Anna-Maria Nemetz

Submission — Anna Maria Nemetz

Nächstenliebe in der Wüste Israels

Midburn 2018: Mitten in der israelischen Wüste feiern Festivalfans aus aller Welt den Trend der „Radical Self-Expression“. Wie es sich anfühlt, in einer Krisenregion Party zu machen, erzählt Anna-Maria Nemetz.

8. August 2018 — MYP N° 23 »Instinkt« — Text: Anna-Maria Nemetz, Fotografie: Meir Cohen

Sanfte Landung auf israelischem Boden am 15. Mai 2018 um 16:20 Uhr. I‘m back home – so zumindest fühlt es sich an, wenn ich nach Tel Aviv reise. Es ist mittlerweile das vierte Mal. Das erste Mal hat es mich dorthin verschlagen aufgrund eines Musikvideodrehs unter der Thematik „Die Suche und Umsetzung der persönlichen Freiheit in einer zunehmend unverständlich-grausamen Welt wie der unseren“. Die Realisierung erfordert vorab eine intensive Auseinandersetzung mit dem Land Israel und der Komplexität der vorherrschenden Konflikte. Mein Interesse wächst. Zudem bin ich von Minute eins magisch angezogen von dieser Stadt.

Es ist der 15. Mai 2018. Nur einen Tag zuvor, am 14. Mai, wurde die Botschaft unter Trump in Jerusalem eröffnet. Gleichzeitig war es der 70. Jahrestag der israelischen Staatsgründung. An Israels Grenze zum Gaza-Streifen kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen. Über 60 Menschen kamen ums Leben, unzählige Menschen wurden verletzt. Mir fehlten die Worte. Der Friedensprozess des Nahost-Konflikts grenzt immer mehr an Utopie. Und ich bin auf dem Weg zu einem Festival… Es scheint mir, das Leben in Tel Aviv wird von dieser Absurdität bestimmt: Kämpfe, Waffenruhe, Kämpfe, Waffenruhe, Kämpfe, Waffenruhe… und dazwischen Leben – als gäbe es keinen Morgen. Hoch fliegen, jeden Tag, unter einem Raketenschutzschild!

Ich lande. Ich hetze zum Gepäckband und schnalle mir den scheißschweren Rucksack auf meinen schwachen Rücken. „Ordentlich festziehen, sodass sich das ganze Gewicht hauptsächlich auf meine Beine verlagert“, wie mir der Outdoor-Fachmann bei dem Rucksack-Kauf einen Tag zuvor mit auf den Weg gab. Die Vorbereitung auf den vermeintlichen Survival-Trip „Midburn“ in der Negev Wüste geschah in der allerletzten Minute. Zelt, Schlafsack, einen gut sitzenden Backpacker, Sonnencreme, ein schickes deutsch-authentisches Hawaii-Hemd, das nun nach jahrelangem Kelleraufenthalt endlich Einsatz findet, dazu Wasser, Müsliriegel en masse, die sich in der Wüste hoffentlich gut halten werden, und einen unentbehrlichen Sonnenhut in der angesagten Farbe Beige mit der dicken, nicht übersehbaren Aufschrift meines Rufnamens „Annama“ sowie der Telefonnummer meines Notfallkontaktes, genau wie mir meine liebe Mutter es verordnet hat.

Wenn Gaffa Tape doch nur tatsächlich die Welt zusammenhalten würde!

Der Funktionshut soll im Worst Case-Szenario zur Identifizierung meiner Person beitragen, sollte ich mich unter den Folgen der brennenden Sonneneinstrahlung in der Wüste in einen anderen, gegebenenfalls flüssigen Aggregatzustand umgewandelt haben. Zu guter Letzt ein XL-Gaffa Tape. Ich bin der festen Überzeugung, dass Gaffa Tape alle erdenklichen Probleme lösen kann. Slogan: „Das klebrige Wundermittel, das die Welt zusammenhält.“ Wenn es doch nur tatsächlich die Welt zusammenhalten würde! Ich glaube vollständig vorbereitet zu sein, um das Wüstenabenteuer unversehrt zu überstehen, wenn nicht gar zu überleben.

Durch mein zweites Zuhause schleppe ich mich mit Sack und Pack auf dem schnellsten Weg zum Spaceshuttle, das mich zum Festivalgelände bringen wird. Die Straßenoberflächen glühen vor Hitze und ich spüre, wie sich so langsam ein Feuchtbiotop in meiner Rückenregion unter dem Rucksack bildet. Herrlich! Die Truppe, die ich auf Facebook ausfindig gemacht habe und der ich mich im endlosen Abenteuerfieber anschließe („Midburn ride“), wartet bereits auf mich. Nach etwa zwei Stunden Autofahrt, neuen Bekanntschaften, tollen wertvoll-platonischen Gesprächswechseln, gekühltem „Goldstar“ Bier in den Adern, kleinen Köstlichkeiten mit Hummus im Magen und jeder Menge blauer Farbe in Form von kleinen Kunstwerken auf meinem Körper, bin ich nun legitimiert und bereit, das Festival mit bester Laune zu betreten.

»Welcome Burners, welcome home!«

„Welcome Burners, welcome home!“, heißt es an den Gates. Da ich mich zeitlich keinem Camp mehr anschließen konnte und somit „free camper“ bin, suche ich mir zuallererst ein lauschiges Plätzchen neben all den anderen Zelten auf 2 Uhr, um in erster Linie meine ganze Last loszuwerden. Ähnliches würde ich wohl auch in den Folgetagen tun, nur dass es – ganz dem Midburn-Selbstverständnis entsprechend – um die Befreiung von den psychischen Lasten des Alltags gehen wird. „Release your mind!“ heißt es hier. Mit einem blauen Edding tagge ich noch schnell – ebenso wie später auch alle anderen Freigeister, die mir auf dem Weg der Selbsterfahrung begegnen werden – mein zerschnittenes Shirt mit der Aufschrift „Free Mind“, um die Philosophie des Midburn in voller Gänze zu leben. Ein weiteres Shirt bekommt die pragmatische Aufschrift „Please help!“

Bei der Errichtung meiner Behausung für die nächsten sechs Tage kommt mir das sehr zugute. Ich überlege, ob ich jemals in meinem Leben ein Zelt aufgebaut habe. Die Antwortet lautet zweifellos: noch nie! Ungünstig, denke ich. Die Verzweiflung ist mir ins Gesicht geschrieben und so kommen schnell ein paar Helferlein beziehungsweise meine neuen Nachbarn zur Hilfe geeilt. Gott sei Dank! Bei solch körperlichen Anstrengungen wäre ich in der Hitze wohl eingegangen – und unter Teameinsatz wird das Ganze doch direkt zu einem schönen Erlebnis. Ich erhalte zudem noch einen köstlichen Granatapfelsaft mit Schuss. Fantastisch – ich bin angekommen! Fast schon heimisch.

Die folgenden Tage tanze ich, wie die meisten meiner Weggefährten, überwiegend durch das sandige Wüstenparadies. Schwebende Körper in beeindruckenden Outfits („radical self expression“) unter einem atemberaubenden Sternenhimmel, bunten Lichtern und hypnotisierender Musik – bei Nacht wie bei Tag, als wäre dieser noch ganz unberührt und bereit erweckt zu werden von friedlichen „Burners“, die langsam aus ihrem ganz persönlichen Utopia höchster Gefühle wieder in der Realität landen.

Das Einzige, was käuflich ist, sind kiloweise Eiswürfel.

Regelmäßiger Schlaf kommt nur selten vor. Also eigentlich nie. Zeit ist hier relativ. Entschleunigung, ein wunderbares Gefühl! Bin ich erschöpft, so lege ich mich zwischendurch mal auf gemütlich drapierte bunte Kissen im „Free Love Camp“ oder mache Rast auf dem riesengroßen pinkfarbenen Plüschteddy im „Crystal Grey Camp“. Oder ich finde einen ruhigen Moment in all den anderen tollen Camps. Nach einer kurzen Ruhephase wache ich um 4 Uhr morgens auf. Ein „Kumpel“ beziehungsweise ein „Seelenverwandter“ beziehungsweise ein „Bruder im Geiste“ beziehungsweise ein „Vertrauter“ und „Gleichgesinnter“ in goldenen Leggings weckt mich freundlich auf und überrascht mich mit einer Flasche Rotwein und Müsli mit Milch. Ohne auch nur einen einzigen Cent oder Shekel in den Taschen bekomme ich hier und da einen Snack, eine Erfrischung, ein tolles Gespräch, einen Tanz; Hilfe, wenn Not am Mann ist; eine ehrliche, viel zu lange Umarmung; ein strahlendes Lächeln, einen guten oder gut gemeinten Rat fürs Leben… Man bringt mit, was man glaubt zu brauchen, und beschenkt einander. Das Einzige, was käuflich ist, sind kiloweise Eiswürfel.

