, um ihn zu beobachten. Am frühen Morgen öffnete sich die Zellentür wieder: „Kommse!“ Nachdem man seine Hände mit Handschellen auf dem Rücken fixiert hatte, führte man Michael Bradler in einen Innenhof und zwängte ihn in einen Lieferwagen mit der Aufschrift „Rewatex“ – ein Reinigungsunternehmen der DDR. In dem fensterlosen Kleintransporter gab es insgesamt fünf Zellen für Gefangene, jede 40 cm breit, 60 cm tief und 150 cm hoch. Die Tür ging zu, das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. „In dem Moment hatte ich wahnsinnige Angst und fragte mich: Was passiert jetzt? Man erhält ja keinerlei Informationen, so nach dem Motto: Jetzt hat sich der Strafbestand erhärtet, jetzt ermitteln wir erst mal in aller Ruhe weiter. Eine wirkliche Anklage gab es erst viel später.“
In völliger Dunkelheit und ohne die Möglichkeit, sich mit gefesselten Händen irgendwo festzuhalten, schlug Michael Bradler mit seinem Kopf immer wieder gegen die Metallwände seiner kleinen Gefangenenzelle. Mal fuhr der Kleintransporter nach links, mal nach rechts, mal ruckelte er über Kopfsteinpflaster, mal fuhr er über glatteren Asphalt. Nach einer Weile hielt das Fahrzeug an und es war zu hören, wie ein großes Tor geöffnet wurde. Dann setzte sich der Transporter wieder in Bewegung und kam kurz darauf zum Stehen.
Die Tür des Lieferwagens wurde geöffnet und Michael Bradler aus dem Fahrzeug gezogen. Ein gleißendes Licht schlug ihm entgegen. „Man weiß nicht, wo man ist, und ist völlig orientierungslos. Dann kommt man aus dem Lieferwagen raus und steht in einem so hell erleuchteten Raum, dass man glaubt zu erblinden.“ Kaum war er ausgestiegen, wurde er auch schon über einige Treppenstufen hinauf zu einer Tür getrieben, dann ging es hin und her durch etliche Korridore. „Ich wurde regelrecht angebrüllt, das war permanente Einschüchterung”, berichtet er. „Kommense! Gehnse! Hände auf den Rücken! Kopf nach unten!“
»Man kann eine Durchsuchung menschenwürdig durchführen oder diskreditierend. Hier war das Diskreditierende an der Tagesordnung, egal ob der Gefangene männlich oder weiblich war.«
Dann wurde eine Tür aufgesperrt. „An die Wand! Ausziehen! Hose runter!“ Was jetzt passierte, bezeichnet Michael Bradler heute als sogenannte Entpersonifizierung. Vor einer Gruppe von Wachposten stand er nun splitterfasernackt da, musste sich bücken und wurde auf die entwürdigendste Weise durchsucht. „Als das passierte, war ich wie in Trance. Man kann eine Durchsuchung menschenwürdig durchführen oder diskreditierend. Hier war das Diskreditierende an der Tagesordnung, egal ob der Gefangene männlich oder weiblich war. Da haben die keinen Unterschied gemacht.“
Nach dieser Tortur wurde er wieder auf einen Gang getrieben, immer noch vollkommen nackt. Ein weiterer Raum öffnete sich, jetzt wurde die Häftlingskleidung ausgehändigt. Danach ging es weiter zu einem dritten Raum – seine zukünftige Zelle. „Darin gab es einen Holzhocker, einen Holztisch, ein Holzbett, eine Toilette und ein Waschbecken. Kein richtiges Fenster, nur Glasbausteine. Auf dem Bett lagen eine Matratze und Bettzeug. Das war’s.“ Als er nun alleine in seiner Zelle war, so sagt er, sei Angst für ihn ein riesengroßer Faktor gewesen. „Was könnte jetzt passieren? Was machen die mit mir? Man malt sich viele Sachen aus, aber findet keine Antworten.“ Irgendwann schlief Michael Bradler ein. Einige Zeit später – wann genau, daran kann sich Bradler nicht mehr erinnern – wurde er aus seiner Zelle geholt: „Kommse!“ Und dann ging es wieder über diverse Gänge. Wenn an der Decke eine rote Lampe anging, musste er stoppen. Dann hieß es: „Halt! Gesicht zur Wand!“ Mit Hilfe roter und grüner Lampen wollten die Wachposten vermeiden, dass sich einzelne Gefangene auf den Korridoren begegnen. Leuchtete die Lampe rot, wurde gerade ein anderer Häftling durch einen Gang geführt. Leuchtete sie grün, war der Weg wieder frei.
Michael Bradler wurde nun einem Haftrichter vorgeführt, der den Haftbefehl mit dem Aktenzeichen „HsC.: 1/82“ verlas: „Der BRADLER, Michael – geb. am 22.6.1961 in Berlin ist in Untersuchungshaft zu nehmen. Er wird beschuldigt, sich der landesverräterischen Nachrichtenübermittlung schuldig gemacht zu haben, indem er im Zeitraum von August bis Dezember 1981 7 Anträge an staatliche Organe der DDR gerichtet hat, um seine Entlassung aus der Staatsbürgerschaft zu erreichen. Gleichzeitig informierte er den westberliner Bürger (geschwärzt) über diese Aktivitäten. Er übersandte ihm zwei Durchschriften seiner Ausreiseanträge und telefonierte zu diesem Zweck ständig mit ihm und führte mit diesem einen Treff in der Tschechoslowakei durch. (geschwärzt) wurde von ihm beauftragt, ihm Hilfe bei der beabsichtigten rechtswidrigen Übersiedlung nach Berlin-West zu gewähren und zu diesem Zweck Verbindung zu den entsprechenden Stellen in Berlin-West herzustellen. Verbrechen gem. § 99 (1) StGB. Er ist dieser Straftat dringend verdächtig. Die Anordnung der Untersuchungshaft ist gemäß § 122 (1) 2 StPO gesetzlich begründet, weil ein Verbrechen den Gegenstand des Verfahrens bildet.“ (Quelle: Haftbefehl, Kopie BStU)
»Zwölf Jahre Knast? Landesverräterische Nachrichtenübermittlung? Ich habe doch nur Ausreiseanträge gestellt.«
Was nicht im Haftbefehl stand, war der Satz, den der Haftrichter noch nachgeschoben hatte: „Die Höchststrafe für landesverräterische Nachrichtenübermittlung beträgt zwölf Jahre.“ Als Michael Bradler wieder zurück in seine Zelle geführt wurde, war er geschockt. Er konnte es einfach nicht glauben: „Zwölf Jahre Knast? Landesverräterische Nachrichtenübermittlung? Ich habe doch nur Ausreiseanträge gestellt.“ Heute weiß er, dass es das Ziel der Stasi war, ihn durch diese abschreckende Ankündigung zu zermürben und ihm den Gedanken auszutreiben, die DDR verlassen zu wollen.
„Die nächsten Wochen und Monate wurden bestimmt von unzähligen Vernehmungen, in den ersten vier Wochen täglich, dann wurden die zeitlichen Abstände größer”, erinnert sich Michael Bradler. „Wie viele Vernehmungen ich aber letztendlich hatte, kann ich nicht lückenlos nachvollziehen. Es gab nicht von jeder Vernehmung ein handschriftliches oder per Schreibmaschine verfasstes Protokoll. Es gab auch keine feste Dauer. Mal dauerte eine Vernehmung den ganzen Tag mit einer kurzen Pause zwischendurch, mal dauerte sie nur ein, zwei Stunden. Dahinter war kein System zu erkennen – genauso wie nicht zu erkennen war, was die überhaupt von mir wollten.“
Während dieser Zeit fing die Stasi an, in Bradlers Umfeld zu recherchieren. MfS-Mitarbeiter befragten Nachbarn, Arbeitskollegen Freunde aus dem Sportverein und Familienmitglieder. Teilweise wurden diese Personen zu einer Befragung vorgeladen. „Die Stasi versuchte herauszufinden, wer mich dazu bringen könnte, in der DDR zu bleiben. Sie entschied sich dann relativ schnell für meinen Vater, was aus der damaligen Sicht auch eine logische Entscheidung war. Meine Mutter war tot, meine Großeltern waren im Westen, da war der Vater eine umso stärkere Bezugsperson.“ Die Strategie der Stasi, so erzählt Bradler, sei es daraufhin gewesen, in den Vernehmungen systematisch seine Familie schlechtzumachen: „Sie sagten, mein Bruder hätte mich belogen, meine Schwester hätte mich belogen, mein bester Kumpel auch und meine Großeltern sowieso. Nur mein Vater hätte mich nie belogen. Er wäre der Einzige gewesen, der mir gegenüber immer ehrlich gewesen wäre. Und so haben sie ein Treffen mit meinem Vater organisiert, um mich mit ihm zu konfrontieren.“
»Mein Vater versuchte mich umzustimmen und sagte: ›Entweder du ziehst jetzt deine Ausreiseanträge zurück oder du bist nicht mehr mein Sohn. ‹«
Für dieses Treffen, das in der Haftanstalt in der Magdalenenstraße stattfinden sollte, wurde Michael Bradler nach Lichtenberg gefahren – wieder im Kleintransporter. „Mein Vater versuchte mich umzustimmen und sagte: ‚Entweder du ziehst jetzt deine Ausreiseanträge zurück oder du bist nicht mehr mein Sohn.’ Und das hatte er auch so gemeint. Mein Vater war voll und ganz von dieser DDR überzeugt. Er wuchs mit dem ideologischen Bild auf, dass die DDR das Gute verkörperte und der Westen ihr natürliches Feindbild war. Ich glaube nicht, dass er die Wende verstanden hätte, wenn er sie noch erlebt hätte.“
Michael Bradler ließ sich von seinem Vater nicht umstimmen und wurde zurück nach Hohenschönhausen gebracht. Vater und Sohn sahen sich nach diesem Treffen nie wieder, der Vater starb 1985 mit 53 Jahren. „Bis dahin“, sagt Bradler, „hätten sie alles wieder einstampfen können. Sie hätten sagen können: ‚Okay, jetzt bist du geläutert. Du gehst zurück in die DDR, ordnest dich da unter und lebst dein Leben weiter – natürlich ohne jemals darüber zu berichten, dass du hier inhaftiert warst.’ Doch darauf wollte ich einfach nicht eingehen. Für mich war damals die Perspektive relativ schlecht, wieder in die DDR eingegliedert zu werden, denn ich hätte davon ausgehen müssen, dass ich ständig im Visier der Stasi gewesen wäre oder dass ich – als nächste Konsequenz – meine Großeltern nicht wiedergesehen hätte.“
Bis ihm am 20. Mai 1982 endlich der Prozess gemacht wurde, hatte Michael Bradler in der Einzelhaft mit „zermürbender Langeweile“ zu kämpfen, wie er es nennt. „Wie viele Leute dem Druck nicht standgehalten haben und in der Isolationshaft tatsächlich durchgedreht sind, weiß man nicht. Man konnte das nur aushalten, wenn man für sich irgendeine Beschäftigung finden konnte – aber dafür gab es natürlich keinen Ratgeber. Die einen haben Matheaufgaben gelöst, die anderen haben Gedächtnisprotokolle erstellt, wieder andere haben gebetet”, erzählt er. „Ich selbst habe irgendwann angefangen, Würfel aus Brot, Marmelade und Wasser zu basteln. Das fand ich sehr entspannend. Man muss nur aufpassen, nicht erwischt zu werden – es war ja verboten, sich zu beschäftigen.
Mitte März hatte für Michael Bradler die Einzelhaft ein Ende, er wurde in eine Zweierzelle verlegt: „Ich hatte endlich einen Gesprächspartner, das war natürlich eine schöne Sache. Aber ich war auch recht misstrauisch, denn ich wusste nicht, ob mein Gegenüber Freund oder Feind war.“ Bradlers Zimmergenosse hieß Horst und war 52 Jahre alt. „Auch das war, denke ich mal, beabsichtigt. Wenn man zwei 20-Jährige in eine Zelle sperrt, kommen die immer schnell auf dumme Gedanken. Aber ein 52-Jähriger und ein 20-Jähriger, da gibt es keine wirklichen Schnittpunkte. Das war auch bei uns beiden so, wir fanden einfach keine gemeinsame Basis. Einige Jahre später habe ich Horst noch zwei, drei Mal in West-Berlin getroffen, aber auch da haben wir gemerkt, dass unsere Interessen einfach zu unterschiedlich sind.“
»Rechtsanwalt Dr. Vogel war bei denen, die aus der DDR ausreisen wollten, ein Begriff. Man vermutete, dass der gesamte Häftlingsfreikauf über ihn abgewickelt wurde.«
Etwa vier Monate nach seiner Inhaftierung hatte Michael Bradler zum ersten Mal die Möglichkeit, mit einem Rechtsanwalt zu sprechen. Bereits im Februar war ihm während einer Vernehmung ein Buch vorgelegt worden mit den Worten: „Da stehen alle Anwälte der DDR drin. Suchen sie sich einen aus!“ Bradler entschied sich für Rechtsanwalt Dr. Vogel: „Der war bei denen, die aus der DDR ausreisen wollten, ein Begriff. Man vermutete, dass der gesamte Häftlingsfreikauf über ihn abgewickelt wurde.“
Nachdem Bradler nicht auf das Angebot seines Vaters eingegangen war, wurde am 14. Mai 1982 Anklage erhoben – wegen „versuchter landesverräterischer Nachrichtenübermittlung, strafbar als Verbrechen gemäß § 99 (1), (2) StGB.“ Für Michael Bradler war das Lesen der Anklageschrift eine große Freude, denn die Tatsache, dass er wegen einer politischen Straftat verurteilt werden würde, war die Grundvoraussetzung, um auf die Freikaufliste der BRD zu gelangen. „Das war die Fahrkarte in die Freiheit!“ Gleichzeitig war er aber auch ziemlich angespannt, denn er hatte ja keine Garantie, dass dieser Plan auch wirklich gelingen würde.
Nach einem zweitätigen Prozess unter – de facto – Ausschluss der Öffentlichkeit wurde Michael Bradler schließlich am 24. Mai 1982 zu einem Jahr und vier Monaten Haft verurteilt, allerdings nicht, wie in der Anklage gefordert, wegen „versuchter landesverräterischer Nachrichtenübermittlung“, sondern wegen „landesverräterischer Agententätigkeit“, strafbar nach § 100 StGB der DDR. „Verurteilt haben sie mich nicht, weil ich meinen in West-Berlin lebenden Großeltern erzählt hatte, dass ich mehrere Ausreiseanträge gestellt hatte – das wäre ‚landesverräterische Nachrichtenübermittlung’ gewesen. Aber das fanden sie wohl selber doof”, erklärt Bradler. „Verurteilt haben sie mich letztendlich aus dem Grund, weil ich mich mit einem Kumpel getroffen und ihm Kopien meiner Ausreiseanträge in die Hand gedrückt hatte, die er mit in den Westen nehmen sollte. Das war die sogenannte Agententätigkeit.“ Diese „Tat“ hatte Bradler bereits in seiner Erstbefragung am 10. Januar geschildert. „Wenn sie gewollt hätten, hätten sie mich also einen Tag nach meiner Verhaftung verurteilen können. Aber das wollten sie nicht.“
»In Cottbus war ich mit einem Wärter konfrontiert, der alles in den Schatten stellte, was ich bisher erlebt hatte.«
Nachdem das Gerichtsurteil rechtskräftig wurde, wurde Michael Bradler am 15. Juni in die Haftanstalt Rummelsburg im Südosten Berlins verlegt, kurz darauf ging es weiter ins sogenannte Zuchthaus Cottbus. Kaum dort angekommen, war er auch schon mit einem Wärter konfrontiert, „der alles in den Schatten stellte, was ich bisher erlebt hatte”, schildert Bradler. „In einer großen Sammelzelle mussten wir Aufstellung nehmen. Nach einer Weile kam ein Kerl, der uns erst mal brüllend darüber aufklärte, dass er ein ‚Erzieher’ sei. Wir sollten hier nämlich zu ‚ordentlichen Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft’ erzogen werden.“
Dieser „Erzieher“ hieß Hubert Schulze. Von den Gefangenen in Cottbus wurde er aber nur „Roter Terror“ genannt. „Er war einer von insgesamt zwei Gefängniswärtern, die nach der Wende zu einer Haftstrafe verurteilt wurden”, erzählt Michael Bradler. Zum Prozessauftakt im Oktober 1996 schrieb „Welt online“: „Hubert Schulze – ‚Roter Terror’ oder ‚Reservetod’ nannten ihn die Tausende von Häftlingen, die jahrzehntelang durch seine Cottbuser Gefängnishölle gingen. Der heute 61-Jährige mit der kräftigen Statur – ‚Ich bin Wachmann bei einem privaten Sicherheitsdienst’ – schlug Gesichter blutig (wenn jemand beispielsweise seinen Ausreiseantrag nicht zurückziehen wollte), stieß Gefangene die Treppe hinunter, ließ sie stundenlang in eiskalten Wasserbecken sitzen, trat ihnen mit Knobelbechern in den Unterleib.“ (Quelle: Welt online)
Den Misshandlungen von „Roter Terror“ konnte Michael Bradler in Cottbus entgehen, dennoch war er dort, wie alle anderen Häftlinge, permanenten Repressalien ausgesetzt. Dazu kam, dass er stellenweise mit bis zu 19 anderen, „normalen“ Kriminellen in einer gemeinsamen Zelle saß – mit einer einzigen Toilette. Ohne Trennwand. Als sich Bradler einmal krank meldete, der Arzt ihm nicht glaubte und „viel Wärme“ verordnete, wurde er in den Keller der Haftanstalt gebracht: „Dort befand sich ein Bretterverschlag, etwa eineinhalb mal eineinhalb Meter groß, in den ich eingesperrt wurde. Ein Stuhl, sonst nichts. Direkt über dem Stuhl hing eine 200 Watt-Lampe, die mir ständig auf den Kopf schien.“ So verharrte Michael Bradler ganze acht Stunden lang in Totenstille und ohne ein Glas Wasser. Später erfuhr er, dass dieser Verschlag von den Häftlingen „die Straßenbahn“ genannt wurde. „Ein gefürchteter Ort, bestens geeignet, Widerstand zu brechen und ein für allemal auszuschalten“, erzählt er.