Einmal heile Welt spielen. Es kann so einfach sein. Wie gut das tut!

Nach dieser nahrhaften und liebevollen Stärkung finde ich mich tanzend bei magisch glühendem Sonnenaufgang inmitten der Wüste wieder. Laute Musik fliegt 24/7 durch die Lüfte. Mit Sand von oben bis unten bedeckt, Sandkörnern zwischen den Zähnen, alles egal. Körperlicher und mentaler Zustand: fantastisch. Zur anfangs befürchteten Umwandlung meiner Erscheinungsform – von fest zu flüssig, aber stets mit Hut – ist es nicht gekommen. Das Abenteuer Wüste ist ein einzigartiges, inspirierendes Herumtollen auf einem gewaltigen Spielplatz voller Attraktionen und großartiger Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen. Jeder kann tun und lassen, was er will, ohne den Kant`schen Imperativ zu verletzen. Unverfälschte Authentizität, Loyalität und Menschlichkeit werden in vollen Zügen zelebriert und toleriert. Eine Community unabhängig von Religion und Politik. Ein Symposium ganz im Sinne Lessings. Einmal heile Welt spielen. Es kann so einfach sein. Wie gut das tut!


Years & Years

Interview — Years & Years

Remaining Silent Isn’t Good Enough

Following their instincts, British electropop trio Years & Years return bolder than ever before.
Lead vocalist and one third of the band, Olly Alexander, discusses the state of pop music,
artificial intelligence and the importance of speaking up.

28. Juli 2018 — MYP N° 23 »Instinct« — Interview: Alexander Salem, Photography: Steven Lüdtke

Three years since their debut record “Communion”, British electropop trio Years & Years have been busy writing and producing their follow-up record, “Palo Santo”. With an air of newfound confidence, lead vocalist Olly Alexander seems eager to share with the world the band’s latest electropop mastery. Backstage at Berlin’s Kulturbrauerei, we sat down with Olly to discuss the state of LGBTQ+ representation in contemporary pop music, artificial intelligence and most importantly why today—more than ever—remaining silent isn’t good enough.

»In terms of LGBTQ+ representation in the public eye, it’s so slim, and if you are someone who has a platform, then you should be doing your damn best to fight for our rights.«

Alexander:
Since 2015 it seems that the world is in a very different place than where it was three years ago. How’ve you personally experienced the last three years in terms of your rise to fame and your own context within this world?

Olly:
As the world has descended into dumpster chaos, I think that we’re seeing some really interesting art come out of it. Trying to chart my own personal journey within the context of what’s happening in the world is obviously quite hard. But I think the last three years has really gotten me to think about my own position within the world. Once the dust had settled after the first album and we had finished touring, it was so overwhelming… I thought to myself, “wow, I’m in such a privileged position as an artist, to be able to create music”. If anything, I feel more and more inspired to do that; to create something that I’m passionate about. I’m very lucky to able to this and I feel more driven to keep going now.

Alexander:
One monumental thing that comes to mind, albeit a depressing subject, are the events that happened in Orlando in 2016 at Pulse club. Did these events in some ways invigorate you to keep going?

Olly:
When those events happened, it was obviously such a huge shock. Given the state of our world today, it got me thinking that it really isn’t good enough to be silent or to not say anything at all. In terms of LGBTQ+ representation in the public eye, it’s so slim, and if you are someone who has a platform, then you should be doing your damn best to fight for our rights…

Alexander:
…especially given the platform you’ve been given…

Olly:
…exactly, a platform is a privilege. Most of us don’t get our voices listened to and I’m lucky to have mine, so, I’m trying to do my best.

»As a white, cisgender, gay guy, it is your duty to really listen to others.«

Alexander:
You have been very vocal in the public eye on how being gay intersects with mental health and spoken candidly on many different issues affecting different LGBTQ+ communities. Have you felt a pressure to fulfil a certain expectation of what it means to a popstar, but also a certain expectation of what it means to be gay in the public eye? How do you navigate and reconcile these two factors?

Olly:
I think that I’ve got a lot to learn. I can do that best by listening to people. In terms of being someone who speaks about their own experience, but also listening to different people across different LGBTQ+ communities. I try my best to listen to other people the best I can, especially on, like you say, how their lived experience intersects with mental health. I’ve lived with my own mental health for so long, so I understand and acknowledge that within myself. I try to listen to other people’s conversations and other people’s experiences. I think as a white, cisgender, gay guy, it is your duty to really listen to others—especially to people of colour and to listen to marginalised communities that exist within our queer community… Be respectful. That’s the attitude I try to adopt across the board with everything. In terms of my career, what’s so intense about having a successful album is that your label wants you to create that kind of success again. Especially with the campaign for “Palo Santo”, it’s quite out there. I wanted to be in a leotard and twirl around on stage—which I’ve been doing for years now. The label sees that and thinks that’ll potentially harm sales or that it will turn an audience off.

»Any resistance that I witness to the work I do where people say, ›that’s too gay‹, or ›that’s too weird‹, makes me want to do it even more.«

Alexander:
A few years ago, you were advised to “hide your sexuality” in the public eye in terms of harming your career. Between “Communion” and “Palo Santo”, have you felt compelled to be more unapologetic about your identity in the public eye?

Olly:
In that specific circumstance, there was a woman who worked in media training. She was someone that the label brought in and was not really connected to the label itself. She thought it was in my best interest to hide my sexuality, in terms of inviting personal questions or having my private life compromised. She had the best intentions of doing that; but it still holds onto an attitude that being gay isn’t acceptable… and that’s not okay. Any resistance that I witness to the work I do where people say, “that’s too gay”, or “that’s too weird”, makes me want to do it even more.

»There are a lot of different ways to love somebody. We need to challenge these dominant narratives in pop music.«

Alexander:
Given the specific context of your music and as someone who openly identifies as gay, what is the significance of using masculine pronouns in your songs about relationships in today’s predominantly heterosexual pop music landscape?

Olly:
We’re so used to hearing one narrative in a pop song. I mean, it’s there for a reason too, a lot of people can relate to that. But the reality is, relationships are more complex than that, there are a lot of different ways to love somebody… we need to challenge these dominant narratives in pop music.

Alexander:
Is this a conscious decision to use the pronouns you use during your lyrical writing process? Or is this just you being you in some ways; someone who happens to be gay, who also happens to be writing pop music?

Olly:
I think both things must be taken into consideration because I remember the first time I slipped a masculine pronoun in my lyrics was in “Real” and I remember feeling quite scared at the time… It felt quite scary.

Alexander:
What element was scary? Was this something you had to overcome with inside yourself, or a certain external pressure?

Olly:
No… It was mostly personal factors. I thought to myself: “Am I really ready to put myself out like that”? It felt quite exposing and made me feel quite vulnerable. That in itself made me feel annoyed because I thought, “why should I be scared of this”? This pushed me to go ahead anyway and do it. Once you’ve done it, you think to yourself, “I’ll just do it again”. I sort of just didn’t tell anyone at the time and just went and slipped it in anyway.

»I’m obsessed with technology, artificial intelligence and interested in how it makes us reassess our own humanity.«

Alexander:
Moving onto “Palo Santo” and speaking about the short film that accompanies the album. Visually speaking, what was the source of inspiration behind the futuristic android society you created in the world of “Palo Santo”?

Olly:
Cinematically, it was really inspired by movies such as “Blade Runner”, “Fifth Element”; even “Twin Peaks” and “Mulholland Drive”. When I was coming up with the whole concept, I got really interested in Victorian spirituality and this weird attitude towards the occult that was so popular during that age. I imagined for “Palo Santo” that what if that was the case, but thousands of years into the future in an android society. I’m obsessed with technology, artificial intelligence and interested in how it makes us reassess our own humanity.

Alexander:
On the topic of artificial intelligence and our obsession with technology; the narrative of the short film says that this futuristic android society “desire nothing more than to experience real human emotion” and a need “satisfy this thirst for entertainment”. To what extent can you draw a comparison between today’s youth and our obsession with entertainment through our mobile devices on apps such as Instagram? Is it a commentary on today’s trends?

Olly:
At the heart of our obsession with social media, for instance, is really a desire to connect with each other. There’s a reason why selfies are so popular because we connect to faces and instantly drawn towards someone’s face. I just imagined that the androids in “Palo Santo” just want to connect to somebody because their machinery is wired a certain way—the question I wanted to pose in the film is, “are androids more human than we think”? I guess that would be the parallel.

Alexander:
What struck me the most about the short film is the diversity of the cast, but also the film noticeably attempts to challenge some rigid expectations of gender and sexuality; it feels noticeably more queer than a large majority of depictions of future societies we’ve seen before…

Olly:
…Thank you!

Alexander:
I just wanted to know, is this how you imagine the future will be in the coming years. Is it going that way? Or it’s 2018 and it’s all just downhill from here?

Olly:
I honestly don’t know. I’ve spent a lot of time imagining future worlds. I mean, who the fuck knows? I know there is one version which is a bit more gender fluid; a bit more fluid across the scale. I would be down for that society, however way that future society may form…


Hedoné-Seminar

Reportage — Hedoné Seminar

Orgie der Liebe

Das Künstlerkollektiv Hedoné feierte vor kurzem ein illustres Seminar in Polen – mit opulenten Kostümen und vielen Streicheileinheiten: Das haben goldene Göttergewänder und Bondage-Workshops mit ethischem Hedonismus zu tun.

28. Juli 2018 — MYP No. 23 »Instinkt« — Text: Katharina Weiß, Fotos: Ansgar Schwarz

Ein schöner junger Mann, mit feinen Gesichtszügen und hellen Augen, bindet sich eine blaue Blumenkrone um das dunkel gelockte Haupt: Damit strahlt er wie ein schwuler Hermes, von dem man nur allzu gerne gnädige Botschaften der Götter empfangen würde. Er erzählt von der Orgie in der Nacht zuvor: Über 65 Menschen hätten versucht, sich in die „Sagrada Feminina“ zu drängen – diese wurde für die Tage des Hedoné-Seminars erbaut und ist Kunstausstellung und Matratzenlager in einem.

In diesem Tempel der Lust also, der von manchen deutschsprachigen Besuchern als Kathedrale der Weiblichkeit bezeichnet wurde, hätten sich am ersten Abend die Leiber gestapelt. Unter einer schwingenden Plastik aus Fiberglas, die eine Klitoris verkörpert, sei er mit drei Männern im Liebesrausch versunken, erzählt der Jüngling. Für diese Herren sei es die erste schwule Erfahrung ihres erotischen Lebens gewesen. Anerkennend stellt er fest: „Die waren total entspannt damit.“ Eine andere Festivalbesucherin, deren blonde Zöpfe von einem halben Fruchtkorb bekränzt werden, hat die Orgie den anderen überlassen: „Ich war noch viel zu high von der ‚Vocal Therapy‘.“ Die Klänge hätten einen ganz verborgenen Ort in ihrem Inneren geöffnet.

Schwarz ist profan, Gold ist heilig.

Die Sehnsucht nach Schönheit schimmert durch fast jeden Satz, mit dem die etwa 280 meist aus Berlin angereisten Menschen die Sinnhaftigkeit des Seminars umschreiben. Und diese Schönheit erscheint hier im sakralen Gewand: Sphärische Chöre, gemixt mit Technobeats, sollen nach überirdischer Verheißung klingen. Der Dresscode bedient sich vorrangig an Motiven aus der Natur und rangiert zwischen Jugendstil-Symbolik und der Darstellung römischer Götter, erotisch und erhaben. Schwarz ist profan, Gold ist heilig. Gebetet wird nicht zu personifizierten Ikonen, sondern zur Energie, den Sinnen, der Natur. Neo-Hedonisten, so scheint es, empfinden eine gewisse Romantik in der Adaption pantheistischer Traditionen. Die ideologischen Grenzen sind jedoch fließend: „Wir geben nur die grundlegenden Werte vor, wie Liebe und Vertrauen“, erklärt Morta, eine der Organisatorinnen des Festivals. Ansonsten erklären sie sich zu keinem politischen Programm oder einer Partei zugehörig. Im Zentrum stünde die Mission, „Vorurteile gegen das Vergnügen“ zu bekämpfen und einen Raum zu schaffen, in dem emanzipierte Lust nicht nur geduldet, sondern zelebriert werden könne. Neben erotischen Beziehungen will das Seminar auch die Qualität aller anderen zwischenmenschlichen Verbindungen verbessern. Um der ganzen Spaßveranstaltung auch tiefere Töne zu verleihen, kollaboriert Hedoné zudem mit der senegalesischen Rapperin Sister Fa. Diese kämpft in ihrem Heimatland, geprägt durch das eigene Trauma, gegen Genitalverstümmelung von Mädchen.

Einst war der polnische Palast aristokratische Residenz, nun buchbare Örtlichkeit für Hochzeiten oder Festivals.

Zum zweiten Mal veranstaltet das Team – bestehend aus Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt, die in Berlin eine Heimat gefunden haben – ihr Seminar im polnischen Dorf Debrznica. Zwei Stunden von Berlin steht der Pałac. Er ist im perfekten Zustand für das Seminar: Verfallen genug, um Luft und Licht durch viele Ritzen zu lassen, aber gleichzeitig noch ausreichend erhalten, um die Schönheit der einst herrschaftlichen Architektur erkennen zu lassen. Einst war der polnische Palast aristokratische Residenz, dann Klosterschule für Mädchen – und nun buchbare Örtlichkeit für Hochzeiten oder Festivals. Neben dem Hedoné-Seminar veranstaltet hier auch die Crew des „Garbicz Festival“ gelegentliche Sausen. Was die Dorfbewohner davon halten, wenn mal wieder die deutschen Hippies für ein Wochenende voller Bassbeats und Glitzerstaub anreisen, lässt sich nur erahnen. Debrznica hat gefühlt genauso viele Hunde wie Einwohner. Es gibt keine Läden, nur einen kleinen Kiosk, der selten offen ist. Obwohl das Dörfchen nur einen gefühlten Katzensprung von der deutschen Grenze entfernt ist, scheint die Gegenwart hier noch in den 1950er Jahren zu stecken.

Es geht um Lust und vielfältige erotische Praktiken, aber auch ums Liebemachen.

Die Welt hinter den Mauern des Palastes eröffnet hingegen den Blick in die Zukunft. Ein bärtiger Mann mit blau lackierten Zehennägeln meint dazu: „Zu all diesen Genderdebatten, die momentan in den Medien diskutiert werden, kann ich nur sagen: Ich habe das Gefühl, hier wurden diese Fragen schon beantwortet.“ Was er damit meint, ist vermutlich die Betonung, die die Hedoné-Veranstalter auf sexuelle Freizügigkeit und „Sexual Consent“ legen, sprich die Zustimmung zum gemeinsamen Sex. Es geht um Lust und vielfältige erotische Praktiken, aber auch ums Liebemachen: „Liebe dich selbst und liebe jeden, mit dem du deine sexuelle Befriedigung erlangst. Im Zweifelsfall wähle den sanften statt den harten Weg.“ Workshops, die genau das trainieren sollen, nennen sich beispielsweise „Tantric Sensations“ oder „Radiate Sensuality and Sexuality“.

Nach jedem Abschnitt wird der Partner gewechselt.

Letzterer Workshop wird von einer Dozentin aus dem Vereinigten Königreich angeleitet, deren Referenzen auf eine vage heilpraktische Ausbildung zurückgehen. Jeder darf kurz über seinen gegenwärtigen Gemütszustand philosophieren – die Empfindungen reichen von entspannt bis verwirrt –, dann geht es los: Die Teilnehmer finden sich in Pärchen zusammen. Viele Männer sind oberkörperfrei, aber nur eine Frau verzichtet auf Shirt und BH. In den Übungen geht es darum, Berührungen zurückzuweisen oder zu empfangen. Nach jedem Abschnitt wird der Partner gewechselt. Aufregung macht sich im Körper breit, wenn einem ein Fremder über die Lippen streicht, sanft den Kopf massiert oder dir Tee einflößt und dabei ins Ohr haucht. Die Festivalbesucher sind zum großen Teil offen für queere Praktiken und Prozesse, in ihrer erotischen Präferenz merkt man aber einen heterosexuellen Schwerpunkt. Deshalb verwundert es nicht, dass sich im Berührungs-Workshop häufig bewusste Mann-Frau-Konstellationen ergeben. Eifersucht spielt dabei jedoch keine Rolle. Man genießt es, sich für ein paar Minuten tief in die Augen zu sehen und die Haut des anderen zu spüren. Dann lässt man sich nach einer dankenden Umarmung wieder los und sucht sich einen neuen Spielgefährten.