Ende September wurde er gemeinsam mit anderen politischen Häftlingen wieder verlegt, diesmal ins Zuchthaus Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz. „Dort gab es eine rätselhafte Anweisung“, so Bradler. „Wir mussten unser gesamtes Geld ausgeben und wurden in einen offenbar extra hierfür eingerichteten Laden geführt.“ Für ihn war klar: „Freigekaufte sollten keine Ostmark ausführen.“ Seine Hoffnung wuchs rapide an, es konnte also nur noch eine Frage der Zeit sein, bis er endlich freigekauft wurde.
Dann kam der 14. Oktober 1982, ein Donnerstag. Michael Bradler wurde in das Büro der Gefängnisverwaltung beordert. „Ich konnte fast nicht mehr stillstehen vor lauter Aufregung! Kurz und knapp hieß es: ‚Hier ist ihre Urkunde über die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und ihr Haftentlassungsschein. Sie verlassen das Staatsgebiet der DDR noch heute.’“
„Schon am Mittag war es soweit“, erinnert sich Bradler. „Im Hof warteten zwei futuristische Reisebusse mit Schiebetüren, das war für DDR-Augen nicht normal. Die zwei Busse brauchten wir auch, denn wir waren um die 80 Häftlinge. Dass so viele Leute auf einmal in den Westen gefahren wurden, hatte damit zu tun, dass eine Zeit lang auf dem ‚Freikaufmarkt’ nichts passiert war. Durch den Regierungswechsel in der Bundesrepublik wusste in der DDR keiner, ob die neue Kohl-Regierung auf die bestehende Vereinbarung beibehalten würde.“
»Dort ist etwas passiert, was ich nie geglaubt hätte: Die Nummernschilder der Reisebusse haben sich gedreht, per Knopfdruck.«
„Die Busse setzten sich in Bewegung und fuhren – im Konvoi mit zwei Stasi-Fahrzeugen – zum Grenzübergang Wartha/Herleshausen“, erzählt Michael Bradler. „Dort ist etwas passiert, was ich nie geglaubt hätte, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte: Die Nummernschilder der Reisebusse haben sich gedreht, per Knopfdruck. Aus der Haftanstalt heraus waren sie noch mit DDR-Kennzeichen gefahren, jetzt waren plötzlich Nummernschilder aus dem Westen zu sehen.“ Und er berichtet weiter: „Die Busse haben auch keine Sekunde mehr auf DDR-Gebiet angehalten, soweit ich mich erinnern kann. Selbst die im Bus sitzenden Stasi-Mitarbeiter sind während des Grenzübertritts aus dem fahrenden Bus gesprungen.“
Es war geschafft, Michael Bradler war in Westdeutschland: „Als wir die Grenze hinter uns gelassen hatten, machte der Busfahrer eine Ansage, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde: ‚Wir verlassen jetzt die Rollpiste der DDR und befahren eine bundesdeutsche Autobahn.’ Schlagartig war der Bus ruhig, unter unseren Rädern hatten wir glatten BRD-Autobahnasphalt.“ Gemeinsam mit den anderen freigekauften Häftlingen wurde Michael Bradler nach Gießen gebracht, ins damalige Notaufnahmelager für DDR-Flüchtlinge. „Es gab ein Begrüßungsgeld von 150 DM, außerdem hatten wir ein Telefonat frei. Ich habe meinen alten Schulfreund Thomas in West-Berlin angerufen – aber der war schon auf dem Weg nach Gießen“, erzählt Bradler. „Thomas hatte Kontakt zur Kanzlei Dr. Vogel aufgenommen, aber da man ihm dort keine genaue Auskunft geben konnte, war er am selben Tag auf gut Glück von Berlin losgefahren.“
So sahen sich die beiden Freunde in Gießen wieder, ziemlich genau ein Jahr nach ihrem Treffen in der Tschechoslowakei. Kaum hatten sie sich begrüßt, beschlossen sie, so schnell wie möglich wieder nach Berlin zu fahren. Während sich Thomas mit dem Auto alleine auf den Rückweg machte, versuchte Michael Bradler in Gießen, noch bis zum Schließen der Ämter am frühen Freitagmittag alle erforderlichen Behördengänge hinter sich zu bringen. Am Abend nahm er einen Flug nach Tegel – zum ersten Mal in seinem Leben fliegen.Warum es Bradler zurück nach Berlin zog, ist für ihn logisch: „Meine Großeltern lebten in West-Berlin, das war mein wichtigster Bezugspunkt. Wären sie in München gewesen, wäre ich nach München gegangen, wären sie in Hamburg gewesen, wäre ich nach Hamburg gegangen. Im Prinzip habe ich Berlin nicht verlassen.“
So fing Michael Bradler am 15. Oktober 1982, sieben Jahre vor dem Fall der Mauer, ein neues Leben an: „Mir war völlig klar: Im Westen schenkt dir keiner was. Um zu etwas zu kommen, muss ich mich reinhängen. Aber durch meine Großeltern hatte ich natürlich einen verhältnismäßig einfachen Start. Und mit meiner Berliner Schnauze bin ich in West-Berlin nicht aufgefallen ¬– das nimmt sich hier vom Dialekt ja nüscht. In München oder Hamburg wäre das wohl anders gewesen.“ Bereits kurze Zeit später nahm Michael Bradler, der in der DDR Feinmechaniker gelernt hatte, einen Job in der Metallverarbeitung an, erst bei einer Privatfirma in Kreuzberg, danach bei Zeiss Ikon. „Aber dort habe ich 1987 gekündigt“, erzählt er. „Dieser Herrschafts- und Befehlston des Meisters ging mir ziemlich auf den Geist.“ Und so machte er sich wenig später selbständig. 1988 heiratete er und kurz darauf wurde sein Sohn geboren.
»Es ist gerade mal acht Uhr, wie besoffen können sie eigentlich sein?«
Als der Abend des 9. November 1989 kam, saß Bradler in einem Restaurant im West-Berliner Stadtteil Wilmersdorf: „Gegen 20 Uhr stürzte ein Taxifahrer rein und sagte: ‚Die Mauer ist offen!’ Ich habe ihn erst mal völlig entgeistert angeschaut und gefragt: ‚Es ist gerade mal acht Uhr, wie besoffen können sie eigentlich sein?’ Am Stammtisch des Restaurants unterhielten sich die Leute auch darüber, dass da irgendetwas passiert sein müsste. Aber was genau, das wusste keiner.“ Gegen 22:30 Uhr fuhr Michael Bradler nach Hause und rief seinen Schulfreund Thomas an. Spontan beschlossen sie, zum Grenzübergang Invalidenstraße zu fahren, der einer der ersten war, der nach der Bornholmer Straße geöffnet wurde. „Bereits am Lehrter Bahnhof kamen uns so viele Leute entgegen, dass wir das Auto stehen lassen mussten. Dann sind wir gegen den Strom von West- nach Ost-Berlin gelaufen“, erzählt er. „Wir haben uns überhaupt keine Gedanken gemacht. Wäre ich da einer Polizeistreife in die Hände gefallen, wäre ich vielleicht wieder verhaftet worden – ich hatte als Westler ja keine Genehmigung, nach Ost-Berlin zu fahren. Ohne Visum und ohne Zwangsumtausch war ich nicht berechtigt, mich hier aufzuhalten.“
Obwohl Michael Bradlers Geschwister noch in Ost-Berlin lebten, zog es ihn nicht mehr zurück. Er blieb lieber in West-Berlin, lebte sein freies Leben und schob die Zeit, die er in DDR-Gefängnissen verbracht hatte, weit von sich weg. „Was sollte ich die Leute im Westen damit nerven?“, fragt er. „Wenn ich mal erzählt habe, dass ich in der DDR im Gefängnis saß, und dann noch bei der Stasi, dann wurde ich gefragt: ‚Wo genau hast du denn bei der Stasi eingesessen?’ Ich sagte, ich weiß es nicht. Aber das konnten sie nicht glauben und warfen mir vor, sie anzulügen. Irgendwann lässt man es dann bleiben. Was sollte ich ihnen auch anderes sagen? Ich wusste ja wirklich nicht, wo ich in Haft war. Immer wenn ich nach Hohenschönhausen gebracht oder von dort weggefahren wurde, saß ich in einem Transporter ohne Fenster.“
»Mein Sohn ist mit einem normalen Rechtsempfinden aufgewachsen und weiß, was man darf und was nicht. Für ihn bedeutete das: Wenn der Vater im Gefängnis war, musste der irgendetwas Böses angestellt haben.«
Erst im Jahr 1998 fing Michael Bradler an, über seine Geschichte nachzudenken. „Als mein Sohn zehn Jahre alt war, hat er mal mitbekommen, dass ich im Gefängnis saß. Für einen Zehnjährigen ist so etwas schwer zu verstehen. Mein Sohn ist ja mit einem normalen Rechtsempfinden aufgewachsen und weiß, was man darf und was nicht. Für ihn bedeutete das: Wenn der Vater im Gefängnis war, musste der irgendetwas Böses angestellt haben.“ So fing Bradler an zu recherchieren, tätigte ein paar Telefonate und stand irgendwann in der Gedenkstätte Hohenschönhausen, wo er an einer Führung teilnahm. „Dadurch habe ich erst 1998 erfahren, dass ich tatsächlich hier inhaftiert war“, erzählt er. Kurzerhand meldete sich Bradler im Zeitzeugenbüro – und übernahm wenig später selbst Führungen durch das ehemalige Gefängnis sowie die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße.
Im Sommer 2001 begegnete ihm bei einer seiner Führungen ein Nürnberger Rechtsanwalt namens Michael Rothe. Die beiden freundeten sich an und veröffentlichten im November 2011 ein gemeinsames Buch mit dem Titel „Ich wollte doch nicht an der Mauer erschossen werden!“ In diesem Buch erzählen sie nicht nur Michael Bradlers Geschichte: Es geht ihnen auch darum, diese Geschichte mit „Gedanken zum aktuellen politischen Geschehen zu verbinden“ und aufzuklären – „über die häufig zu beobachtende Unwissenheit über die Zustände und Ängste in der DDR, oft eine regelrechte Ignoranz gegenüber dem sogenannten ‚real existierenden Sozialismus’.“
Für ihr Buch trafen Bradler und Rothe am 23. Mai 2011 auch einen ehemaligen Stasi-Offizier aus Hohenschönhausen, der Michael Bradler regelmäßig vernommen hatte. „Angst hatte ich vor dieser Begegnung keine, eher so ein generelles Unwohlsein. Ich musste während des Gesprächs mehrfach zur Toilette“, erzählt Bradler. „Drei Stunden dauerte das Interview und ich war richtig erleichtert, als es vorbei war. Man darf nicht vergessen: Ich war dem Mann fast ein halbes Jahr ausgeliefert.“ Am Ende gab „Leutnant X“ – so nennen Bradler und Rothe ihn in ihrem Buch – sein Einverständnis für die Veröffentlichung der Zitate – mit der Bedingung, seinen Namen nicht zu nennen. „Daran habe ich mich auch gehalten“, sagt Michael Bradler, „um andere Leute nicht zu verprellen, die einen Weg suchen, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Ich habe den Vernehmer auch gebeten, sich mal mit der Gedenkstätte in Verbindung zu setzen. Es gibt dort noch viele offene Fragen, die man gerne an ehemalige Mitarbeiter des Gefängnisses stellen würde. Das hat er aber nicht getan – genauso wie er sich nie wieder bei mir gemeldet hat.“
»›Der Vernehmer kommt rein, schaut zuerst auf den Kaffee, dann auf mich und sagt: Den Kaffee könnse ruhig trinken, da ist nichts drin.‹ Dann geht er wieder raus.«
Das Kapitel im Buch, das die Abschrift des Gesprächs mit dem ehemaligen Vernehmungsoffizier beinhaltet, trägt die Überschrift „Der ‚gute Vernehmer’“. Ein „guter Vernehmer“, so Bradler, sei im Gegensatz zu einem „bösen Vernehmer“ einer, mit dem man eine Beziehung aufbauen könne. „Er bietet dir einen Kaffee oder eine Zigarette an. Oder er erlaubt dir, einen Brief zu schreiben. Der ‚böse Vernehmer’ gibt immer nur negative Information. Ein Beispiel: Der ‚gute Vernehmer’ bestellt mir einen Kaffee. Der Kaffee wird gebracht, ich trinke davon. In dem Moment, in dem ich den ersten Schluck getrunken habe, kommt der ‚böse Vernehmer’ rein. Er schaut zuerst auf den Kaffee, dann auf mich und sagt: ‚Guten Tag. Den Kaffee könnse ruhig trinken, da ist nichts drin.’ Dann geht er wieder raus. Und du fängst an zu überlegen: Was meint der eigentlich? Plötzlich wird dir klar, dass alles, was du hier drin bekommst, manipulierbar ist. Du bist denen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und weil du auf diese Erkenntnis erst einmal gebracht werden musst, braucht es so jemanden wie den ‚bösen Vernehmer’.“
Einen Groll trägt Michael Bradler nicht in sich – jedenfalls nicht mehr: „Wäre mir 1998 mein Vernehmer über den Weg gelaufen, ich glaube, ich hätte ihm aufs Maul gehauen. Aber heute sehe ich das entspannter – auch weil ich weiß, dass ich ihn viel mehr ärgere, indem ich die Leute hier durch Hohenschönhausen führe. Für mich ist das eine innere Genugtuung. Ich muss mir immer vorstellen, wie das wohl gewesen wäre, wenn ich damals im Jahr 1982 meinem Vernehmer gesagt hätte, dass ich hier irgendwann einmal Gruppen aus dem Westen durchführen würde. Ich glaube, der hätte mich in die Psychiatrie einweisen lassen. So sehe ich mich letztendlich als Sieger der Geschichte.“
„Mein persönlicher Anspruch ist, vor allem junge Menschen für Geschichte zu interessieren, weil man nur aus Geschichte heraus verantwortungsvoll mit Gegenwart und Zukunft umgehen kann. Hohenschönhausen ist dafür ein optimaler Ort, denn hier wird Geschichte durch Menschen vermittelt, die sie selbst erlebt haben“, erklärt Bradler. „Manchmal bin ich wirklich erschrocken, wie groß das Unwissen vor allem bei Schülern ist. Beispielsweise wurde ich mal während einer Führung von einer Schülerin gefragt, warum die Nazis den Reichstag so dicht an die Mauer gebaut hätten. Da fällt einem nichts mehr ein, da ist man sprachlos.“
»Mein persönlicher Anspruch ist, vor allem junge Menschen für Geschichte zu interessieren, weil man nur aus Geschichte heraus verantwortungsvoll mit Gegenwart und Zukunft umgehen kann.«
„Aber man darf nicht aufgeben“, fügt Michael Bradler hinzu. „Mir ist bewusst, dass ich mit meinen Führungen nicht jeden Besucher erreichen kann. Aber manchmal gelingt es mir, bei dem einen oder anderen Menschen tatsächliches Interesse zu wecken und ihn dazu zu bewegen, an diesen Ort zurückzukommen. Vielleicht kommt er nach Wochen wieder, vielleicht nach Monaten, vielleicht erst nach Jahren. Aber er kommt. Und das gibt Hoffnung.“
Michael Bradler wird nicht müde, immer neue Besucher durch die ehemalige Untersuchungshaftanstalt I des Ministeriums für Staatssicherheit zu führen. „Wahrscheinlich würden die Stasi-Offiziere, die hier mal gearbeitet haben, die Führung etwas anders gestalten als ich“, sagt er mit einem Lächeln auf dem Gesicht. „Die Chance hätten sie ja unter bestimmten Voraussetzungen. Aber sie nehmen sie nicht wahr, sie kommen ja nicht her.“
Mit besonderem Dank an Michael Bradler sowie die Mitarbeiter der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und des Stasimuseum / ASTAK e.V.
Michael Bradler & Michael Rothe: „Ich wollte doch nicht an der Mauer erschossen werden!“
ISBN: 978-3-00035544-8, zu bestellen beispielsweise auf mbradler.jimdo.com oder buchhandlung89.de
Alper Yamak
Editorial — Alper Yamak
Wandering With Ghosts
22. Januar 2018 — MYP N° 22 »Resistance« — Text & Photography: Alper Yamak
Wandering With Ghosts: AKM at Gezi Protests
On 31st of May, 2013, masses marched on the streets of Istanbul to protest against the unlawful demolition of a small park—Gezi Park—at Taksim Square. Alongside the demolition of the park, people also protested police forces’ excessive response to peaceful activists in previous days using tear gas.
In the following days, in more than 50 cities in Turkey, around 2.5 million people took on the streets due to Turkish Government’s uncompromising attitude and offensive statements of Turkish PM Erdoğan. While the unbalanced growth of construction madness all over the city caused the loss of many green areas in the recent years, a small environmentalist protest turned into a civil uprising against the government’s anti-democratic policies on the secular system and civil rights. The police reaction was harsh. In a couple of days, four people died and twelve people lost their eyes because of tear gas canisters aimed directly towards them. Thousands of people were injured and arrested.
On 1st of June, despite the ongoing police violence and casualties, the protestors took Taksim Square and occupied Gezi Park. At the heart of Taksim Square, there’s an abandoned building called AKM—Atatürk Culture Center. AKM was used as an opera house, as well as a concert hall and a show center. This building had become a symbolic conflict between Islamic AKP government and secular public groups in Turky. AKM, as one of the biggest cultural centers of Istanbul, was closed by the government for rebuilding and renewing purposes, though no renewal action was done at all.
When Taksim Square was taken by protesting on 1st of June, an access to this abandoned building was found. The protestors who had been there for concerts or shows years ago were now wandering in the dilapidated flats. It was a symbolic conquest for most of the people. Access to the building triggered something in people’s mind: We have to take back what is ours! Our green areas, our buildings, our city, and our rights!
These photos were shot in the mood of this insurrection.
Update—January 10th, 2018:
Aftermath and post effects of Gezi protests are ironic and indistinct since the freedom of speech, rights to the protest, and the democratic civil rights has retrograde dramatically due to the governments increasing strict state laws and police control. Now in 2018, the masses that marched in the streets in 2013 are smothered and dismayed by the government’s threating and preventing measures. Heavily equipped police forces in huge numbers and government’s intelligence service—which is inclined to see every democratic civil action as a terrorist act—discourage and frustrate millions of people to march or demonstrate again in that size.
On the other hand, AKP regime is also startled at Gezi, all the precautions and sometimes nonsense measures that have been taken are just the indicators of this fear. Gezi Park also stays as a park and no further recreating or demolishing has been taken place although President Erdoğan makes mumbling statements of recreating/demolishing of the park.
Gezi resistance is a blossoming of a social and political awareness more than a revolutionary or end of an era act. The idea and the soul of Gezi are still in people’s minds and hearts and very alive. Today in the Turkish society, there is a silent anticipation for a decline of AKP government.
In 2017, after four years of Gezi protests, AKP government announced the renewing of AKM has begun and in 2019, the building will be in public service as an opera house and cultural center.
Alper Yamak is a filmmaker, photographer and musician based in İstanbul. He stills believe in the power of photo journalism.
Hengameh Yaghoobifarah
Portarit — Hengameh Yaghoobifarah
Ein Plausch über Privilegien
Dick, queer, laktoseintolerant: Aktivist_in Hengameh Yaghoobifarah beschwert sich gerne und laut über gesellschaftliche Ungerechtigkeiten. Wir treffen sie zum veganen Dinner und sprechen über Dinge, die so richtig schief laufen.
22. Januar 2018 — MYP No. 22 »Widerstand« — Interview & Text: Katharina Weiß, Fotos: Moritz Jekat
Neulich stand ich vor meinem Uni-Institut und rauchte eine Zigarette. Ich unterhielt mich mit einer Bekannten über den Sommer und sie bemerkte, dass ich über den Sommer hinweg deutlich abgenommen hatte – und fragte wie und warum. Der Grund für die Schlankheitskur war klar ästhetisch: Meine teuren Lena Hoscheck-Röcke passten nicht mehr. Also sollte der Bourbon-Bauch weichen, um mir erneuten Zugang zu meinem Kleiderschrank zu gewähren. Sachlich erklärte ich ihr, dass ich, um dieses Ziel zu erreichen, einfach wenig gegessen, nur noch puren Schnaps ohne Mixgetränk getrunken und jede Menge sehr amateurhafte Ballettaerobic betrieben hätte. Da kommentierte ein beistehender junger Herr, der das wohl zufällig belauscht hatte, dieses Szenario mit folgenden Worten: „Die Figur eines Topmodels hast du jetzt aber auch nicht.“
Autsch, dachte ich mir in der ersten Sekunde und ärgerte mich gleich danach: Warum impliziert jede Art von ästhetischem Ziel, dass ich aussehen muss und möchte wie ein Topmodel? Und warum nimmt sich jemand – selbst wenn es ohne böse Absicht geschah – heraus mir zu sagen, wie ich nicht aussehe? Womit ein gleichzeitiges „nicht gut“ impliziert war. Im nächsten Schritt dieses Gedankens wurde ich dann wirklich wütend und dachte mir: Wenn ich als weiße Cis-Frau mit durchschnittlichen Maßen schon ständig so traurig gemacht werde, wie muss es dann sein, als Körper durch diese Welt zu gehen, der ständig negativ kommentiert wird und dem ganz viele meiner Privilegien von vornherein abgesprochen werden?
»Wenn mir die Rechte von Frauen wichtig sind, dann müssen mir auch die Rechte von allen Frauen wichtig sein.«
Dabei geht es nicht nur um Frauen und Menschen, die zu dick oder zu groß sind. Was ist mit denen, die nicht weiß genug oder nicht heteronormativ genug sind? Oder zu viel von sich bedecken und sich jeden Tag dafür rechtfertigen müssen? Wie kann ich als weißer, gesunder Körper den Kampf um genderspezifische Ungleichheiten für mich führen, ohne dabei die Mehrfachdiskriminierung anderer Menschen aus dem Blick zu verlieren? „Wenn mir die Rechte von Frauen wichtig sind, dann müssten mir auch die Rechte von allen Frauen wichtig sein. Also sollten auch Frauen, die nicht-weiß oder dick sind, davon profitieren, dass du dich immer wieder laut für ein gerechteres Geschlechterbild aussprichst“, sagt Aktivist_in Hengameh Yaghoobifarah dazu.
Das politische Schaffen dieser Person ist nicht in einem Stichwort zusammenzufassen, da sie viele brennende Gesellschaftsthemen in sich vereint: Journalistin_in; muslimisch markiert; nicht-binär; ein Mensch, der sich innerhalb der Geschlechterzweiteilung einordnet; dick und Advokat_in von „Body Positivity“-Bewegungen. Aber unabhängig von all diesen harten politischen Diskursen ist Hengameh auch Online-Shopper_in, und zwar sehr passioniert; aufgewachsen in einer Kleinstadt bei Hamburg; DJ von wilden Sets mit nahöstlichen Melodien und kontemporärem Hip Hop; Bewohner_in Neuköllns; Fashionblogger_in und Host der Website queervanity.com; laktoseintolerant; ein Mensch, der witzig sein kann und das blöde Schema von der Drei-Tage-Wartefrist nach dem ersten Date mit „Wir sind doch hier nicht beim Amt!“ kommentiert.
Wir treffen uns im CocoLiebe, wo wir uns einen Sushi-Burger und eine vegane Hummus-Pizza teilen und über die Macht der Kategorien sprechen: „Kategorien sind immer konstruiert und nicht von Natur aus gegeben. Diese menschengemachten Faktoren wie Klasse oder Geschlecht haben massive Auswirkungen – und verleihen oder verweigern uns Privilegien. Hinzu kommt: Wenn man Menschen in Schubladen steckt, dann gesteht man ihnen oftmals keine Komplexität zu. Du bist Feministin, also bist du in jeder Lebenslage so und so“, sagt Hengameh Yaghoobifarah.
Was auch im ach so freien Berlin alles schief läuft, beschreibt Hengameh häufig am eigenen Beispiel: „Dicke*fette Körper werden nicht nur als rufschädigend, faul und ungesund, sondern auch oft als so unglaublich lustig wahrgenommen. Alles, was eine dicke*fette Person macht, ist automatisch so waaaaahnsinnig witzig. Zum Beispiel tanzen, schwimmen, rennen, ja Sport im Allgemeinen. Oder Sex haben. Vor allem das. LOL, dicke*fette Personen und Begehren, wie soll das überhaupt funktionieren, haha!“, schreibt Hengameh 2016 in einem Artikel für Munchies.
»Eine nicht-toxische Fehlerkultur hilft am Ende allen.«
Momentan arbeitet Hengameh beim feministischen Missy Magazine und hat eine Kolumne namens Habibitus in der taz, die sich über alles hermacht – von Taylor Swift bis zu weißen Machtstrukturen in der Antifa. Wortwitzig austeilen kann Hengameh, einstecken müssen gehört dann auch dazu. Besonders „Polittunte“ Patsy l’Amour laLove hatte es im Sammelband „Beißreflexe: Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten“ auf Hengameh abgesehen.
Viel Feind, viel Ehr’? „Mit dieser speziellen Kritik konnte ich wenig anfangen. Ich hatte beispielsweise gefordert, dass man benennen sollte, wer die Opfer des Orlando-Shootings waren, um zu zeigen, dass der Täter auch aus klar rassistischen Motiven gehandelt hat. In diesem Buch wurde mir als Reaktion darauf vorgeworfen, dass ich die Leichen rassifizieren würde. Dabei habe ich meine Forderung von den Communities vor Ort entnommen.“, erklärt Hengameh. Generell sei (Selbst-)Kritik aber wichtig, eine nicht-toxische Fehlerkultur helfe am Ende allen. Das klingt zumindest in der Theorie ganz schön. Wer selbst schon einmal kritisiert wurde, weiß jedoch, dass der Grad zwischen konstruktiver Weiterentwicklung und persönlichem Gekränktsein ein schmaler ist.
Hengameh beschreibt sich selbst als schüchterne Person, die auch im Gespräch durch eine eher leiste Stimme und zurückhaltende Gestik auffällt. Das entschlossene Engagement ist also manchmal auch eine Überwindung für Hengameh. Ich finde es mutig, dass sich dieser Mensch immer wieder als Zielscheibe in den Fokus einer Öffentlichkeit stellt, die an vielen unfairen Strukturen festhalten möchte. Auch wenn die intersektionale Betroffenheit von Hengameh Yaghoobifarah bemerkenswert ist, gibt es viele Mutige, die sich einen Platz im Internet gesucht haben, von dem aus sie für einen Perspektivenwechsel kämpfen.
In Deutschland gibt es da zum Beispiel Body Mary, eine Plus-Size-Fashionista, die dafür einsteht, dass „mehr Frauen für sich, für ihren Körper und ihr Recht auf Selbstverwirklichung einstehen“. Oder die Mädels der muslimischen Comedy-Crew Datteltäter, die sich über „Biodeutsche“ und Hijabistas gleichermaßen lustig machen. Oder Alice und Maxi von „Feuer und Brot“, die sich in ihrem Podcast über afro-deutsche Identitäten und Periodenblut unterhalten. International gewinnt Body-Positivity-Aktivistin und Sex-Educator Maja Malau Lyse immer mehr an Einfluss, die Britin Laurie Penny beschwört in ihrem Essayband „Bitch Doktrin“ das Ende der toxischen Männlichkeit und die US-amerikanische Schauspielerin Laverne Cox verhandelt landesweit in Talkshows ihre Diskriminierungserfahrungen als afro-amerikanische Trans-Frau.
Wie Letztere beschäftigt sich auch Hengameh Yaghoobifarah stark mit Ansätzen von Mehrfachdiskriminerung: „Intersektionalität ist das Betrachten verschiedener Kategorien in ihrem Zusammenhang. Rassismus oder Sexismus sind nicht nur ein einzelnes Phänomen, sie können mit vielen anderen Ungleichheiten in Verbindung stehen. Ein spezielles Phänomen nur eindimensional zu betrachten, wird der Welt, in der wir leben, nicht gerecht.“ Dass auch den Menschen mit dem besten Willen Fehler passieren, ist für Hengameh ganz normal: „Ich bin ja auch nicht nur von allem diskriminiert, ich habe auch Privilegien. Ich bin zwar von Rassismus betroffen, kann aber auch weiß gelesen werden. Das Privileg haben Andere zum Beispiel nicht.“
»Memes und Gifs von Schwarzen Menschen zu posten kann als eine Art von Digital Blackfacing eingelesen werden.«
Ertappt fühlte sich Hengameh zuletzt, als sie über eine Diskussion stolperte, die sich mit Digital Blackfacing befasste. Grund des Anstoßes waren – vermeintlich – harmlose Memes, z.B. von Beyoncé oder anderen Schwarzen Künstler_Innen: „Memes und Gifs von Schwarzen Menschen zu posten kann als eine Art von Digital Blackfacing eingelesen werden. Die Schwarzen Körper werden hier zu einer übertrieben Emotionalität hochstilisiert und dehumanisiert“, erklärt Hengameh. Man müsse sich fragen: Warum postet man ausgerechnet das? Warum hat man das Gefühl, dass die Emotion bei diesen Körpern besonders stark rüberkommt? Dass kann in manchen Ohren extrem klingen. Radikal zu sein gehöre aber zu einem konsequenten Mitdenken aller Arten von Diskriminierung. „Ich bin kein Fan davon zu sagen, dass man sich erst einmal den großen Baustellen zuwenden soll und den Rest quasi auf später verschiebt. Alle Ungerechtigkeiten müssen angesprochen werden.“
Für Einsteiger sind die Aussagen von Hengameh Yaghoobifarah vielleicht noch etwas zu radikal. Aber genau das sollte Leser_innen nicht davon abhalten, die Konfrontation mit dieser Arbeit immer und immer wieder zu suchen, ohne zu verurteilen. Viele von uns haben sich auf den Weg gemacht, die Trinität von Race-Class-Gender in ein neues, besseres Zeitalter zu führen. Aber unsere Positionen auf der Rennstrecke sind so unterschiedlich, dass wir manchmal vergessen, dass wir miteinander und nicht gegeneinander laufen. Eine Lernkultur zu entwickeln, in der jede Stimme gehört, aber auch jede Angst verstanden werden muss, gehört zu den größten Aufgaben einer feministischen Bemühung im Jahr 2018.