Es wird gestöhnt und geschrien – und George Michaels »Freedom« ist bis ins Dorf zu hören.

Während sich die Workshop-Teilnehmer drinnen ein hormonelles High durch gegenseitiges Anfassen holen, geht es draußen etwas abstrakter zu. Beim „Sensual Shibari“-Kurs kann man sich zu einem Bondage-Paket verschnüren lassen. Eine Frau, die dabei war, zeigt später ein Foto von sich, das ihr Fesselpartner von ihr aufgenommen hat. Darauf liegt sie in angewinkelter Körperstellung gemütlich auf dem Rasen, die Seile umspannen stützend ihren schlanken Körper. Es habe sich friedlich angefühlt. Ein paar Meter daneben leitet ein Workshop namens „Moving the Sacred Masculine“ seine ausschließlich männlichen Teilnehmer mit lauten Übungen dazu an, die guten Qualitäten des Mann-Seins heraufzubeschwören. Und auch der klassische Ausdruckstanz darf nicht fehlen: Auf der Outdoor-Tanzfläche vor dem riesigen künstlichen See des Geländes winden sich Körper in musikalischer Ekstase, es wird gestöhnt und geschrien, alle Glieder werden vom Körper geworfen und George Michaels „Freedom“ fliegt über die Ländereien und ist bis ins Dorf zu hören.

Neben dem Pałac ist das höchste Gebäude Debrznicas die Kirche. Gegen 17 Uhr kommen dort eine Handvoll Dorfbewohner zusammen, chorale Gesänge dringen aus der offenen Türe, in den hinteren Reihen schiebt eine Mutter den Kinderwagen auf dem Gang neben sich hin- und her. Debrznica am frühen Abend fühlt sich so an, wie sich wahrscheinlich der ultrakonservative Ministerpräsident Duda am liebsten seine polnischen Dörfer vorstellt. Dass es bei den Vermietern des Palastes jedoch noch nie Beschwerden der Bewohner über die Seminarbesucher gab, zeichnet ein anderes Bild. Vielleicht hätten einige liebend gerne in der „Sagrada Feminina“ gefeiert, anstatt den Gottesdienst zu begehen.

Beim Nacktyoga frühmorgens hatte er Pech gehabt: Seine Eichel wurde von einer dicken Mücke attackiert und gestochen.

Zu diesem Zeitpunkt hat der durchschnittliche Hedoné-Seminarbesucher schon eine überdurchschnittliche Menge an Streicheleinheiten und Glitzerkuren empfangen. Die Workshops in den Mittagsstunden haben ganze Arbeit geleistet. Man kennt sich nun, wirft sich freundliche und flirtende Blicke zu und alle bereiten sich auf die große Hedo-Gala vor: Mit einer Eröffnungszeremonie am Samstagabend soll die bis Montag andauernde Party eingeläutet werden. Alle schmeißen sich nun in Schale. Ein Mitglied des Hedoné-Teams träufelt duftende Aphrodisiaka auf Handgelenke. Wer seine Blumenkrone schon auf dem Kopf und genug Farbe im Gesicht hat, der entspannt vorfreudig auf der Veranda. Der bärtige Mann mit den blau lackierten Zehennägeln ist nun wie ein persischer Prinz gewandet und ist in Höchstlaune: „Die letzten 24 Stunden Erkenntnisgewinn waren krasser als die letzten zwei Jahre meines Lebens.“ Alles sei spitze, nur beim Nacktyoga frühmorgens hatte er Pech gehabt: Seine Eichel wurde von einer dicken Mücke attackiert und gestochen. Auch Neo-Hedonisten haben es nicht immer leicht.

Über das Miteinander muss sich beim Hedoné-Seminar keiner beschweren – über das Essen scheiden sich jedoch die Geister.

Die allermeisten Besucher sind tiefenentspannt und nachsichtig mit ihren neuen Bekanntschaften. Einer aber, Marke Techno-Wikinger, nimmt sich und die hedonistische Mission der Selbstbefreiung etwas zu ernst. Nackt sonnt er sich auf der Veranda und lauert auf neue Opfer, denen er den Vorwurf der Kleingeistigkeit entgegenschleudern kann. Der blonde Thor im Adamskostüm sagt dann Dinge wie: „Einfach mal das Maul halten, in sich gehen, alleine losziehen.“
– Woraus schließt du, dass ich das noch nie getan habe?
„Das sehe ich in deinen Augen!“, behauptet er und schüttelt leicht aggressiv das lange Haar. Sein Verhalten bleibt die Ausnahme. Über das Miteinander muss sich beim Hedoné-Seminar keiner beschweren – über das Essen scheiden sich jedoch die Geister: Ganz im Sinne der Nachhaltigkeit schätzt der Neo-Hedonismus achtsame Ernährung, weshalb jeweils eine vegane Hauptmahlzeit angeboten wird. Zumindest was die lukullischen Vergnügungen betrifft, kann der ethische Hedonismus nicht mit dem ausschweifenden Original mithalten. Aber wer braucht schon kulinarische Freuden, wenn er noch die fleischlichen hat!

»Wir betrachten das Hedoné-Seminar nicht als Sex-Party, sondern als Zusammenkunft von Liebenden.«

Es ist ein Festmahl für die Augen, alle nun im Gala-Outfit bewundern zu dürfen: Rosen und Ranunkeln, Amaryllen und Anemonen ranken sich um Haare und Hüften, Brüste schieben sich unbedeckt und voller Glitzerstaub aus weißen, wallenden Gewändern, Goldschmuck umrahmt Hände und Fußgelenke. Ein hochgewachsener Jupiter schwingt seinen goldenen Mantel, zwei Frauen kuscheln sich für ein Foto an seine schimmernde Brust, dieses Abziehbild prächtigster Männlichkeit. Und schließlich ruft Lola Toscano, die Gründerin und große Gaja der Gruppe, ihre Anhänger zur großen Eröffnungszeremonie. „Hedonés Ziel ist es, einen sicheren Raum für Einsteiger zu erschaffen, die neugierig darauf sind, den sozio-sexuellen Raum zum ersten Mal erkunden. Daher betrachten wir das Hedoné-Seminar nicht als Sex-Party, sondern als Zusammenkunft von Liebenden, in welchem alles möglich ist, aber nichts ist erzwungen wird.“, erzählt sie, während sich die herrlich kostümierten Seminar-Teilnehmer am künstlichen See einfinden. Sie halten sich mit geschlossenen Augen an den Händen, während eine sanfte Frauenstimme „De rerum natura“ von Lukrez vorließt:

„Mutter Roms, o Wonne der Menschen und Götter,
Holde Venus! die unter den gleitenden Lichtern des Himmels
Du das beschiffete Meer und die Früchte gebärende Erde
Froh mit Lehen erfüllst; denn alle lebendigen Wesen
Werden erzeuget durch dich und schauen die Strahlen der Sonne.“

So lasset die Spiele beginnen! Wer noch nüchtern war, erhebt nun sein Glas oder schmeißt sich eine Pille ein. Abseits der Tanzfläche tollen muskulöse Faune umher, deren Blumengepränge kaum den Schambereich bedecken, während die Abendsonne auf ihre blanken Hintern scheint. Zwei Schwestern, die eine 19, die andere 28, verteilen kleine Autogrammkarten, auf denen sie zusammen als versaute Nonnen oder Krankenschwestern posen. Geschwisterliebe mal anders. Die Eltern der beiden feiern dieses Jahr ihr 40. Ehejubiläum – monogam und glücklich. Ihre Töchter freuen sich schon auf die Orgie, mit der die Nacht in der „Sagrada Feminina“ gekrönt wird. Auch im zweiten Stock stimmt man sich auf den sinnlichen Teil des Abends ein. Zwei Frauen fahren mit ihren Fingernägeln sanft am Unterarm eines Mannes entlang, der seine Augen nicht von der Schönheit wenden kann, die ihm die Götter da vor die Füße gelegt haben.

Die Dunkelheit bricht an. Schnaps gleitet die Kehlen hinunter, parfümierter Rauch steigt empor, überall greifen Finger ineinander und ein goldglänzender Jupiter verschwindet kichernd mit einer blonden Venus in die Nacht.


Sven Baum

Editorial — Sven Baum

Glaube an den Instinkt

Fotograf Sven Baum entdeckte seine Faszination für Kameras, als er 1988 die Rolleicord seiner Mutter stibitzte und damit vom Fenster aus die Nachbarn fotografierte. Für uns hat er sich die Frage gestellt, was das Wort Instinkt in der Fotografie bedeutet.

28. Juli 2018 — MYP N° 23 »Instinkt« — Text & Fotos: Sven Baum

Laufen, warten, beobachten, weitergehen. Man fühlt es nicht, man spürt es nicht.

In einem tausendstel einer Sekunde ist es möglich, einen Moment einzufrieren, der sowohl ein Gefühl als auch eine Emotion transportiert. Das ist der Idealfall mit der emotionalen Bindung an einen Moment steht und fällt die Erinnerung daran.

Die Technik ist heutzutage nicht mehr das Problem, der Moment der Entscheidung um so mehr. Der Unterschied vom analogen zum digitalen besteht darin: der Respekt dem Moment gegenüber und der Glaube an seinen Instinkt. Er sollte uns Vertrauen geben und Zuversicht.

Die berühmten Vorbilder, von denen man lernen sollte, sagen: ”Fuck the easy shots!” Mut sollte unser Antrieb sein, der Instinkt würde uns schon leiten. Er würde uns in dunkle Gassen führen, über Zäune klettern lassen, Wildfremden den Atem rauben und anderen eine Inspiration sein.

Jeder will Erfolg und Anerkennung, aber der Weg dahin dauert – und das soll er auch. Seinen eigenen Stil zu finden, ist ein monatelanger, ja sogar jahre- oder jahrzehntelanger Prozess, an den man irgendwann stolz zurückdenkt und auf den man mit einem Lächeln zurückblickt. Egal ob Hobby, Beruf oder Berufung, der Instinkt lässt uns zu gegebenem Anlass den passenden Moment erkennen und dann zuschlagen.

Die weisen Lehren aus Fernost werden oft mit dem Satz „Ein voller Geist muss erst gelehrt werden!“ zitiert. Persönlich stimme ich dem zu. Das Foto ist nun mal eine visuelle Darstellung des eigenen Gemütszustandes, ein Spiegel deiner selbst. Der Instinkt – die Summe aller deiner Teile.

Laufen, warten, beobachten, einatmen, ausatmen, Schuss, …Treffer?


Benny Blanco

Submission — Benny Blanco

Pure Magie

Seit mehr als zehn Jahren versorgt der US-Erfolgsproduzent Benny Blanco die internationale Musikszene mit Hits, nun tritt er als Künstler selbst auf die Bühne. Warum er bereits als Kind seinem musikalischen Instinkt gefolgt ist, hat er für uns aufgeschrieben – und dabei gleich sein neues Video „Eastside“ mitgebracht.

28. Juli 2018 — MYP N° 23 »Instinkt« — Text: Benny Blanco, Foto: Management

In den vergangenen Monaten habe ich doch tatsächlich ein paar Punkte von meiner Liste mit Dingen, die ich unbedingt mal machen will, abhaken können – ich habe zum Beispiel an Veröffentlichungen wie „ye“, „Kids See Ghosts“ und an dem Album von Nas mitgearbeitet… und jetzt warte ich eigentlich nur noch darauf, dass meine Mutter mich aus dem Traum rausholt und sagt, dass ich zu spät zur ersten Stunde bin. Na ja, bisher ist sie noch nicht aufgetaucht – ha!

Als ich klein war, habe ich den ganzen Tag an nichts anderes gedacht als an Musik. Morgens beim Aufstehen dachte ich an sie und abends beim Einschlafen auch. Ich bin oft von der Schule nachhause gerannt, um im Netz irgendwelche Linernotes zu suchen, sie auszudrucken und dann ein Ratespiel zu spielen: Die Seite mit den Producer-Namen war verdeckt und ich musste erraten, wer welchen Beat produziert hatte – erst dann durfte ich gucken, ob ich richtig gelegen hatte. Dazu suchte ich alle Samplequellen zu meinen Lieblingssongs raus und versuchte, die Beats genau so nachzubauen. Außerdem schaute ich mir jedes Video bei MTV und BET an, ich klebte regelrecht am Bildschirm.

Auch im Auto hörte ich immer Musik und sang jede Zeile mit, während ich sehnsüchtig aus dem Fenster schaute und mir vorstellte, ich wäre im dazugehörigen Videoclip zu sehen. Und dann habe ich meinen Eltern immer wieder in die Augen geschaut und zu ihnen gesagt: „Es gibt keinen Plan B,“ – und: „Ich werde das schaffen.“ Ich hatte einerseits natürlich Schiss, aber andererseits auch nicht… Musik ist pure Magie und wir müssen sie auch so behandeln.

Ich habe über meine Zukunft nachgedacht, darüber, wie ich mir den weiteren Verlauf meiner Karriere wünschen würde. Dabei habe ich den Entschluss gefasst, einige Songs unter dem Namen Benny Blanco zu veröffentlichen… und keine Sorge: Ich werde sie bestimmt nicht selbst einsingen mit meiner beschissen-nasalen Gesangsstimme. Stattdessen habe ich meine ganzen Freunde gebeten sie einzusingen. Ich hoffe, sie gefallen euch – und wenn nicht, dann ist das auch egal, weil sie mir gefallen!

Love, Benny


Paulita Pappel

Interview — Paulita Pappel

Das Anale ist politisch

Paulita Pappel arbeitet als Porno-Darstellerin, Filmemacherin und „Sexpositivity“-Aufklärerin. Im Interview erzählt die 30-jährige Berlinerin von einer vermeintlich missverstandenen Industrie und genormten Idealkörpern – und davon, wie es ist, mit hundert anderen Menschen im Kino einen Porno anzuschauen.

1. Juli 2018 — MYP No. 22 »Widerstand« — Interview & Text: Angie Volk, Fotos: Lukas Papierak

Um Paulitas Hals hängt eine Eulenkette, ich habe meine dicke Brille auf. Wir sehen nett aus. Eifrig. Beide etwas jünger als wir eigentlich sind. Wahrscheinlich denken die Leute um uns herum, dass wir ein Referat für die Uni vorbereiten, nochmal schnell ein paar Strichpunkte durchgehen. Stattdessen haben wir uns verabredet, um über Paulitas Sexjob zu sprechen.

Angie:
Wir haben ungefähr das gleiche Alter, dementsprechend vermutlich ungefähr die gleiche Porno-Vergangenheit. Pornos waren früher für mich: Privatfernsehen nach Mitternacht, toupierte Haare und pralle Brüste. Später verwackelte Clips aus dem Internet, mit dem Modem runtergeladen. Und dann irgendwann gab es YouPorn, also die volle Porno-Überschwemmung. An welchem Punkt hast du gesagt: Das interessiert mich, das finde ich spannend, das will ich auch machen?

Paulita:
Ich bin erzogen worden als Feministin, allerdings als Zweite-Welle-Feministin. Ich dachte immer und habe das auch sehr vehement verteidigt, dass Pornografie – und jede andere Form der Sexarbeit – ein Werkzeug des Patriarchats ist, um Frauen auszubeuten. Ich dachte, niemals im Leben würde eine Frau freiwillig ihren Körper verkaufen. Gleichzeitig empfand ich insgeheim eine krasse Faszination für Pornografie – ohne bis dahin überhaupt viele Pornos gesehen zu haben, denn bei uns zu Hause gab es in den 90ern kein Privatfernsehen. In Spanien gab es Canal+, auf dem gab es Pornos ab 23 Uhr. Die musste man zahlen, sonst bekam man verwackelte, kodifizierte Bilder zu sehen. Über die hat man dann als Teenager*in allenfalls gelacht und das war’s.