Feine Sahne Fischfilet
Interview — Feine Sahne Fischfilet
Feierabend mit Feine Sahne Fischfilet
Linke Heimatmusik gegen den Rechtsruck, abgefuckte Festivalexzesse, Auf-die-Fresse-Feiermucke – Feine Sahne Fischfilet wird aus den verschiedensten Gründen abgefeiert. Wir schicken MYP-Lady Katharina in den Feierabend mit Sänger Monchi und Trompeter Max.
22. Januar 2018 — MYP N° 22 »Widerstand« — Interview: Katharina Weiß, Fotos: Roberto Brundo
Es gibt wenig, das nicht schon über das neue Album „Sturm und Dreck“ der Punkrocker von Feine Sahne Fischfilet geschrieben wurde. Kein Wunder, denn bei den Pressetagen der sechsköpfigen Gruppe reihte sich die gesamte deutsche Medienlandschaft ein. Als MYP auf FSF trifft, sind Jan „Monchi“ Gorkow und Max Bobzin in Berlin, um die neue Platte zu bewerben. Wir treffen die Jungs zum letzten Interview des Tages – und entführen sie: raus aus dem Label-Büro, rein in die Kneipe. Feierabend mit Feine Sahne Fischfilet!
Katharina:
„Wir sind zurück in unserer Stadt / Mit zwei Promille durch die Nachbarschaft.“ Euer neues Album „Sturm & Dreck“ startet mit dem Song „Zurück in unserer Stadt“, bei dem ich sehr an das Gefühl denke musste, an Weihnachten wieder zurück ins Hinterland zu fahren und mit den alten Kumpels den Christbaum loben zu gehen. Welche Gefühle haben euch beim Komponieren beschäftigt?
Monchi:
Wir kommen aus Mecklenburg-Vorpommern – ein Bundesland, aus dem Viele wegziehen wollen oder müssen. Wenn die alte Freundesgruppe dann zu seltenen Anlässen wieder zusammenkommt, dann kann man schon mal richtig auf die Kacke hauen. Da wird man gerne nostalgisch.
Katharina:
Und wie geht ihr mit Leuten von früher um, die ihr ungern wiedersehen möchtet?
Monchi:
Einfach nicht treffen!
Max:
Na, manchmal kann man dem auch nicht so richtig aus dem Weg gehen. Da wo ich herkomme gibt es zum Beispiel nur eine einzige Möglichkeit, wo man überhaupt hingehen könnte.
Katharina:
Zuhause seid ihr ja vermutlich kaum noch – die neue Tour ist schon fast ausverkauft, das Finale spielt ihr in der Rostocker Stadthalle, dem Ort, an dem ihr, so war zu lesen, früher mit euren Eltern bei den ganz großen Show Events als staunende Zuschauer gestanden habt.
Monchi:
Alles, was wir in den letzten Jahren erleben durften, war der Knaller. In „Alles auf Rausch“ haben wir diesen irren Ritt thematisiert. Mensch, wir können kaum erwarten, bis alle das Album hören können! Wir haben jede Menge neues Zeug, das wir unbedingt raushauen wollen. Wir haben einfach Bock live zu spielen. Und das checken auch die Leute.
»Auf unserer Tour wird es wieder jede Menge Pfeffi geben.«
Max:
Und natürlich gibt es wieder jede Menge Pfeffi und wir haben uns auch ein paar Bekannte eingeladen, die mit uns auf der Bühne stehen werden. Wir sind zwar ohnehin die ganze Zeit unterwegs, aber für eine Tour loszustürmen macht nochmal mehr Bock.
Monchi:
Wir haben auch nur Vorbands eingeladen – wie etwa Kaput Krauts oder Audio88 & Yassin –, die wir geil finden und mit denen wir befreundet sind. Wenn die in meinem Ort spielen würden, würde ich hingehen!
Max:
Das Tourfinale in der Rostocker Stadthalle macht uns echt baff. Ich hab’ da Otto Waalkes als Kind gesehen, das war die größte Halle, die ich kannte. Wenn ich mir das vor Augen führe, dann muss ich manchmal abschalten, das würde mich sonst überfordern. Die Vorstellung, dass wir paar Hanseln auf so einer großen Bühne so viele Tickets verkaufen, kann ich noch nicht richtig verarbeiten.
Katharina:
Kommen wir von den ganz großen Momenten zu den Stationen auf eurem Weg, an denen ihr eher mit Widerständen zu kämpfen hattet. Dass man auch mit Anfeindung und Frustration konfrontiert wird, macht ihr ebenfalls in „Alles auf Rausch“ deutlich: „Verbietet die, hörn‘ wir euch schrein’ / Euch fall’n nur Dickenwitze ein / Wenn wir sehen, dass ihr kotzt, geht es uns gut. / Uns fahren Menschen hinterher / Das zu glauben, fällt uns schwer.“ Welche Stolpersteine haben sich besonders eingebrannt?
Max:
Da gab es seit Beginn der Bandgeschichte so einige. In erster Linie waren viele Leute von der politischen Position angekotzt, über die wir sprechen und für die wir stehen. Sicher kam auch die ein oder andere Missgunst auf persönlicher Ebene dazwischen. Nach dem Motto: „Warum denn ausgerechnet die? Diesen Idioten hätte ich das nicht gegönnt.“ Es gab schon viele Steine, die uns in den Weg gelegt wurden, aber wir betrachten das eher wie einen Elfmeter: Der Stein ist ein Ball, der irgendwie verwandelt werden muss.
Katharina:
Zu sechst in einer Band zu sein, das stelle ich mir auch ein bisschen wie einen Schutzpanzer vor, man ist ja quasi eine halbe Fußballmannschaft. Zusammen kann euch ziemlich egal sein, was die Leute über euch denken, aber wie geht jeder von euch privat mit Anfeindungen um?
Monchi:
Na, wir sind ja keine Vollnerds, die nur noch zu sechst rumhängen. Ich will an manchen Tagen alleine sein oder einfach nur was mit meinen eigenen Leuten machen.
Max:
Das muss man auch. Wenn man im Tourbus und im Studio immer gemeinsam abhängt, dann braucht man den Abstand, sonst geht man sich voll auf die Nerven. Und sonst hätte es schon viel öfter richtig geknallt.
Monchi:
Aber auch als Band lassen wir ja sehr emotionale Momente zu. Im letzten Album war das zum Beispiel der Song „Warten auf das Meer“, darin gehen wir sehr offen mit Tiefpunktmomenten um. Und für das neue Album habe ich „Niemand wie ihr“ geschrieben…
»Das sind sehr intime Augenblicke und keine Panzermomente – sondern Hose runter!«
Katharina:
… ein intensiver Song! „Mit 19 krieg’ ich dann zwei Jahre auf Bewährung / nicht die Freunde, sondern ihr / ihr zahlt die Rechnung. / 23.000 kostet ein Sixpack, wenn es brennt, / in dieser Zeit hatte ich Angst, dass ihr euch trennt. / Sollte ich mal Kinder haben / will ich so sein wie ihr. / Ich find’s scheiße, was du machst, / aber ich steh’ zu dir“ Diese Zeilen sind also autobiografisch?
Monchi:
Ein Lied, das ich für meine Familie geschrieben habe. Das sind schon sehr intime Augenblicke und eben keine Panzermomente – sondern Hose runter! Und das spielen wir dann auch live. Wir fanden diese Ambivalenzen immer geil: Wir sind mal prollig und laut, aber auch mal leise und schwach sozusagen. Immer dieselbe Stimmung vom Stapel zu lassen und dauerhaft sowas zu verbreiten wie „Wir sind die Stärksten, wir lassen uns nie unterkriegen“, das wäre ja totaler Quatsch. Es gibt auch räudige Momente, wie etwa im Song „Angst frisst Seele auf“. Manchmal fragt sich einfach jeder: Frisst mich das jetzt alles auf, kann ich noch weiter?
Katharina:
„Angst essen Seele auf“ ist ein filmisches Melodram von Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1974 – habt ihr euch davon zu diesem Song inspirieren lassen?
Monchi:
Ja, dadurch bin ich auf die Zeile gekommen, die fand ich sehr gut. In dem Lied geht es um eine sehr gute Freundin von mir, Katharina König-Preuß, die im NSU-Untersuchungsausschuss in Thüringen saß. Eine Neonaziband namens „Erschießungskommando“ hatte ein Lied über sie geschrieben, in dem es drei Minuten lang eigentlich nur darum geht, wie sie grausam abgeschlachtet wird. Sie hat mich damals angerufen und mir dieses Lied geschickt – ich bin sonst nicht nahe am Wasser gebaut, aber da hatte ich wirklich Tränen in den Augen. Das war extrem brutal.
Katharina:
Umso passender, dann eine Reminiszenz an Rainer Werner Fassbinder zu benutzen, der ja für seine starken, politisierten und missbrauchten Frauenfiguren bekannt ist.
Monchi:
Ich weiß nicht, was eine Reminiszenz ist (lacht), aber ich fand diese Zeile einfach gut. Der Film thematisiert ja auch Neonazis und Rassismus. Schlussendlich beschäftigt sich das Lied aber mit dieser speziellen Geschichte aus dem Leben meiner Freundin. Einen Umgang mit der eigenen Angst zu finden, das ist uns mit diesem Album sehr wichtig auszudrücken. Wir stemmen uns gegen die Weltuntergangsstimmung und sagen: Es geht noch was, es gibt noch gute Leute! Jetzt ist nicht die Zeit sich zu verstecken, sondern Haltung zu zeigen.
Katharina:
Auch die Songs „Dreck der Zeit“ und „Suruc“ sind brutale, schonungslose Verhandlungen der Realität. Was bedeuten diese Songs für euch? Und was bedeutet Suruc überhaupt?
Monchi:
Suruc ist ein Ort an der türkisch-syrischen Grenze. Da war ich im Jahr 2015 für eine Initiative, die ich mit ein paar Freunden gegründet habe: „MV für Kobane“. Kobane war damals ständig in den Medien, da es die erste syrische Stadt war, in der der sogenannte IS zurückgeschlagen wurde. Extrem viele Leute mussten von dort flüchten. Wir haben Freunde aus der Region und sind dann mehrmals mit LKWs voller Klamotten, Medikamenten et cetera hingefahren. Das letzte Mal, als ich da war, gab es genau dort, in dieser kleinen Stadt, ein Selbstmordattentat. Das Lied soll ausdrücken: Samstag auf dem Deichbrandfestival spielen, sich halb tot saufen, alles geil. Und Montag zwischen 31 Toten stehen.
Nur dass ich dann wieder nach Deutschland abhauen kann, während sich andere dort tagtäglich dem IS in den Weg stellen. Das sind Faschisten, die schlachten die Leute ab. Ich habe den größten Respekt vor den Menschen, die sich da gerade machen, ob an den Waffen oder in der Geflüchtetenhilfe. Mir ist bewusst, dass wir als Band nur einen ganz kleinen Teil leisten können. Aber wir versuchen Lieder zu machen, die nicht von oben auf die Welt schauen, sondern persönlich aus uns herauskommen. Das sind alles eigene Geschichten…
»Samstag auf dem Deichbrandfestival spielen, sich halb tot saufen, alles geil. Und Montag zwischen 31 Toten stehen.«
Max:
Ich bin Monchi auch sehr dankbar dafür, dass er darüber was geschrieben hat. Sonst ist das so abstrakt und abgefahren, so weit weg – am geilsten wäre es natürlich, wenn es keine Terroranschläge auf der Welt geben würde, aber es gibt sie nun einmal. Und man muss sich immer wieder darüber bewusst werden, in welchen Relationen man selbst etwas tun kann und tun muss.
Katharina:
Wie oft machst du dir Gedanken über Privilegien?
Max:
Als weißer, mitteleuropäischer Mann ist mir schon bewusst, dass das meistens eine ziemlich luxuriöse Variante ist. Auch beruflich als Mitglied einer Band ist es eine besondere Rolle. Klar gibt es viele negative Konnotationen, die man damit versehen kann: Prollig, Drogenjunkies. Wir sind uns aber ansonsten sehr darüber bewusst, dass wir sehr auf Gold gebettet sind, was Privilegien betrifft. Wir sind unsere eigenen Chefs, wir stehen in keinem abhängigen Angestelltenverhältnis. Wir existieren nicht hart am Mindestlohn vorbei.
Monchi:
Mein WG-Mitbewohner ist Krankenpfleger, der hat eine hammerharte 40-Stunden-Woche und am Ende hat er das gleiche Geld wie ich. Uns gibt es seit zehn Jahren, wir zahlen uns aber erst seit knapp zwei Jahren Kohle aus. Davor sind wir zu sechst in ’ner Fünferkarre gefahren – das haben wir noch im Kopf, deshalb gibt es auch kein Saus und Braus bei uns. Ich komme zu den Terminen nach Berlin mit der Bahn.
Max (lacht):
Erste Klasse ICE.
Monchi:
So ein Quatsch! Aber ich würde mir ziemlich dämlich dabei vorkommen, meinem Mitbewohner, der als Krankenpfleger schuftet, oder einem Kumpel, der auf dem Bau arbeitet, vorzuheulen: „Mensch, wie anstrengend ist das mit der Band, zehntes Interview heute.“ Das ist totaler Luxus, ein Privileg – dafür schäme ich mich nicht, aber ich empfinde Dankbarkeit und wünsche das auch jeder halbwegs coolen Band, die nicht aus totalen Vollidioten besteht. Wir Sechs haben aber auch alles auf eine Karte gesetzt. Ich hab’ mein Abi abgebrochen und keine Lehre gemacht, wir mussten uns alle entscheiden. Dass das nächste Saison wieder vorbei sein kann und sich kein Schwein mehr für uns interessiert, daran denken wir natürlich auch manchmal.
Max:
Auch wenn wir uns nicht mit jemandem in einem Angestelltenverhältnis vergleichen wollen, wollte man auch nicht herunterreden, dass jeder von uns immer mehr Kraft aufwenden muss, je erfolgreicher die Band wird. Da muss man so viel Präsenz zeigen und Energie reinstecken, dass wir diese Ruhephasen genauso brauchen.
Monchi:
Ich weiß jetzt schon, dass ich bis Ende Mai kein einziges freies Wochenende haben werde. Aber darüber werde ich mich nie beschweren, das habe ich selbst gewählt. Und danach hänge ich wieder in Meck-Pomm am Strand, da könnt ihr dann 40 geile neue Bars in Kreuzberg haben.
Katharina:
Medial seid ihr auch bekannt geworden, weil eure Namen in mehreren Verfassungsschutzberichten des Landes Mecklenburg-Vorpommern zu lesen waren und ihr später auch von konservativen sowie rechtsnationalen Politikern für eure Nähe zu Antifa angegriffen wurdet. Habt ihr noch Lust, über dieses Thema zu reden? Oder ist das für euch langsam gegessen?
Max:
Zu dem Zeitpunkt hätte es keinen größeren Promo-Push geben können und es ist Teil unserer Bandvergangenheit. Aber eigentlich haben wir dazu alles gesagt. Das gehört zu uns – aber dass wir geile Musik machen, ist noch viel wichtiger.
Monchi:
Leute, die uns vielleicht noch nicht so lange kennen, fragen da öfter mal nach. Kann ich auch verstehen, ist ja eine interessante Story. Wir haben dem Verfassungsschutz einen Geschenkkorb vorbeigebracht, um uns für die Promo zu bedanken, ansonsten ist meine Haltung dazu klar: Das ist eine Behörde, die für mich aufgelöst gehört. Mittlerweile wissen wir, dass die über uns nicht nur mehr geschrieben haben als über den NSU, der in Mecklenburg-Vorpommern gemordet hat, sondern auch mehr als über alle Neonazibands in Meck-Pomm zusammengerechnet. Es ist kein Fehler in der Behörde, die Behörde ist der Fehler.
»Jeden scheiß Porno, auf den ich mir einen runtergeholt habe, haben die auf jeden Fall mitgeguckt.«
Katharina:
Habt ihr Angst, darauf reduziert zu werden? Auch wenn es – zumindest in meinem eher linksgerichteten Studentenkreis – meist ein eher positives Reduziertwerden ist?
Monchi:
Klar, viele wurden durch diese Schlagzeilen über uns auf die Band aufmerksam. Aber wer sich etwas länger mit uns befasst, merkt schnell, dass da noch viel mehr Substanz ist. Auf persönlicher Ebene war das auch gar nicht lustig: Ich wurde drei Jahre lang observiert, die haben Peilsender unter mein Auto gemacht. Und jeden scheiß Porno, auf den ich mir einen runtergeholt habe, haben die auf jeden Fall mitgeguckt. Ein Verfahren gegen mich gab’s trotzdem nie, denn – Überraschung! – ich habe nicht die RAF mit aufgebaut. Das ist nicht nur Spaß, auch das wenn viele, die davon hören, immer cool finden. Daran ist gar nichts spaßig, das ist immer noch ein Geheimdienst.
Katharina:
Neben vielen politischen Songs seid ihr auch ganz stark, wenn es darum geht, Lieder zu schreiben, die einen gemütlichen Zusammenhalt beschwören. „Schlaflos in Marseille“ erinnert mich zum Beispiel an einen Hafen-Shanty. Steht ihr auf Shantys?
Max:
Wir haben währenddessen eher an einen Russenchor gedacht, aber Shanty trifft es auch.
Katharina:
Heimatliches Wohlgefühl findet sich auch im Song „Wo niemals Ebbe ist“: „Dritte Liga – Nichtabstiegsplatz / Wir feiern’s wie die Meisterschaft.“ Auf welche Dinge seid ihr wirklich stolz?
Monchi:
Auf diese „Noch nicht komplett im Arsch“-Kampagne gegen Rechts, die wir als Band gemacht haben. Darauf bin ich hammerstolz.
Max:
Im Bandkontext beantwortet sehe ich die größte Errungenschaft darin, dass wir uns als Band nach all den Jahren noch so gut verstehen. Das ist für mich wirklich Gold wert. Wenn das irgendwann nicht mehr der Fall sein sollte, dann war’s das auch einfach mit Feine Sahne Fischfilet, dann ist meine komplette Lebensgrundlage auch einfach passé. Und uns können da tausend Sachen dazwischen kommen, ob auf emotionaler oder familiärer Ebene. Ich bin einfach stolz und froh, dass wir immer noch so gut zusammenstehen. Dieses Gefühl fängt bei uns im Mikrokosmos Band an und geht dann auf unsere Familie über – und wenn wir damit dann noch ein paar Leute bei den Konzerten erreichen können, dann ist das schon mehr, als man sich eigentlich erträumen darf, wenn man Musik macht.
Todd Kale
Submission — Todd Kale
Some Day
22. Januar 2018 — MYP N° 22 »Resistance« — Text & Illustrations: Todd Kale
Imagine future anthropologists sifting through the digital archives of the twenty-first century.
They will see a polarized world. Was it money or technology that split people away from one another? Those stuck sorting through petabytes of selfies would laugh; though not as much as those sorting through Facebook pages or internet forums.
And they will see change. People stood up to defend the rights of strangers. Abuse long swept under the rug, was fought. One morning, a scientist remarks offhand that there indeed was unity amidst all that divide. A colleague agrees, positing that in spite of President Trump, progressive changes really started to occur in the first decades of the twenty-first century.
A long discussion begins. He said what about white nationalists? Anthropologists take turns recounting the events of his term. How did he get elected again? Adding some levity, someone points out society’s perseverance in the face of such absurdity. He actually spoke like that? Thankfully, that yellow hairdo never became a fad. Talk turns to better things as they press on through the archives.
When a similar scene happens years from now, it will be because civilization survived. Perhaps not into a perfect future, but a better one. Because resistance worked.
Todd Kale is an illustrator living in Austin, Texas.
Awolnation
Interview — Awolnation
Life Is Healthful
Awolnation’s frontman Aaron Bruno misses the optimistic music of the eighties and dislikes songs that sound like they were created by a robot. In our interview, he tells us why his new album “Here Come The Runts” comes from the bottom of his heart. And why disabled skater Og de Souza functions as the perfect ambassador for his new music video “Passion”.
22. Januar 2018 — MYP N° 22 »Resistance« — Interview & Text: Jonas Meyer, Photography: Steven Lüdtke
Recife. A Brazilian city with over a million inhabitants on the Atlantic coast. At a bus stop, a man arduously climbs up the steps into a bus. While holding on to the reeling with his right hand and hoisting his body up, his left-hand drags a skateboard behind him. The man’s lower body is disabled and his legs, which are unusable, are folded in front of him in a cross-legged position. The skateboard seems to be his only possibility of advancement. A wheelchair appears to be unaffordable for the man.
After a few stops, the man gets off of the bus. Sitting on his skateboard, he rides along Recife’s beach promenade for a while. A large grin appears on his face as he arrives at his destination: A skate park right by the beach. The man comes to a halt and posts up behind a wire fence. Sticking his hands through the holes of the fence, he watches the many young skateboarders zip back and forth. How sad it must be to only be able to watch other people skate.
But then the man decisively rolls towards the top of the halfpipe. He positions himself and goes for it. Full of energy, he skates through the course sending everyone else into wonder and awe. He skates as if it were a completely self-evident thing and as if nothing on this earth can hold him back. His facial expression is one of pure joy.
Said man is Brazilian skater Og De Souza. Of course, he can afford a wheelchair, but he consciously chose his favorite mean of transportation: a skateboard. And obviously, Og isn’t saddened by watching others skate. Because he skates at least as well as them.
Og’s story is told in one of the most recent music videos by Awolnation, a rock band from California. The videos’ title is “Passion”, which is also the title of the song. It is one of 14 tracks on the band’s new album, named “Here Come the Runts.” And, as lead singer Aaron Bruno assures us, the album comes straight from the bottom of his heart. Real music. No fake shit.
We meet Aaron in a small office in Berlin’s Michelberger Hotel. With its 60ies interior design, the location looks like it could be a part of a Mad Men set. It kind of reminds us of the Hamburg “Central Congress”… but more on that later.
Jonas:
A couple of weeks ago, you released the music video for your new song “Passion”. In this video, you tell the story of disabled Brazilian skater Og De Souza. I have to confess that I felt a little ashamed of myself when I watched the clip for the first time. Suddenly, all the day-to-day problems seem so tiny and so childish compared to this man’s fate—especially because he expresses so much dignity and happiness. How did you find this touching story?
Aaron:
My friend Ravi directed and documented a behind-the-scenes film of the making of my new record. He knew Og from a past shoot when he produced an old-school skate video. Ravi came up with the idea to tell Og’s story and get him on board for our video, so I’ve got to give him all the credit. We all kind of embraced this idea for “Passion” and I jumped at the opportunity to show someone’s passion and how it helped overcome such a drastic obstacle like not having the usage of your legs. And—I have to be honest—I feel the same way you do. When I saw Og De Souza for the first time, I felt silly for some of the things that I used to complain about. If I’m a bit sick one day or have a bunch of stuff to do that seems difficult, it feels kind of immature in comparison to what Og has gone through.
»It seems like a good positive way to try to navigate through life if you can figure out what it is that you’re passionate about.«
I don’t remember who exactly said it, but I’ve heard that to find your passion is to find your destiny. And that you find your purpose in life when you can figure out what your passion is. You know, for me it’s music. And for you maybe it’s journalism. But for someone else, it could be cooking, running, rock climbing, skiing, or whatever—the possibilities are endless. It seems like a good positive way to try to navigate through life if you can figure out what it is that you’re passionate about—so passionate that you would almost risk everything for it. That’s a good place to be. It helps you to get out of bed in the morning, it helps you feel like there’s a reason to be alive. So Og De Souza is a great example for that. He’s presented with the option of using a wheelchair with which, of course, nothing is wrong. But he decides to use a skateboard instead because he loves skating so much. I guess he really influences people in a very positive way. He’s got such a sweet smile, his face illuminates so much positive energy.
Jonas:
When you created the song “Passion”, what did it mean to you the first time? Is there a different meaning to it now that you’ve met Og De Souza and have shot the video? Do you see it through different eyes?
Aaron:
No, I don’t see it through different eyes. I just feel happy that there is someone that was willing to share their story, to help convey the message of the song. I am definitely inspired by him and I feel honored that he wanted to be a part of the video and subsequently of the song.
When I wrote the song, it was the third or fourth track that I wrote for the new record. My wife and I, we’re lucky enough to live in a pretty, mountainous area, there’s a lot of nature around our house. I remember that I was running through a trail at this area and—maybe it was the rhythms to which I was running—when the beat came to me, I suddenly had the idea of writing a song that I can say something very simple with, that helps me to nail it on the head and say: That’s passion! I mean, what is passion about? It’s discovering a formula for life, like a potion of passion.
Funny side story: I read a review of the last record, with which I disagreed a lot. It said that the record lacked passion and that broke my heart because I was extremely passionate about it! The last record was such an emotional experience, it really broke my heart to read that. So I said: Fuck them! Now I’m gonna write a song about passion—literally! The sarcastically making fun of that review was my way of lashing out, so the initial idea was kind of tongue-in-cheek. But then it became a serious thing.
Jonas:
What a situation: Someone sitting at their desk and accusing someone else out there that there’s a lack of passion.
Aaron:
You can say that you don’t like the song or that you don’t like the lyrics. I can always live with that. But “lack of passion”? It really did upset me and ended up being the initial idea behind the song—as silly as it sounds. It started as a joke, but then it became such a positive thing. I’m so grateful that it started there, it started with that negative review and became something much bigger. Now it obviously is a very positive message.
Jonas:
“Passion” is one of 14 songs on your new record “Here Come The Runts”. In an interview with Billboard magazine, you said that there’s absolutely “no fake shit” on this record. What does “fake shit” mean to you in a musical context?
Aaron (groans):
Oh, that’s a great example of something you said that you regret later. The record is from the bottom of my heart. I didn’t create the songs for success or to make money. These songs really come from the soul and mean a lot to me. It’s not about chasing some sort of trend or whatever. It’s more like: What you see is what you get. It’s a pretty rare, honest, emotional album.
»Almost all records are tuned. Auto-tuned. And that’s fake. What you’re hearing then is essentially a fake product and that doesn’t stick well with me.«
A lot of records you hear, there’s so much tuning of the vocals, it’s like listening to a robot. On my record, there’s none of that, and I’m really proud of that—which is funny to say because it seems like that should be the standard if you’re listening to an album. You just should be hearing the guy or girl sing and it should be their voice. But almost all records are tuned. Auto-tuned. And that’s fake. What you’re hearing then is essentially a fake product and that doesn’t stick well with me. Sure, there’s also a lot of artists that don’t tune their vocals. But most do. And that plagues me around.
Jonas:
Do you think pimping music with “fake shit” is like an epidemic in our modern music industry?
Aaron:
There’s always copycats. If there’s a song that performs well, labels are going to chase that and try to get a piece of the pie. For instance, it happened on our first record with “Sail”. Even still today I can list ten songs that sound exactly like “Sail”. I’m kind of proud of that, but at the same time, it’s also frustrating: It’s frustrating that some people try to influence pop culture like that, especially when they copy a song that wasn’t even supposed to be a pop song like ours.
Jonas:
Could it be that this kind of making music is just a reflection of how our society works?
Aaron:
I think technology has become so user-friendly that it has allowed us to become much lazier. And I’m as guilty of that just as anybody else is. Sometimes I notice that when my friends and I use the voice-activated system to send a text message, like “Hey, I’ll be there at 9. Karma!”, I’m just looking for the exclamation point to be set right. But when you really have to write something by yourself, you suddenly realize: Oh shit, I can barely spell anymore! You forget the mechanics of day-to-day life. I think the same goes for music: A lot of people cut corners. A lot of singers just record once and the guy or girl says: “Ok, that’s good enough. Let’s tune it, and it will be fine.” The more easy it has become to make songs like that, the more I feel like there’s a need for craftsmanship and real playing—for real musicianship. There’s a lot of musicianship on my new record and I think people will appreciate that.
Jonas:
“No fake shit” also means, for example, having the guts to cry out very honest words like “I don’t want you to leave”—like you do in the song “Table For One” on your new album. What’s the story behind this track?
Aaron:
When I went on tour in the past, I had to be alone a lot. There were a lot of times when I went to a restaurant and while sitting at the bar and attending a free table, I was waiting for my name to be called by the hostess who used to say: “Bruno, table for one!”
Jonas:
It’s like sitting in a movie theater as a single person. People would say: “Oh look, he’s alone!”
Aaron:
Actually, I think sitting in a movie theatre by yourself is kind of nice—talking to someone would just ruin the film. And sometimes you purposefully choose to be alone. On tour, for example, I quite enjoyed it. But if you are lonely and they call out “Table for one!” at a restaurant, that really pinpoints the feeling. I found that “Table for one!” call to somehow be unique and the phrase always stuck with me.
»I tried to express how sad it is when they have to go and when you suddenly are left alone, sitting at a table for one.«
When I started to write the lyrics for that track, it evolved into a simple love song. (—“Cause I don’t want you to leave / I want a day in your dreams”—) The song deals with the situation of a friend having to leave and you are just honestly saying: “Please don’t go! Don’t do it!” Funny enough, I felt that way about my guitar player Zach leaving to go on tour with his other band Irontom—he’s back now and he’s going to be touring with us!— but I kind of used this situation as a jumping-off point because we both had this crazy bond and I felt very emotional about it. We had spent all of this time together and he had played so much of the guitar while recording our new album. I said: “I don’t want you to leave!”
I also incorporated my feelings towards my wife into that song. I was a sort of combining my feelings towards Zach, who is one of my best friends, and those towards my wife and how I love them in different ways. I tried to express how sad it is when they have to go and when you suddenly are left alone, sitting at a table for one.
Jonas:
Another thing that I learned from the Billboard interview is that you grew up with the music of Dire Straits—which makes me very happy because I did too. My dad always had a Dire Straits tape in his car. What does the music of this band mean to you? Would you say they have had any influence on the way you make music?
Aaron:
I would say that especially the “Brothers In Arms” record is incredible—you have to be living in another dimension if you haven’t listened to that while growing up in the eighties. But it’s more recent that I’ve been obsessively listening to that album. I would probably refer more to Bruce Springsteen’s “Born In The USA”, for me this was the record of the eighties. But those albums go hand in hand. There’s this nice feeling of optimism and nostalgic energy, which I felt from both of them in the eighties.
»I wanted to make an album that felt more like hope than the doom and gloom scenarios that you’re confronted with whenever you turn on the TV or go online.«
A lot of the eighties’ pop or rock albums have that feeling, a lot of very good “car records” or “car songs” were created in that decade—not only by Dire Straits or Bruce Springsteen. There have been lots of others amazing music artists such as Prince, Michael Jackson, or Tom Petty. They had a lot of guitar play in their music, but it didn’t sound like rock ’n’ roll. It felt just like good music to me. Or maybe it was just my age—with all the feelings of wonder and optimism that ended up with being aware of how fucked up the world is. So I wanted to make an album that felt more like hope than the doom and gloom scenarios that you’re confronted with whenever you turn on the TV or go online. I rather wanted to focus on something positive. I wanted to say: Life is healthful. That’s what the “Born In The USA” and “Brothers In Arms” records did for me.
Jonas:
A couple of months ago we had a photo shoot in Hamburg at a very sophisticated sixties’ bar called “Central Congress”, founded by a guy named Oliver. That bar is extraordinary, like a set of “Mad Men”, and is equipped with furniture just like in this room. When Oliver moved to Hamburg, he couldn’t find a bar that would fit his lifestyle and satisfy his requirements, so he decided to build one on his own, based off of his ideas. Do you see yourself in that story? Would you say that you’re also a guy that creates the music he likes because he can’t find it anywhere else?