»Man kann Feministin sein und Pornos mögen. Man kann sie sogar mögen und machen.«

Losgelassen hat mich das Thema trotzdem nicht. Ich war lange Zeit ziemlich sicher, dass etwas nicht mit mir stimmt – mit mir, der Feministin. Ich habe gedacht: „Wow! Das Patriarchat hat mich völlig vereinnahmt.“ Ich hatte riesige Konflikte, trotzdem habe ich mich heimlich weiter informiert, was es alles so gibt. Was ich bei meiner Recherche gefunden habe, fand ich ziemlich shady. Das war keine Pornografie, die sich sicher und richtig angefühlt hat, keine Pornografie, die ich selbst erleben wollte. Und so ist es erstmal geblieben – bis ich nach Berlin gekommen bin und feministische Frauen gefunden habe, die selber Pornos machen. Für mich war das der erste Kontakt mit dem Dritte-Welle-Feminismus, sexpositiven Feminismus sozusagen. Das war eine echte Erleichterung, eine Befreiung. Die Erkenntnis: Okay, nichts ist falsch mit mir. Man kann Feministin sein und Pornos mögen. Man kann sie sogar mögen und machen. Pornos per se sind nichts Schlimmes. Der Gedanke, dass eine Frau Sexualität nur passiv erlebt, als Token für Liebe, für Beziehung, für Sicherheit oder sonst etwas hergibt, ist der Inbegriff des patriarchischen Gedankens. Die Entscheidung, mich zwar als Objekt vor die Kamera zu stellen, aber als Subjekt zu handeln, das ist stattdessen eine Definition für Selbstermächtigung für mich.

Angie:
Mit dieser Erkenntnis hast du losgelegt und angefangen Pornos zu machen?

Paulita:
Genau. Die ersten Pornos habe ich mit einer Gruppe von Leuten, die politisch hundertprozentig dahinterstanden, gedreht. Wir wollten andere Körper, andere Sexualitäten, anderes Begehren darstellen und anbieten, weil wir selbst so lange danach suchen mussten. Richtig viele Pornos haben wir erstmal gar nicht gemacht, sondern in erster Linie sehr viel darüber geredet und diskutiert. Dann ist mir aufgefallen, dass man damit auch Geld verdienen kann – was ja generell nichts Schlechtes ist. Also habe ich begonnen, mit ethisch vertretbaren Firmen auch kommerziell zu arbeiten, etwa mit Produktionsfirmen wie Abby Winters, Ersties oder Erika Lust. Dabei hatte ich immer das große Privileg, mir sehr genau aussuchen zu können, mit wem, wann und wie ich arbeite, und war anfangs nicht finanziell davon abhängig. Das hat mir unglaublich viel Spaß gemacht.

»Eine gesunde Gesellschaft muss gesunde Wege finden, Pornografie anzubieten. Pornos für jeden Geschmack – und nicht nur einen tabuisierten Standard.«

Angie:
Drehst du auch Mainstream-Pornos? Oder nur Art oder Indie-Pornos, sprich kleinere Produktionen?

Paulita:
Hauptsächlich Indie-Pornos, aber ich finde die Unterscheidung unproduktiv, weil sie Pornografie aufzuteilen scheint in guten und schlechten Porno. Weil sie sagt: „Das ist jetzt besser, aber das da, das ist immer noch böse.“ Genau gegen dieses Stigma müssen wir ankämpfen. Die Vorstellung, die wir gemeinhin von Porno haben, ist total beschränkt. Würden wir jetzt Max Mustermann auf der Straße fragen: „Was ist Porno?“, würde er antworten: „Ach, alle Pornos sehen gleich aus. Muskeltypen mit Riesenschwänzen. Frauen mit großen Brüsten werden gefickt.“ Und das stimmt einfach gar nicht mehr. In unterschiedlichen Ländern und Kulturkreisen gibt es die unterschiedlichsten Pornos. Von Hetero bis Trans, Homo und Animation; von riesigen Produktionen bis zu Gonzo-Movies und so weiter. Zu sagen, dass Porno immer gleich ist, ist einfach falsch. Das Bild entsteht durch die Freetubes wie YouTube, PornHub und so weiter. Die haben das Bild von Porno zerstört. Ich denke, eine gesunde Gesellschaft muss gesunde Wege finden, Pornografie anzubieten. Pornos für jeden Geschmack – und nicht nur einen tabuisierten Standard. Klar, Mainstream-Produktionen gehen anders mit Inhalten um, nutzen diese vor allem nach kapitalistischer Attitüde. Was per se nicht schlimm ist, in der leben und arbeiten wir ja zwangsläufig alle.

»Es ist wie mit der Tomate im Supermarkt: Auch bei Pornos kann man sich entscheiden für die ethisch vertretbare Biovariante.«

Angie:
Die Dokumentation „Hot Girls Wanted“ kennst du vermutlich. Ich kann mir vorstellen, dass du öfter auf sie hingewiesen wirst. Sie erzählt die Geschichte von jungen Frauen, die in der Porno-Industrie anfangen – relativ optimistisch, offen, neugierig. Nach einiger Zeit kommt dann die Ernüchterung: Sie haben ihre Selbstbestimmtheit verloren, werden zu Dingen gedrängt, die sie nicht machen wollen. Wie reagierst du auf diese impliziten Anklagen an die Porno-Industrie?

Paulita:
Natürlich ist das ein Thema, über das geredet werden muss, versteh‘ mich nicht falsch. Aber ausbeuterische Strukturen gibt es in jeder Industrie. Ich finde nicht, dass die Porno-Branche da schlimmer ist als andere. Schau dir die Modeindustrie an. Auch sie ist sexistisch, frauenfeindlich, gewaltvoll. Schau dir Hollywood an: genormte Körper, harte Standards. Da ist es schon erstaunlich und eine große Sache, wenn eine Bridget Jones ein bisschen Bauchfett hat. Porno hingegen war schon immer diverser, vielfältiger, hat mehr zugelassen. Es sind wie gesagt die freien Plattformen wie YouPorn, die problematische Strukturen und Ausbeutung schaffen, die die Branche verändert haben. Was du in „Hot Girls Wanted“ gesehen hast, zeigt ja nicht die Mainstream-Industrie des Pornorfilms. Sondern die neuen Porn-Startups, schnelllebige Produktionen. Wenn jemand findet, dass Pornos unter schrecklichen Bedingungen produziert werden, dann soll er sie nicht gratis konsumieren. Es ist wie mit der Tomate im Supermarkt: Auch bei Pornos kann man sich entscheiden für die ethisch vertretbare Biovariante. Klar, es gibt immer weniger Geld in der Branche und das ist ein Problem. Und es ist wirklich eine echte Schande, dass sich niemand dafür interessiert. Aber so schwarz und weiß, wie in „Hot Girls Wanted“ dargestellt, ist die Situation nicht. Ich empfehle die Dokumentation „Hot Girls Wanted: Turned On“, um noch ein bisschen tiefer in diesen Diskurs einzusteigen. Da finden verschiedene Stimmen aus der Branche Gehör. Unter anderem Frauen, die Porno machen, wie zum Beispiel Erika Lust. Sie versucht, Pornos unter fairen Strukturen zu produzieren.

»Die Frauen, die Pornos machen, erfahren viel mehr Diskriminierung und Stigmatisierung in der Mehrheitsgesellschaft als im Porno-Umfeld.«

Um mit den Klischees in Bezug auf Pornografie aufzuräumen, ist es wichtig, sich von dem Gedanken zu verabschieden, dass alle Frauen, die du beim Sex vor der Kamera siehst, misshandelt werden. Die meisten haben einfach Spaß an dem, was sie da machen. Punkt. Für mich selbst hat es ewig lange gedauert zu verstehen, dass du eine selbstbestimmte Frau sein und es trotzdem geil finden kannst, dass ein Mann dir in den Arsch fickt. Oder zwei. Dass das okay und nichts Schlimmes ist. Die Frauen, die Pornos machen, erfahren viel mehr Diskriminierung und Stigmatisierung in der Mehrheitsgesellschaft als im Porno-Umfeld. Entweder du bist ein Opfer, das geschändet wird. Oder du bist eine Nutte, die es braucht. Dazwischen gibt es nichts.

Angie:
Erfährst du das so auch in deinem Umfeld?

Paulita:
Natürlich achte ich schon ganz genau darauf, wem ich von meinem Job erzähle und wem nicht. Aber zum Glück wohne ich in Berlin, einer Stadt mit einer unglaublich großen, sexpositiven Szene, in der man dementsprechend geschützt ist und offen sein kann. Auch bei meinen Eltern bin ich geoutet. Meine Mutter, wie gesagt eine Zweite-Welle-Feministin, hat sich ziemlich viele Vorwürfe gemacht, sich gefragt, was sie eigentlich falsch gemacht hat mit mir. Seitdem haben wir viel geredet und es ist besser geworden, aber ganz glücklich ist sie nicht – was auch okay ist. Der Rest meiner Familie weiß nichts von meinem Job. Ich komme immerhin aus Spanien, einem sehr katholischen Land. Mein Cousin ist gerade Priester geworden, alle haben gejubelt und gesagt: „Ach wie schön! Wenn es das ist, was du willst, ist das super!“ Wenn ich mir vorstelle, wie die Reaktionen ausfallen würden, wenn ich sagen würde: „Übrigens, ich bin Pornodarstellerin“, das ist nicht drin in den Köpfen, nicht vorstellbar.

»Wir sind es nicht gewohnt, offen über Sex zu sprechen. Wir haben einen riesigen Mangel an inklusiver, diverser Sexaufklärung.«

Die eigentliche Diskriminierung ist trotzdem viel subtiler. Der begegnet frau oft zum Beispiel schon beim*bei der Gynäkolog*in. Wenn du da sagst: „Hey, ich bin Pornodarstellerin, ich habe bestimmte Bedürfnisse“, stößt du vielen erstmal gegen den Kopf. Da gibt es gar nicht das nötige Wissen, stattdessen viel Ignoranz, wieder viele Vorurteile. Das Problem ist auch da wieder die Sex-Negativität in unserer Gesellschaft. Wir sind es nicht gewohnt, offen über Sex zu sprechen. Wir haben einen riesigen Mangel an inklusiver, diverser Sexaufklärung. Sex wird mit Scham beladen und das muss sich ändern. Viele folgen der Logik, dass junge Leute zu viele Pornos gucken und deshalb ein gestörtes Konzept von Sexualität entwickeln – aber das ist falsch. Es geht vielmehr um die Übersexualisierung, diesen seltsamen Unterton, den beispielsweise die Medien anschlagen. Das Problem sind nicht die Pornos. Aber natürlich ist es viel leichter, Pornografie zu thematisieren als zu sagen: „Wir haben ein gravierendes, ein strukturelles Problem mit Sex in unserer Gesellschaft.“

»Sex hat viel mit Freiheit zu tun, da Sex eine elementare Facette unserer Identität ist.«

Sex hat viel mit Freiheit zu tun, da Sex eine elementare Facette unserer Identität ist. Nicht umsonst schränken totalitäre Regime gerne die sexuellen Rechte ein. Ein Schritt zur Mündigkeit ist die Fähigkeit zur Selbstermächtigung. Und für die ist Sex eine wichtige Strategie. Ich merke das an mir selbst: Je mehr ich im Reinen mit meiner Sexualität und meinen Weg damit bin, desto glücklicher bin ich, desto mehr kann ich geben. Es geht um Konsens, um Toleranz und Vielfalt. Ich selbst mag zum Beispiel BDSM. Da muss man erstmal drüber hinwegkommen, als feministische Frau von Männern geschlagen werden zu wollen. Aber unsere Realität ist eben viel komplexer, als das, was offensichtlich ist, was richtig und falsch ist. Es geht um die Anerkennung dieser Komplexität.

Angie:
Wie findest du Darstellungsräume für diese Komplexität? Welchen Projekten widmest du dich aktuell?

Paulita:
Ich mache seit einigen Jahren beim Pornfilmfestival Berlin mit, erst als Volontärin und seit 2013 als Teil des Kuratoriums und des Orga-Teams. Seitdem habe ich natürlich viel mehr Pornos gesehen und verstanden – und ein stärkeres Bewusstsein für die Einschränkungen und die Vorurteile entwickelt, die Pornografie begegnen. Deswegen mache ich Castings, Produktion und Regie, versuche das Spektrum mitzugestalten. Vor einem Jahr habe ich auch die Website „Lustery“ gegründet: Auch wenn ich prinzipiell alle Genres von Pornographie spannend finde, gefallen mir freie, unchoreographierte Pornos, in denen die Leute improvisieren, am besten. Also bin ich in dem Team, mit dem ich viel arbeite, auf die Idee gekommen, eine Plattform zu gründen, auf der Paare – wie auch immer sie sich definieren, ob mono- oder polygam, verheiratet oder nicht – sich selber filmen, ohne dass jemand mit ihnen im Raum ist. Das Ergebnis können sie dann hochladen und teilen. Sex offen teilen können, selbständig und frei, das ist Lustery für mich. Das Besondere an dieser Plattform ist für mich das Maß an Intimität, das durch diese Produktionsweise entsteht. Die Leute kennen sich, ihre Körper, den Körper ihres Partners, ihrer Partnerin. Da gibt es Nähe, einen echten Background – und das sieht man meiner Meinung nach. Für mich ist das feministischer Porno.

Angie:
Ist es inzwischen einfacher für deine Mutter, mit deinem Job umzugehen?

Paulita:
Ich habe unglaublich viel Glück mit meinen Eltern, sie sind sehr offen. Wir haben viel geredet, ich habe meine Mutter mit viel Literatur versorgt. Inzwischen respektiert sie meinen Weg, akzeptiert ihn, auch wenn er nicht ihrer ist. Und ich wäre ohne meine Mutter natürlich nicht, wer ich bin. Und somit akzeptiere ich indirekt ja auch ihren Weg. So betrachte ich den feministischen Generationskonflikt inzwischen. Wir können alle voneinander lernen, Gedanken weiterentwickeln. Früher hieß es: “Mein Körper gehört mir.“ Ich sage: „Mein Körper gehört mir. Und ich stell‘ ihn vor die Kamera und hol‘ mir einen runter.“

»Im Kinosaal mit 100 Leuten zu sitzen und einen Porno zu gucken, das ist echt befreiend.«

Angie:
Entschuldige, ich muss auf eine Sache zurückkommen: So spannend die Lustery-Website und dein feministischer Weg mit Pornografie sind, die Vorstellung eines Pornfilmfestivals lässt mich gerade nicht los. Verstehe ich das richtig: Man sitzt zusammen im Kino schaut zusammen mit 50 Leuten einen Porno? Ich war ja bereits bei „Nymphomaniac“ von dem Gruppenerlebnis „Horniness“ überfordert.

Paula:
Der Unterschied zwischen Pornfilmfestival Berlin und Nymphomaniac ist ja, dass du bei Nymphomaniac nicht horny sein sollst. Beim Pornfilmfestival Berlin ist das anders. Für mich ist das ein Ort mit anderen Regeln und einem anderen Status quo, an dem ich ich sein kann. Erotik spielt da schnell eine untergeordnete Rolle. Es geht mehr darum, Tabus und Scham abzulegen, zu erleben, was dann kommt. Das ist für mich Freiheit. Das Pornfilmfestival-Programm besteht natürlich auch nicht nur aus Pornos, sondern aus einer breiten Palette aus Filmen, die sich mit Sexualität, LGBT, Queerness, Body-Politics und vielen anderen Themen beschäftigen. Und trotzdem: Im Kinosaal mit 100 Leuten zu sitzen und einen Porno zu gucken, das ist echt befreiend. Wir vertreiben Scham und Ängste, es ist eine ganz neue Form der Tabula rasa. Wir alle machen das Pornfilmfestival Berlin ehrenamtlich und wenn Dinge ganz besonders stressig und hektisch sind, frage ich mich schon mal, warum ich mir die ganze Arbeit eigentlich antue. Aber wenn ich dann im Kinosessel sitze und die Energie und die Leute erlebe, weiß ich: genau dafür.
Es gibt gesellschaftlich noch viel zu besprechen, wenn es um Porno geht – wenn es um Sexualität geht. Und darauf bin ich gespannt, da bin ich gerne dabei. Denn ganz ehrlich: Es kann doch nicht sein, dass wir auf der einen Seite diese wahnsinnig weit entwickelte Gesellschaft sind, schlaue Handys haben, auf dem Mond waren, aber auf der anderen Seite immer noch nicht wissen, ob das weibliche Ejakulat Pisse ist oder nicht. Das ist doch absurd.


Thaer Ayoub

Editorial — Thaer Ayoub

Dialog mit dem Gefängniswärter

Schriftsteller Thaer Ayoub floh Anfang 2015 von Aleppo nach Deutschland, nachdem er vom syrischen Regime wegen seiner Gedichte ein Jahr lang inhaftiert und gefoltert worden war. Im Dezember 2017 erschien sein Gedichtband »Katharina und Aleppo« – die deutsche Sprache hat er sich selbst beigebracht.

18. Juni 2018 — MYP No. 22 »Widerstand« — Text: Thaer Ayoub, Fotos: Michel Diercks

»Wenn ich schrie, war meine Stimme ihre Furcht.«

Dort … wo die Nachtzeit endlos ist
War mein Schweigen endlos
Und mein Körper schützte sich vor den Peitschen
Mit seiner Blutung
Und wenn ich schrie, war meine Stimme ihre Furcht, dann erhöhten sie die Lautstärke der
Beschimpfungen,
um sich vor ihrer Musik zu schützen.