Aaron:
That’s how I approach most songs. I wanna make music that I wanna hear. I think there’s plenty of great artists out there right now—ok, when I say plenty, that’s not necessarily what I totally agree with, but I don’t want to think about it now. I love alt-J for example, they do amazing stuff. Or Tame Impala. And The War On Drugs are great too. But there’s not a huge amount of pop records that speak to me. Once I hear a song that feels pretty good, I wonder if the entire album is pretty good too. I want to listen to an album front to end. That gives me a rush and tells the whole story, it’s like going on a journey.
Today is really about singles and streaming and stuff, but that’s great too. I feel so lucky that—if you hit me with a song that I haven’t heard—I can go to my phone, just press play and listen to it immediately. That’s incredible. I remember specifically when LL Cool J’s “Mama Said Knock You Out” came out in the early nineties, they presented it first on “Yo! MTV Raps”, a couple of weeks before the single came to the stores. When I heard it for the first time, it was so great to me, I couldn’t wait until it came out. Unfortunately, it would only be like once a week that they played it on MTV. So I had to wait all week and count down to when I could see it again. And when they finally played it, I was so excited to watch it and I recorded it on videotape, so I could watch it over and over again. Hard to imagine today, right?
Jonas:
I was born in the early eighties, so I remember these times very well. A couple of minutes ago, you told me that you created your new record mostly at home which is located in the Malibu area in California. This area is pretty magical and characterized by wonderful sceneries like Point Dume Beach or by the luxurious situation of having frozen yogurt spots everywhere. What impact did this “Californianess” have on your new record? Do you actually feel this Californian magic as someone that was born and raised there?
Aaron:
I know that most people’s idea of Malibu is like Baywatch, beaches and bikinis. But there’s another part of California that is often overlooked: There’s a lot of nature and a lot of mountainous areas, so there’s a lot of exploration you can do. That part of California is far away from L.A., far away from the busy city. You can find it when you’re continuously heading north on the Pacific Coast Highway and Highway 101. That part of California with its incredibly rich nature and its aspect of canyon lifestyle is the main influence of my new record. That’s the best part for living in California—and not the part that is always presented on TV.
Giant Rooks
Interview — Giant Rooks
Fünf Freunde
Die Giant Rooks klingen, als würden sie seit Jahrzehnten gemeinsam Musik machen und Songs für die Bühnen dieser Welt schreiben. Dabei kommen sie aus Hamm, haben gerade erst ihr Abi gemacht und weigern sich, in ihrer Muttersprache zu singen. Kann nicht funktionieren? Funktioniert sehr wohl. Und überraschend gut.
22. Januar 2018 — MYP N° 22 »Widerstand« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke
Man stelle sich folgende Situation vor: Es ist Wochenende und zum ersten Mal ist man bei guten Freunden zum Essen eingeladen. Man mag und schätzt sich zwar schon eine ganze Weile, aber bekocht wurde man noch nie. Da die guten Freunde eher aus einem jüngeren Semester stammen und zu fünft eine WG bestreiten, geht man davon aus, dass der Abend wohl nicht von einer über Jahrzehnte gewachsenen Küchenexpertise geprägt sein wird, sondern eher vom unterhaltsamen, jugendlichen Miteinander. Wie gesagt, man mag sich ja, und kulinarisch, so vermutet man, wird’s wohl irgendetwas zwischen kann man essen und solide. Und wenn nicht: Eine Pizza ist schnell bestellt und auf dem Balkon steht bestimmt noch eine Kiste Bier kalt.
Die Tür geht auf, man betritt die Wohnung – und erlebt gleich die erste Überraschung: Eine festlich gedeckte Tafel baut sich in der Mitte des Wohnzimmers auf, und ehe man sich versieht, hält man ein Glas Prickelndes in der Hand. Kaum hat der Apéritif den Gaumen gekühlt und das Herz aufgewärmt, hat man auch schon seinen Platz an der Tafel eingenommen.
Der erste Gang wird serviert, natürlich von rechts. Es folgt ein zweiter. Ein dritter. Ein vierter. Dazu jeweils der passende Wein. Mit jedem neuen Gang gibt es auch eine neue Überraschung: So liebevoll sind die Teller angerichtet, so akribisch sind die Zutaten ausgewählt, so raffiniert sind die Gerichte abgeschmeckt. Und überhaupt: So detailversessen ist der ganze Abend arrangiert. Als hätten die fünf Freunde ihr junges Leben lang nichts anderes getan, als gemeinsam für andere zu kochen.
Einen solchen Abend zu erleben, und sei es auch nur in Gedanken, ist das Gleiche, wie zum ersten Mal mit der Musik der Giant Rooks in Berührung zu kommen. Die fünf Jungs aus Hamm haben gerade erst ihr Abi gemacht und sind in einem Alter, in dem andere erst anfangen, sich mit Musik zu beschäftigen. Wer lediglich den Sound der Jungs kennt und noch keinen Blick in ihre jungen Gesichter werfen konnte, hat das Gefühl, es hier mit einer Band zu tun zu haben, die schon seit Ewigkeiten zusammen spielt und große, liebevoll gemachte Songs für die Bühnen dieser Welt im Gitarrenkoffer hat. Dabei singen sie ausschließlich auf Englisch und stemmen sich damit bewusst gegen den aktuellen Trend junger deutschsprachiger Musik.
Wir treffen Frederik Rabe, Finn Schwieters, Finn Thomas, Jonathan Wischniowski und Luca Göttner in Berlin-Neukölln, wenige Stunden vor ihrem Auftritt im Tempodrom als Support für die „Mighty Oaks“.
Jonas:
Seit etwa vier Jahren macht ihr gemeinsam Musik. Wie genau habt ihr zueinander gefunden?
Finn S.:
Frederik und ich sind Cousins, wir haben schon mit acht, neun Jahren angefangen, zusammen Musik zu machen und eigene Songs zu schreiben. Vom Stil her ging das am Anfang eher in Richtung Punk Rock – mit Texten wie „Beat the heat and stop the global warming!“ Nach einer gewissen Zeit haben wir uns musikalisch aus den Augen verloren und Fred hat für eine Weile in einer Blues Band gespielt.
Anfang 2014 haben wir beide beschlossen, uns einfach mal wieder im Probenraum zu treffen und zusammen ein bisschen Musik zu machen. Kurze Zeit später sind dann noch ein Schlagzeuger und ein Bassist zu uns gestoßen, das hat aber nicht so richtig gepasst. Auf der Suche nach einem neuen Bassisten haben wir – über einen Kumpel aus der Schul-Big Band – Johnny kennengelernt, das muss Mitte 2014 gewesen sein. Johnny wiederum kannte Finn Thomas, der Ende 2014 unser neuer Schlagzeuger wurde. Und Anfang 2015 kam Luca dazu, den wir wiederum über eine gemeinsame Freundin kennengelernt hatten. So hat es letztendlich ein ganzes Jahr gedauert, bis die Band komplett war.
»Wenn man wie wir aus einer Stadt wie Hamm kommt, ist es leider sehr schwierig, die richtigen Leute zu finden, um ernsthaft Musik zu machen.«
Fred:
Immer wenn wir einen der Jungs kennengelernt haben, haben wir ihn gefragt, ob er Bock hätte, einfach mal bei uns rumzukommen und ein wenig rumzujammen. Irgendwie hat es bei allen drei von Anfang an gepasst. Als wir dann zum ersten Mal zu fünft im Probenraum standen und zusammen gespielt haben, hatten wir das Gefühl, dass das mit uns als Band wirklich funktionieren kann – das, was wir da gehört haben, klang einfach richtig gut.
Bei den ersten beiden Jungs, die ganz am Anfang zu uns gestoßen waren, hieß es während der Proben oft: „Lasst mal lieber gleich nach oben gehen und Bier trinken.“ Finn und ich hatten da aber eine etwas andere Vorstellung, wir wollten ernsthaft Musik machen. Leider ist es sehr schwierig, dafür die richtigen Leute zu finden, zumindest wenn man wie wir aus einer Stadt wie Hamm kommt – und nicht aus Berlin. Daher sind wir alle auch sehr glücklich, dass wir uns in dieser Konstellation als Band gefunden haben.
Jonas:
Nun ist es das Eine, sich als Band zu finden. Etwas anderes ist es, auch einen gemeinsamen musikalischen Stil zu entwickeln – so ein Giant Rooks-Sound fällt ja nicht einfach vom Himmel. Wie habt ihr euch darauf verständigt?
Fred:
Das kann ich gar nicht so genau sagen. Es fühlt sich tatsächlich so an, als wäre dieser Sound mehr oder weniger vom Himmel gefallen. Unsere Band kann man als eine sehr spezielle Kombination aus unterschiedlichen Leuten bezeichnen, die alle jeweils einen etwas anderen Musikgeschmack und musikalischen Background haben. Finn Thomas zum Beispiel hat vorher in einer Schul-Big Band gespielt und bringt dadurch einen anderen Schlagzeug-Stil mit. Und Luca setzt sich sehr stark mit elektronischer Musik auseinander. Darüber hinaus gibt es bei uns aber auch große Überschneidungen – es gibt wirklich viel Musik, die wir alle gut finden. So kam irgendwie alles zusammen und hat sich zu einem gemeinsamen Sound entwickelt.
Jonas:
In den Kompositionen und Arrangements eurer Songs steckt sehr viel Liebe zum Detail. Wie viel Zeit investiert ihr in eure Musik?
Finn T.:
Grundsätzlich kann man sagen, dass wir sehr viel Zeit im Probenraum verbringen – wir proben eigentlich täglich. Dabei kann es durchaus passieren, dass wir einen Song über einen ziemlich langen Zeitraum entwickeln. An „Bright Lies“ zum Beispiel haben wir zwei Jahre lang gearbeitet.
Fred:
Stimmt. Wenn man als Außenstehender die ursprüngliche Fassung von „Bright Lies“ hören würde, würde man den Song nicht wiedererkennen. Wir haben an diesem Song unzählige Stunden gesessen und ihm sehr viel Zeit gelassen. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum du – wie du sagst – so viele Details identifizieren kannst.
Jonas:
Wenn man sich bei YouTube durch die Videos eurer Auftritte und Konzerte klickt, hat man das Gefühl, dass es ohnehin nicht die eine finale Fassung eines Songs gibt – so unterschiedlich sind stellenweise die jeweiligen Interpretationen eines Stücks.
Fred:
Was unsere älteren Songs – sprich die Songs unserer ersten EP „The Times Are Bursting The Lines“ – angeht, spielen wir diese live zum Teil tatsächlich ganz anders und verändern sie stark. Bei den Songs unserer „New Estate“-EP haben wir dagegen schon den Anspruch, die Lieder immer so zu spielen, wie wir sie auch aufgenommen haben. Allerdings erwische ich mich selbst immer wieder dabei, wie ich meine eigenen Gesangslinien variiere. Es gab schon Situationen, da haben uns nach solch einem Auftritt sogar einige Fans angesprochen, weil sie einen Song nicht eins zu eins mitsingen konnten.
Jonas:
Gibt es in eurer Band eine feste Rollenverteilung, was das Komponieren und Texten angeht?
Finn S.:
Meistens bringt Fred eine grundsätzliche Idee mit in den Probenraum, die er sich zuhause am Piano oder an der Gitarre ausgedacht hat. Auf Basis dieser Idee fangen wir dann an, ein wenig herumzujammen, bis wir das Gefühl haben, dass da etwas wirklich Neues heranwächst. Im Anschluss entwickeln wir nach und nach alle Arrangements und Sounds, entweder im Probenraum oder bei unseren Live-Auftritten. Dabei fragen wir uns immer wieder, welche Elemente der Song noch braucht und welche man wieder herauswerfen kann. Beispielsweise ist es oft so, dass wir nach einer gewissen Zeit feststellen, dass es mehr Sinn macht, wenn ein bestimmtes Instrument nicht mehr in der Strophe auftaucht – weil es vielleicht einen viel größeren Effekt hat, wenn es erst wieder in der Bridge zu hören ist.
»Man neigt am Anfang immer dazu, einen Song zu überladen. In den meisten Fällen ist es aber besser, das Ganze zu reduzieren.«
Fred:
Man neigt am Anfang immer dazu, einen Song zu überladen. In den meisten Fällen ist es aber besser, das Ganze zu reduzieren. Wie sagt man so schön: Weniger ist mehr.
Finn S:
Beim ersten gemeinsamen Jammen spielen eben alle gleichzeitig und bringen die unterschiedlichsten Elemente mit in den Song ein. Das ist zwar cool, aber häufig merkt man im Laufe der folgenden Wochen und Monate, dass man ein bestimmtes Element, das der eine spielt, herausnehmen muss, weil das Element eines anderen für die entsprechende Stelle im Song bereits vollkommen genügt. Wir versuchen aber immer, uns da gegenseitig auszugleichen.
Jonas:
Und wie entstehen eure Texte?
Finn S.:
Die schreiben Fred und ich gemeinsam – im Anschluss an die Komposition.
Jonas:
Das hört sich nach einer festen und geordneten Struktur an. Gibt es in eurer Band so etwas wie Demokratie? Oder macht Fred als Frontmann grundsätzlich die Ansage?
Fred:
Ne, ich mache keine Ansage. Ich gebe eher Anreize. Es ist ja meistens nicht mehr als eine Idee, mit der ich in den Probenraum komme. Und diese Idee entwickeln wir gemeinsam zu einem Song. Es ist ja nicht so, als hätte ich vorher schon alles durchdacht.
Ganz davon abgesehen glaube ich aber nicht, dass Demokratie beim Songwriting unbedingt das Richtige ist. Ganz im Gegenteil: Wenn jemand wirklich von seiner eigenen Idee überzeugt ist, dann sollte er auch voll und ganz dahinter stehen und sein Ding durchziehen, und zwar so, dass es für alle am Ende gut funktioniert – ganz egal, ob ich derjenige bin oder jemand anderes aus der Band.
Jonas:
Was ich persönlich an eurer Musik sehr schätze, ist die Tatsache, dass man immer wieder überraschende Momente erlebt, stimmlich wie instrumental. Plant ihr solche Stellen innerhalb eines Songs bewusst? Oder entstehen diese überraschenden Momente ganz automatisch – sozusagen als Nebenprodukt des Songwriting?
Fred:
Das, was du da beschreibst, ist definitiv ein Nebenprodukt. Für unsere Songs haben wir viele komplexe Ideen – und manchmal führen wir sogar zwei eher unterschiedliche Songs zu einem zusammen. Daraus entsteht dann vielleicht etwas, was man vorher nicht erwartet hätte.
Jonas:
Was man bei einer jungen deutschen Band heutzutage auch nicht unbedingt erwartet hätte: dass sie sich bewusst für die englische Sprache entscheidet – auch gegen einen aktuellen Trend in Deutschland…
»Für uns stand es gar nicht zur Debatte, auf Deutsch zu singen. Im Englischen gefällt uns die Sprachästhetik einfach viel besser.«
Fred:
… Ne, wir haben uns überhaupt nicht entschieden. Für uns stand das gar nicht zur Debatte! Wir alle haben nie wirklich deutsche Musik gehört und ich persönlich habe zu deutscher Musik auch nie einen Draht gehabt. Im Englischen gefällt mir die Sprachästhetik einfach viel besser. Und ich glaube, da spreche ich auf für uns alle. Das soll aber nicht heißen, dass es keine gute deutschsprachige Musik gibt.
Jonas:
Fällt es einem in seiner Muttersprache nicht leichter, genau das zu beschreiben, was man denkt und fühlt? Immerhin greift man dort auf einen wesentlich größeren, quasi angeborenen Wortschatz zurück.
Finn S.:
Am Anfang war es tatsächlich schwierig, auf Englisch zu texten. Wenn ich vor einem Songtext saß, dachte ich oft: Mist, wie komme ich jetzt weiter? Das klappt mittlerweile aber viel besser und flüssiger. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass wir so viel englischsprachige Musik hören und dadurch viel öfter mit der englischen Sprachästhetik in Kontakt kommen als mit der deutschen. Ich glaube sogar, dass es für uns heute viel schwieriger wäre, einen deutschen Text zu schreiben.
Jonas:
In eurer Spotify-Playlist On the road with Giant Rooks gibt es aber schon den einen oder anderen deutschsprachigen Titel.
Fred:
Stimmt, da haben wir tatsächlich auch ein paar deutsche Songs drin, zum Beispiel von Faber, Element of Crime oder Bilderbuch. Aber das war’s dann auch schon.
Jonas:
Apropos unterwegs: Ihr seid in den letzten Jahren relativ viel herumgekommen. Wie hat euch dieses ständige Touren geprägt? Stellt ihr an euch irgendwelche Veränderungen fest?
Luca:
Entwicklungen und Veränderungen sind ein ganz normaler Prozess. Durch das Herumreisen nimmt man viel mit, ich kann aber nicht sagen, was genau. Auf jeden Fall keine Routine.
»Ich finde es ohnehin super, wenn es Bands gibt, bei denen man beispielsweise das erste Album total mochte und man sich an das zweite erst gewöhnen muss, weil es komplett anders klingt.«
Fred:
Wir haben interessanterweise gestern noch über dieses Thema gesprochen. Ich habe Finn gefragt, ob ich mich in den letzten Jahren verändert habe. Er konnte mir nicht wirklich eine Antwort geben, da wir uns in den letzten Monaten fast jeden Tag gesehen haben und es daher sehr schwierig ist, irgendwelche Veränderungen an seinem Gegenüber festzustellen. Ich selbst könnte ihm die gleiche Frage auch nicht beantworten.
Was das Musikalische angeht, haben wir uns schon ein wenig verändert. Das finde ich aber auch cool. Ich finde es ohnehin super, wenn es Bands gibt, bei denen man beispielsweise das erste Album total mochte und man sich an das zweite erst gewöhnen muss, weil es komplett anders klingt. Wenn sich eine Band so stark weiterentwickelt, ist das einfach interessant. Und noch interessanter ist es, wenn sie sich nicht nur weiterentwickelt, sondern immer wieder neu erfindet – wie etwa Bob Dylan. Ich glaube, das ist der Grund, warum er es geschafft hat, über Jahrzehnte so erfolgreich zu sein.
Jonas:
Ich kann mir vorstellen, dass man relativ wenig Privatsphäre genießt, wenn man ständig im Fünferpack unterwegs ist. Gelingt es euch trotzdem, auf euren Reisen private, individuelle Räume für jeden Einzelnen zu schaffen?
Fred:
Lustig, auch darüber haben wir uns vor kurzem unterhalten. Ich selbst habe gar kein so großes Problem damit, immer aufeinander zu hocken. Den privaten Raum, den ich für mich brauche, habe ich, wenn ich wieder zuhause bin.
Luca:
Ich könnte es etwas pathetisch ausdrücken: Wir sind einfach gute Freunde.
Johnny:
Es gibt immer die Möglichkeit, sich ein paar Freiräume zu schaffen, beispielsweise an unseren Off-Days. Oder wenn wir ein paar Stunden im Auto sitzen: Da macht einfach jeder etwas für sich. Aber Luca hat es ja gerade schon gesagt: Wir verbringen unsere Zeit auch gerne miteinander.
Finn S.:
Es ist ja auch so, dass es in unserem Leben keine klare Grenze zwischen Beruf und Privatleben gibt. Wir sind einfach 24 Stunden lang die Band und mit unseren Gedanken permanent bei der Musik. Das kann auch mal zum Problem werden. Wenn wir jeden Tag zur Uni oder ins Büro fahren würden, wäre das wahrscheinlich anders – da hat man irgendwann Feierabend.
Fred:
Dieses Loslassen fehlt mir auch ein bisschen. Wir alle haben in den letzten zwei Jahren keinen Urlaub gemacht.
Jonas:
Immerhin wart ihr gerade in Norwegen – als Support für die „Mighty Oaks“.
Fred:
Stimmt, das war zwar kein Urlaub, aber trotzdem wunderschön.
Jonas:
Ihr habt euch bewusst dafür entschieden, dieses Leben zu führen. Sich für etwas zu entscheiden heißt auch immer, sich gegen etwas anderes zu entscheiden – beispielsweise gegen ein Leben, das vielleicht etwas konventioneller wäre, aber dafür mehr Zeit für Familie, Freunde oder Beziehung bieten würde. Gibt es etwas, was ihr in eurem Leben vermisst?
Luca:
Es gab bei uns von Anfang an den einen festen Vorsatz: Wenn wir gemeinsam Musik machen wollen, dann wollen wir es auch richtig machen. Und dafür haben wir uns entschieden.
»Manchmal vermisse ich eine ganz normale Routine in meinem Alltag. So ungern ich zur Schule gegangen bin, war es trotzdem irgendwie ganz geil, jeden Morgen aufzustehen, zu frühstücken und dann loszugehen.«
Fred:
Manchmal vermisse ich eine ganz normale Routine in meinem Alltag. So ungern ich zur Schule gegangen bin, war es trotzdem irgendwie ganz geil, jeden Morgen aufzustehen, zu frühstücken und dann loszugehen. Diese Routine habe ich überhaupt nicht mehr. Man ist jetzt sein eigener Chef und muss sich seine Aufgaben immer wieder selbst geben – und dann auch angehen. Manchmal fällt mir das etwas schwer. Mir sagen viele Freunde, die beispielsweise gerade irgendwo in der Ausbildung sind: „Du hast es so gut, du hast so viel Abwechslung. Ich selbst mache immer nur das Gleiche.“ Aber ab und zu denke ich mir: So eine kleine Alltagsroutine würde auch mir gut tun. Ich glaube, es ist auch etwas einfacher für den Geist und das Wohlbefinden, wenn man permanent eine Aufgabe hat und weiß, was man tut.
Jonas:
Von außen betrachtet sieht man bei erfolgreichen Bands eh nur die Sonnenseiten des Lebens. Dabei gibt es überall auch Schatten. Mit welchen Problemen hattet ihr in den letzten vier Jahren zu kämpfen? Auf welche Widerstände seid ihr gestoßen?
Fred:
Richtig problematisch war es bis jetzt nie. Und so ein wirkliches Gehate haben wir Gott sei Dank auch noch nicht abbekommen. Klar, da draußen gibt es bestimmt auch Leute, die unsere Band so richtig kacke finden. Aber das beschäftigt uns nicht.
Finn S.:
Dafür beschäftigt wir uns umso öfter mit uns selbst und hinterfragen permanent, was wir da tun. Ich finde, das gehört auch irgendwie dazu, wenn man Musik macht. Jeder von uns hat immer mal wieder Phasen, in denen er sich fragt, ob das, was wir zusammen da gerade machen, auch wirklich gut ist und funktioniert. Und ob das alles einen selbst auch wirklich glücklich macht. Aber eigentlich gab es bei uns allen nie einen wirklichen Zweifel daran, dass diese Band das Richtige für uns ist – zumindest gab es diesen Zweifel nicht bei mir. Ich glaube aber, den anderen geht es ähnlich.
(Fred, Luca, Finn und Johnny stimmen zu)
Ich mache das alles unglaublich gerne und bin superdankbar, dass wir Fünf gemeinsam Musik machen dürfen. Und dass wir heute hier bei einem Interview sitzen und später im Tempodrom vor den „Mighty Oaks“ spielen dürfen. Das ist einfach ein unglaublich krasser Traum, der gerade in Erfüllung geht. Wenn man uns vor zwei Jahren gesagt hätte, dass wir mal in Berlin im Tempodrom spielen würden, hätte ich bis jetzt nicht mehr schlafen können. Klingt cheesy, ist aber so. Es ist wichtig, dass man das alles zu schätzen weiß und damit zufrieden ist, was man schon erreicht hat. Alleine das macht doch schon glücklich!
Jonas:
Jetzt hast du mir meine nächste Frage vorweggenommen: Wie geht ihr persönlich mit Zweifeln um? Man zweifelt in erster Linie ja nicht kollektiv, sondern individuell.
Fred:
Wir reden darüber – und zwar relativ offen. Es gibt ja immer wieder Situationen, in denen irgendetwas nicht gut läuft oder einer von uns irgendwie unzufrieden ist. Ich selbst habe zum Beispiel relativ viele Ups und Downs: Gestern war ich mit einer Idee noch total happy, heute morgen habe ich sie schon wieder verworfen. Das ist manchmal echt absurd.
»Es ist immer schwer, auch mit dem im Reinen zu sein, was man selbst tut.«
Jonas:
Ab Januar 2018 werdet ihr auf eurer eigenen Tour unterwegs sein. Auch wenn ihr nicht weit in die Zukunft schauen wollt: Gibt es trotzdem irgendetwas, was ihr euch wünscht?
Fred:
Ich wünsche mir, dass wir richtig gute neue Songs schreiben, mit denen wir alle auch zufrieden sind – es ist ja immer schwer, auch mit dem im Reinen zu sein, was man selbst tut. Was unsere Auftritte angeht, wäre es ein Traum, noch mehr internationale Konzerte zu spielen und bei den Festivals auftreten zu dürfen, bei denen auch unsere eigenen Lieblingsbands am Start sind.
Jonas:
Wenn ihr mich alle so anschaut, stimmt ihr dem wahrscheinlich zu.
Luca:
Kann man so unterschreiben.
Jonas:
Ist Giant Rooks am Ende eine Band Story oder eine Friends Story?
Fred:
Ha! Ich würde schon sagen, eine Band Story. Giant Rooks ist ja ursprünglich nicht durch eine Gruppe von guten Freunden entstanden, die gesagt haben: „Wir machen jetzt einfach mal Mucke. Der eine kann das spielen und der andere das.“ Bevor es die Band gab, haben wir uns – bis auf Finn und mich – überhaupt nicht gekannt.
Finn S.:
Wir alle sind aber durch diese Band gute Freunde geworden.
Fred:
Hmm. Vielleicht ist es am Ende ja doch eine Freunde-Story, wer weiß?
Manuel Martin
Editorial — Manuel Martin
Thirst For Freedom
In February 2014, when thousands of Venezuelans were protesting delinquency, food shortage, and rising prices, motion designer Manuel Martin and his wife decided to take to the streets and to declare civil disobedience. During the following years, Manuel converted his experiences into an illustration editorial called “No más”—“No more”.
22. Januar 2018 — MYP N° 22 »Resistance« — Text & Illustration: Manuel Martin
After patching up our wounds and resting for a few hours, we woke because of the residual noxious plastic stench of expired lachrymatory gas and looked for where the sky was blackened by smoke. We knew that where the smoke billowed, there was a fight to be joined, and where there was none, a fight needed to be started. Our only weapons were our resilience, our perseverance, and our thirst for freedom.
Manuel Martin is a motion designer and art director living in Boston.
behance.net/ManuelMartinDucharne
@manuel_martin
Sigrid Grajek
Portrait — Sigrid Grajek
Lebe, wie es dir passt!
Sie lebte offen lesbisch und soff am liebsten Korn: Claire Waldoff war in den 1920ern der Star des Berliner Varietés. Kabarettistin Sigrid Grajek verwaltet ihr künstlerisches Erbe. Wir sprechen über die Parallelen zweier außergewöhnlicher Frauenleben.
22. Januar 2018 — MYP N° 22 »Widerstand« — Interview & Text: Katharina Weiß, Fotos: Manuel Puhl
Sigrid Grajek hat einen Vogel. Eigentlich sogar drei. In ihrer Wohnung im Berliner Bergmannkiez lebt sie zur Zeit mit Fideli und Sir Francis, der wiederum Flattermann Freddie aus dem Fenster vertrieben hat. Letzterer war so nahe am Talent von Queen-Frontmann Freddie Mercury dran, wie es ein Kanarienvogel nun mal sein kann. „Freddie war ein Goldstück, er ist mir damals quasi zugeflogen. Dafür ist Sir Francis ein richtiger Rotzlöffel. Ich wollte eines Tages bei Karstadt Futter für die anderen beiden holen, als ich diesen knallorangenen Schlingel mit Inbrunst an seinen Gitterstäben rütteln sah. Zwei Tage später habe ich ihn dann für 34 Euro rausgehauen aus dem Bunker.“
»Ich habe mich direkt furchtbar in Berlin verknallt – da ging es mir genau wie Claire.«
Wer der Kabarettistin Sigrid Grajek zuhört, stellt schnell fest: Alle ihre Geschichten leuchten. Egal, ob vom Glanz einer vergangen Ära angestrahlt oder mit einer ordentliche Portion verschrobenem Humor bestäubt – hier trifft herzlicher Ruhrpott-Charme auf angelernte Berliner Schnauze, ein Amüsement par excellence. Mit diesem Geheimrezept schaffte es schon hundert Jahre zuvor eine junge Dame aus dem „Rheinisch-Westfälischen Industriebezirk“ auf die ganz großen Bühnen Berlins: Genau wie Sigrid Grajek kommt auch Claire Waldoff aus dem Westen, die Vorfahren der beiden Damen malochten in der Kohle. Sigrid folgte dem Ruf der Hauptstadt mit 20, Claire war damals 21. „Ich habe mich direkt furchtbar in Berlin verknallt – da ging es mir genau wie Claire,“, erzählt Sigrid Grajek, während wir unsere Mäntel über die Kleiderbügel der Bar Ludwig hängen.
Vielleicht hat Claire Waldoff selbst einmal hier ihren geliebten Korn getrunken, denn seit 1909 war die Kiezkneipe durchgehend als gemütliches Absturzlokal für die Neuköllner Nachbarschaft in Betrieb. „Als ich den Laden übernommen habe,“ erzählt Maurus Knowles, der mit seinem Partner seit Juni 2016 das Ludwig betreibt, „habe ich durchaus ein paar historische Funde gemacht. Im Hinterzimmer verbargen sich noch recht gruselige Zeitungsreste. Stellenanzeigen aus den Jahren 1933/34, die alle eine Abkürzung enthalten: „(mit nat. Gesi.)“ – gesucht wurden nur Arbeiter ´mit nationaler Gesinnung`. Da liefen mir schon ein paar Schauer über den Rücken.“ Der Laden wurde nie grundlegend saniert, sondern immer einfach nur weitergegeben. Teile der Einrichtung, wie zum Beispiel die verspiegelte Theke, sind einbetoniert und stehen vermutlich seit dem Bau des Hauses an ihrem Platz. Einige Überraschungsfunde lassen auch auf eine Multifunktionalität des Ortes schließen: „Ich habe in einigen durchsichtigen Plastiktüten nicht ganz saubere Damenunterwäsche gefunden.“, fügt Maurus Knowles hinzu, während er uns ein delikates Schnäpschen kredenzt. Mit seinem vielgestaltigen Programm aus Performances und Dragshows, Livemusik und Impro-Abenden, Filmscreenings und Video-Art, Lesungen und Buchpräsentationen und mit wechselnden Ausstellungen zeitgenössischer Kunst wäre das Ludwig sicherlich auch für die junge Claire Waldoff ein zweites Wohnzimmer geworden.
Die widerspenstige junge Frau, als eines von über zehn Kindern in ein proletarisches Milieu geboren, zeigte früh ihren eigenen Kopf. Sie setzte durch, an einem der ersten Mädchengymnasien im Deutschen Reich, das von Frauenrechtlerin Helene Lange in Hannover gegründet wurde, Kurse belegen zu dürfen. Schon früh begann die unprätentiöse Claire mit der „Revolverschnauze“, sich Rechte herauszunehmen, die damals für Frauen nicht vorgesehen waren. Ihr ursprüngliches Ziel, Medizinerin zu werden, wurde schnell verworfen, als sie in Hannover auf Tourneeschauspieler traf und sich kurzerhand der Truppe anschloss.
Claire Waldoff lebte einen Entwurf des Frauseins, der damals mindestens revolutionär war.
Mit den Füßen in kaltem Kaffee – damals herrschte der Aberglaube, dass dies wach hält – lernte sie nächtelang Texte und eignete sich das Handwerk der „Schmiere“ an. Lukrativ war dieses Lotterleben freilich nicht. Ohne eine Mark in der Tasche machte sie sich 1906 auf, um Berlin zu erobern. Im keuschen und gesitteten Berlin des Kaiserreichs fiel diese bräsige Person mit der riesigen Klappe von Anfang an auf. Umgeben von zierlichen Damen mit Spitzenhandschuhen und gesenktem Blick lebte sie somit einen Entwurf des Frauseins, der damals mindestens revolutionär war. Was im bürgerlichen Leben nicht möglich war, konnte zumindest im Künstlermilieu ein Zuhause finden – und so fand Claire Waldoff zum Kabarett. Im Theater an der Potsdamer Straße trat sie im Etonboy-Anzug auf, was ihr eigentlich untersagt worden war. Für die kaiserliche Zensurbehörde galt eine Frau im Anzug als unschicklich, ganz zu schweigen von Bühnenauftritten solcher Art nach 23 Uhr.
Doch Claire Waldoff sorgte nicht nur mit ihrer Kleiderwahl für einen Flüsterskandal. Auch das Liedgut, mit dem sie ihr Publikum beglücken wollte, wurde wegen antimilitaristischer Tendenzen verboten. Kurz vor dem Auftritt legte ihr deshalb der befreundete Komponist Walter Kollo einen Alternativtitel vor, der davon handelt, wie sich ein liebestoller Erpel mit einem sogenannten Schmackeduzchen (neudeutsch für Rohrkolben) vergnügt. Die Pflanze hatte zuvor allerdings eine heiße Affaire mit einem Schwan gehabt, die sie nicht ganz unbefleckt überstanden hatte. Diese polyamore Dreiecksgeschichte samt unehelichem Nachwuchs wäre von der Zensur natürlich als zutiefst unmoralisch bewertet worden, hätte der Komponist sie im Reich der Menschen angesiedelt. Durch den metaphorischen Griff ins Tierreich wurde das Stück aber durchgewinkt – und Claire Waldoff wachte am Tag nach der Vorstellung als neuer Star am Varieté-Himmel auf. Von da an zierten Plakate mit ihrem Konterfei und dem Slogan „Der Stern von Berlin“ die Vergnügungsmeilen der Stadt.
Sigrid Grajek hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Erbe dieser außergewöhnlichen Künstlerin für die Nachwelt zu visualisieren. „An Marlene Dietrich im Anzug erinnern sich alle, weil sie für ewig auf die Leinwand gebannt wurde. Von Claire gibt’s nur körnige Schwarzweißaufnahmen. Und von wem es heute keine YouTube-Videos gibt, wird vergessen.“
Sich das Kostüm der Claire wie eine zweite Haut anzuziehen, war jedoch eine ordentliche Herausforderung für Sigrid Grajek: „Das sind unglaublich große Schuhe.“ Die Künstlerin entschied sich bewusst dafür, nicht den ikonischen, feuerroten Bubikopf-Schnitt von Claire Waldoff zu imitieren, sondern mit ihrem eigenen Kopf das Werk Legende aus den 1920ern zu interpretieren. Wie ikonographisch das Wirken der Waldoff in einer ganzen Generation nachwirkte, erfuhr Sigrid Grajek bei einer ganz besonderen Begegnung: Als sie vor zehn Jahren ihre Premiere als Claire Waldorf feierte, wurde sie kurz danach zum Radiointerview gebeten. Als zweiten Gast hatte der Sender einen alten Herrn eingeladen, der sich mit Rollator langsam ins Studio bewegte. Im Laufe der Aufzeichnung stellte sich heraus, dass ebendieser Herr zu seinen Teenagerzeiten die berühmte Claire Waldoff im Varieté Wintergarten – das ja bis heute noch existiert – bestaunen durfte. Sein Geselle hatte Karten über die Gewerkschaft bekommen und schenkte dem jungen Burschen das allererste Theatererlebnis seines Lebens.
„Und als dieser alte Mann, der eben noch so hinfällig wirkte, mit einer ausladenden Gestik vom dem Moment erzählte, als Claire die Bühne betrat, wurde mir klar, was für eine unglaubliche Begeisterung diese Frau ausgelöst haben muss. Er beschrieb, wie das Publikum unter reißendem Applaus aufsprang – und dabei stand er selber auf. Er durchlebte diese Szene noch einmal und war – ob dieser Erinnerung – energetisch total geladen. Kaum war er mit der Erzählung fertig, sackte er wieder in sich zusammen. Aber der Moment wirkte nach: Noch Jahrzehnte später haut es die Leute vom Stuhl, wenn sie sich an Claire Waldoff erinnern.“
Die Erinnerungen an die hochkomplexe Emotionalität jener Zeit, in der Claire Waldoff wirkte, ist dabei ein ständiger Begleiter: Sinnbildlich steht sie für die goldenen 20er, „die Zeit davor, in der alles noch gut war.“ Sigrid Grajek erzählt von einem jüdischen Pärchen, das bei ihr in der ersten Reihe saß und quasi eine ganze Vorstellung lang weinte. „Ich musste lange mit mir hadern, ob ich das überhaupt darf. Ob ich das Recht habe, vor diesem Hintergrund überhaupt Claire Waldoff interpretieren zu können. Aber diese beiden meinten: ‚Sie müssen sogar!’ Diese Geschichten dürfen nicht vergessen werden.“, erzählt Sigrid Grajek.
Fast immer, wenn die Kabarettistin in ihrem Waldoff-Bühnenprogramm das Datum des Berliner Bombardements nennt, stehen den ältesten Besuchern im Publikum Tränen in den Augen. In der Nacht vom 22. auf dem 23. November 1943 starben tausende Menschen und Hunderttausende wurden obdachlos. Auch Claire Waldoff verlor in dieser Nacht ihre Berliner Wohnung.
Mit 16 teilte Sigrid Grajek ihrem Umfeld mit, dass sie Mädchen liebt – 1980 in der Provinz des Dortmunder Umlands ein einsames Schicksal.
Wie schmerzlich die Erfahrung ist, kein Zuhause mehr zu haben, kann Sigrid Grajek nachfühlen, wenn auch auf eine vollkommen andere Art und Weise. Mit 16 teilte sie ihrem Umfeld mit, dass sie Mädchen liebt – 1980 in der Provinz des Dortmunder Umlands ein einsames Schicksal: „Heute ist meine Mutter meine größte Unterstützerin, aber damals hatte sie kein Verständnis. Ich komme aus einem alkoholisierten Gewalthaushalt mit Depressionshintergrund, das war alles ziemlich scheiße bei uns. Meine Mutter war einfach komplett überfordert. Die Trennung von meinem Vater war gerade durch, alles war furchtbar und dann kam ich noch mit meinem Coming-out, das war einfach zu viel.“, sagt Sigrid Grajek. Ihr blieb nur übrig, sich die Jacke zu schnappen und zu gehen.
Zuerst schlief sie bei Freunden, die sie in Dortmund kennengelernt hatte, wo es eine Frauengruppe mit Lesbenzentrum gab. Danach zog sie, noch minderjährig, in ein besetztes Haus. Drei Tage nach ihrem 18. Geburtstag wurde dieses von der Polizei geräumt – und Sigrid wurde verhaftet, da sie ihr neues Zuhause nicht schon wieder verlieren wollte. An die Stunden hinter Gittern erinnert sie sich noch genau: „Die Akustik in dem Gefängnis war gut, da habe ich viel gesungen.“ Bei der Gerichtsverhandlung verteidigte sie sich selbst. „Ich hab’ denen gesagt, wie es war. Ich hätte zu diesem Zeitpunkt alleine in Dortmund keine Wohnung bekommen und zuhause hatte ich niemanden. Dort im besetzen Haus wurde ich zum ersten Mal so angenommen, wie ich war. Die haben auf mich aufgepasst! Zudem konnte ich nachweisen, dass ich nach der Arbeit zur Abendschule gegangen bin, um mein Abitur nachzuholen.“
Die Richter hatten Mitgefühl, sie kam mit einer jugendrichterlichen Ermahnung davon. Arbeit, das hieß für die junge Sigrid Grajek vier Jahre lang: Akkordarbeit in der Fabrik, nicht als Studentenjob, sondern als langfristige Perspektive. Eine prägende Zeit. Vor allem die Unterstützung der anderen Fabrikarbeiterinnen half der jungen Frau. „Die waren unglaublich solidarisch.“, erzählt sie in dankbarem Tonfall. „Alle diese Damen saßen dort fest, weil ihre Biografien so waren, wie Frauenbiografien zu jener Zeit eben oft waren. Keine von denen wollte dort bleiben, aber sie haben es nie geschafft zu gehen. Deshalb haben die mich regelrecht zur Schule getreten.“
Von der Fabrik in Dortmund konnte sie 1983 nach Berlin zu Siemens wechseln. Die angehende Schauspielerin arbeitete häufig mit einer Neuköllner Arbeiterin namens Uschi zusammen, die ihr viel Unterstützung und eine ganz besondere Bitte zukommen ließ: „Bitte mach’ immer nur Sachen, die wir auch verstehen.“ Seitdem hangelte sich die Kabarettistin immer an der Richtschnur entlang, Kunst zu machen, die auch von Menschen ohne größerem kulturellen Kapital verstanden wird. „Das bin ich meinen Kolleginnen auch schuldig!“
Der Einstieg ins Showbusiness gestaltete sich für die junge Künstlerin schwierig. Gefragt waren hübsche Gretchen, doch Sigrid Grajek waren Kleider und Koketterie ein Graus. Bereits als Sechsjährige hatte sie einen riesigen Zoff mit der Mutter, da sie zur Schule ihre Hose anziehen wollte: „In den 60er Jahren gingen Mädchen im Kleid zur Schule, Punkt.“ Doch sie setze sich durch und musste nur noch ein einziges Mal im Kleid erscheinen – zur heiligen Kommunion, ihre Eltern waren Katholiken. Später rieten ihr Regisseure: „Du musst deine Weiblichkeit betonen, schmink dich doch mal.“
„So wie ich bin – als rustikale Frau –, kam ich in den 80ern, 90ern gar nicht an, als ich meinen Beruf begonnen habe. Als ich mir dann mal eine Dauerwelle gemacht und mich dezent geschminkt hatte, wurde ich von einer Schauspielagentur, bei der ich mich beworben hatte, prompt für eine Drag Queen gehalten. Also kamen die Haare sofort wieder ab, ich bin halt anders – und so musste ich damit leben, dass ich im klassischen Theater meine Schwierigkeiten hatte. So bin ich alte Butch dann eben im Kabarett gelandet – genau wie Claire.“, erzählt Sigrid Grajek.
Es fällt überhaupt nicht schwer, das zu glauben. Doch gleichzeitig erscheint es wahnsinnig eigenartig, dass wir in der deutschen Kulturlandschaft so viele Damen à la Veronica Ferres haben und so wenige Frauen wie Sigrid Grajek. Dabei ist es gar nicht leicht, den Blick von ihr zu lösen. Ihre Mimik hat etwas Anziehendes, das über reine Begehrlichkeit hinausgeht. Ihre raue Stimme ist so klar verständlich, dass man stundenlang zuhören könnte.
»Wenn ich auf der Bühne stehe, dann spüre ich das Verstreichen der Zeit nicht...«
Dass einen dieses freie Künstlerleben fernab der konventionellen Karriereleiter kaum zu Krösus werden lässt, liegt nahe. „Ich lebe sehr am untersten Ende der Einkommensabteilung. Arbeitslos gemeldet war ich aber nur zwei Monate meines Lebens, im Jahr 1983. Ich habe es immer geschafft zu improvisieren und durchzukommen. Bin quasi mit ‘ner Bohrmaschine zur Welt gekommen!“, erzählt Sigrid Grajek ohne Reue. In den Zeiten, in denen sie nicht von ihrem Beruf leben konnte, arbeitete sie als Handwerkerin und renovierte Frauenhäuser oder Privatwohnungen. „Je älter man wird, desto beschwerlicher wird das natürlich. Ich wollte mit diesem Beruf aber nie reich werden. Reich werden oder gar berühmt ist für mich vollkommen uninteressant. Mir ging es immer darum: Wenn ich auf der Bühne stehe, dann spüre ich das Verstreichen der Zeit nicht…“
Genau diesen Reiz – vom Widerstand gegen alles Vergängliche, vom Widerstand gegen Norm und Langeweile – verströmt die Ära der Claire Waldoff bis heute. Claire kämpfte sich mit der Machete durch den Großstadtdschungel und ebnete den Weg für viele andere Frauen. Was der Dandy Christopher Isherwood für die homosexuellen Männer war, stellte Claire Waldoff für die urbanen Frauen ihrer Generation da. Mit ihrer großen Liebe Olga von Roeder – beide blieben über 40 Jahre, bis zum Tod, beieinander – zeigte sie sich häufig im berühmten Bermuda-Dreieck: Narrenfreiheit zwischen der Bülowstraße und dem Winterfeldtplatz.
Ihre Damenrunden waren legendär. Einmal hatte sie zum Fest geladen und die berüchtigte Bowle „Rio de la Plata“ aufgetischt, eine wilde Mischung aus Champagner und Schnaps. Als die beschwipste Gesellschaft gerade zum Glücksspiel übergegangen war, kam eine Lieferung eleganter Seidenunterwäsche des Kaufhauses Wertheim an. Claire Waldoff ging der monetäre Einsatz aus. Sie setzte kurzerhand die exquisite Lieferung aufs Spiel – und verlor ihre gesamte neue Unterwäsche.
Wenn sie nicht gerade in ihrer Wohnung im Bayerischen Viertel arbeitete und feierte, ging sie flanieren. Die Motzstraße war ihre Meile. Mit Marlene Dietrich besuchte sie die beliebten Travestie-Shows im El Dorado. Am Häufigsten war sie vermutlich im Damenclub Pyramide, der sich im dritten Hinterhaus in der Schöneberger Schwerinstraße traf. Für 30 Pfennig Eintritt konnte man hier mit Nackttänzerin Anita Berber einen Absacker trinken, es wurde wild geschwoft und gesoffen.
In ihren Erinnerungen schreibt Claire Waldoff höchstselbst über diese Zeit: „Man sah bekannte Maler von der Seine; und schöne elegante Frauen, die auch mal die Kehrseite von Berlin, das verruchte Berlin kennenlernen wollten; und verliebte kleine Angestellte; und Eifersüchteleien gab’s und Tränen am laufenden Band; und immerzu mussten die Pärchen verschwinden, um ihren Ehezwist draußen zu schlichten. Zum soundsovielten Male ertönte im Laufe des Abends die berühmte ‚Cognac-Polonaise‘, die man auf dem Tanzboden kniend und mit dem gefüllten Cognac-Glas vor sich zelebrierte.“
Die Kabarettistin war keine Aktivistin im eigentlichen Sinne, sie stellte keine politischen Forderungen oder zettelte Revolutionen an. Sie lebte einfach ganz selbstverständlich so, wie es ihr passte. „Und das“, findet Sigrid Grajek, „ist manchmal das Größte, was du machen kannst.“
Sigrid Grajek ist Kabarettistin und lebt in Berlin.
Dillon M. Hayes
Editorial — Dillon M. Hayes
Points Of Access
22. Januar 2018 — MYP N° 22 »Resistance« — Text & Photography: Dillon M. Hayes
The gates of acceptance are first forged by family, childhood friends, and those who don’t care much for us at all. In the malleability of our youth, they take turns bringing the frame of the gate to its melting point, shaping it, and letting it cool in place. The most influential hands, I’m glad, were determined to grant a wide berth – one through which I could see and be seen. I could be accessed by those I don’t already know.
I twisted the gates of others, too. Each kindness and transgression manipulated a threshold’s shape. I’m no more skilled a metalworker than the next, but we all share the capacity to heat the iron then leave it cold.
But in adulthood, those gates, however world-worn, are heated and shaped by our own aspirations. We have the capacity to open and re-open our hearts to the world that may have deformed us. As a means of re-shaping and of granting access, we must accept, forgive, and love even those who seem to deserve it least.
I’m not always accessible, vulnerable, or bearing the energy to be those things. But when we see others as they are and accept them through our gates, we fortify them against the hazards of tyranny and hate. In turn, they will do the same for us. In that way, kindness is a form of resistance. The transmission of positive energy subverts the wills of the selfish and greedy. And when we open our gates to others, it’s easy to see that we’re made from the same material to begin with.
Dillon M. Hayes is a director, editor, producer, and photo artist living in Los Angeles.