So war ein Jahr wie ein Jahrhundert des Schmerzes.

Ist der Skorpion der Zeit so langsam
Oder sind wir langsam in unserem Kriechen in den Tod?
Wo ist diese ewige Ruhe, die die Philosophen Nihilismus nennen?

Der Freund, der aus dem Folterzimmer kam,
nachdem er seine Quote bekommen hatte, sagte mir:

Ich verleihe dir die Fähigkeit, die in mir übrigblieb, zur Hoffnung.
Alles ist möglich, bis auf dass du den Weg verlierst.
Nein … habe keine Angst vor dem Schmerz,
sondern sieh ihn als Freund.
Umarme ihn und verleihe deiner Seele aus ihm
Den Anfang der Melodie, dann tanzt sie vielleicht hoch
Weit weg von den Peitschen als Zeuge für dieses Verbrechen.

Tanz, weil der Tanz die Reinheit der Seele von der Niederlage ist.

»Größer als ihr Gefängnis ist dein Herz.«

Oh … falls der Gefängniswärter das Wesen des Tanzes lernen würde
Und falls die Peitsche zu einer zärtlichen Flöte würde,
würde die ganze Welt sich von den Kriegen, der Tyrannei, dem Hass,
dem unterschwelligen Groll, dem Rassismus, den Gefängnissen und der Aggression befreien.

Ein Märtyrer sagte mir eine Stunde vor der Hinrichtung:

Größer als ihr Gefängnis ist dein Herz
Und weiter als ihre Vermutung ist dein Weg
Und wärmer als ihre Kälte ist dein Blut, das das Leben segnet
Und wilder als ihre Beschimpfung ist dein Mund, dem die Lieder gehören
Und dein Schweigen ist nervig.

Widerstehe wie wir widerstanden
und unterschreibe nicht auf der Kapitulationsurkunde.
Versöhne nicht.
Die Versöhnung ist nichts anderes als Verzichten auf die Träume.
Wenn du auf deinen Traum verzichtest, stirb lieber
Und glaube nicht den Worten der Politiker über den Frieden.
Die Politiker tragen in ihren Behauptungen einen Sarg
Für deinen Traum, der auf dem Markt der wirtschaftlichen Interessen begraben wird.
Nein … kein Frieden ohne Freiheit.
Dort … in einem Keller,
der mit allem, was es im Universum vom Hass auf das Leben gibt, vorbereitet ist
und dessen Ziel es ist, irgendeine Zukunft zu sabotieren
und das Selbst herauszuziehen,
war unser erstes Treffen.

Mein Gefängniswärter sagt:

„Glaubst du wirklich an den Sieg?“

„Wir versuchen immer noch, wie die Freien zu sterben,
wenn wir wie die Freien nicht leben können.“

„Ihr werdet aber getötet.“

„Nicht so schlimm. Viele Generationen werden leben, aber in Freiheit.“

»Ihr, also die Dichter, seid dumm. Ihr glaubt, dass ihr diese ganze Welt mit dem Stift verbessern könnt.«

„Ihr, also die Dichter, seid dumm. Ihr glaubt, dass ihr diese ganze Welt mit dem Stift verbessern könnt.“

„Wenn wir es nicht können, werden wir wenigstens den Anteil des Elends in ihr nicht erhöhen, wie ihr es macht.
Lest die Geschichten der Völker, um zu verstehen,
dass es keine Ewigkeit für einen Tyrannen gibt
und dass die Fesseln nicht beständig sind
und dass die Peitschen fadenscheinig werden
und um zu verstehen, dass die Völker trotz der hohen Wände des Gefängnisses die Sonne haben werden.“

„Falls du irgendwann hier rausgehen wirst, wirst du mich töten?“

„Ich werde machen, was ein freier Mensch machen kann.
Dein Blut ist nicht das Ziel des Blutes, das geflossen ist,
weil du nur eine Phase bist, die enden wird, bevor mein Blut
auf dem Veilchen der Heimat ausgetrocknet sein wird.
Es wird …“

„Es geht los.“

Er unterbrach seinen Dialog und hing mich auf.

»Vor ihm war ich ganz nackt, bis auf die Ehre.«

Vor ihm war ich ganz nackt, bis auf die Ehre.
Ich guckte in seine Augen, aber sah das Gesicht des Todes nicht,
sondern ich sah mich als Vogel vor der Geliebten.

Er sah in meine Augen, dann schauderte er
Und sah sich selbst als den Gefangenen,
der ans Kreuz gehängt ist.


Yungblud

Interview — Yungblud

Rebellion Of The Young

With his highly energetic sound, British musician Dominic Harrison aka Yungblud tackles contemporary issues ranging from gentrification to lad culture. An interview about being reluctant to back down.

14. Juni 2018 — MYP N° 22 »Resistance« — Interview: Jonas Meyer, Photography: Tavy Hornbrook

For generations, it seems that older people have told young people how to go about their lives. By 1968 however, young people changed the course of history and pushed towards social justice.

Fifty years later, as populism spreads across the West, young people are once again taking matters into their own hands and pushing towards social justice. Today, teenagers like Emma González, David Hogg or Cameron Kasky are heralded as the heroes of our time. It seems that in 2018, children behave more like adults, whilst adults behave more like children…

We sat down with British musician Dominic Harris aka Yungblud to discuss what it means to be a young person in today’s world. Born and raised in Doncaster, a peaceful town in South Yorkshire, Yungblud tackles contemporary issues ranging from gentrification to lad culture in his highly energetic music.

»What’s so confusing and scary to me is that I feel like we’ve been held back by a generation that doesn’t necessarily understand us.«

Jonas:
You grew up listening to the music of the ‘60s and ‘70s. Would you say that back then, the music played a different role in society in comparison with today?

Dominic:
Yes, I think so. The ‘60s and ‘70s were a time of such great social change. It was the first time ever that kids were saying to their parents, “I think you’re wrong!” It feels like years of oppression had held young people down for so long… things like being back home for dinner at 7 o’clock—so, the music from that generation was like an explosion. I definitely see a comparison with today. Right now, the world is changing as fast as it did back then when real changed happened… I feel like today’s world is such a confusing and scary place—especially for young people. However, I feel like my generation is very intelligent; we have this idea of the world we want to live in.

Jonas:
Your generation means the “Bernie Sanders generation”.

Dominic:
Exactly! We want to live in a liberal, forward-thinking world. But what’s so confusing and scary to me is that I feel like we’ve been held back by a generation that doesn’t necessarily understand us, or feel quite ready for the world to go in that direction just yet. These kinds of ideas are the fundamental basis of my music; I started writing because I was angry, my friends were angry. Now that people have started coming to my gigs, I speak to fans afterwards and they say they feel angry too…

Jonas:
But do you think all young people are angry? It seems that some young people today are more interested in becoming YouTube stars or influencers on Instagram…

Dominic:
The people I grew up around are angry; the majority of young people angry. Especially where I’m from—thanks to issues like Brexit. We’re a generation that is exposed to so much pain and suffering every day; we see the world for what it really is…

Jonas:
Speaking of Bob Dylan, he recently won the Nobel prize in literature. Is he the best example of a good musician? Do you need both good composition and lyrics?

Dominic:
I love Bob Dylan—whenever I’m down, I run a bath, roll a spliff and listen to Bob Dylan. I think he’s the first one whose lyrics really spoke to me. What inspires me the most are well-written lyrics; Alex Turner, Chris Difford, Eminem and Bowie all come to mind. You see, I’ve got ADHD, so I don’t have the attention span for literature. For that reason, I turn to lyrics and rhymes. When I was younger my mum would always encourage me to read books, but I quickly realised that I couldn’t do that. I think this is where I got hooked on music, because the energy matched my energy inside.

»I really thought that I’ll just flutter my eyelashes, wink at the girls, talk about love and I’ll be a star.«

Jonas:
For you, lyrical content seems to be very important. Your songs address issues like gentrification, commercialism, or sexual assault. Why are these topics important to you, both personally and to your music?

Dominic:
Definitely! I’m just so fucking bored of the music that’s being put out today. I think we’ve gotten into a situation where lyrics don’t necessarily matter anymore—at least in the mainstream. The music I grew up listening to spoke about real things and that’s what inspires me today. When I moved to London and started making music, I thought that I should just write whatever’s gonna get me onto the radio—Justin Bieber’s doing that, Shawn Mendes’ doing that. I really thought that I’ll just flutter my eyelashes, wink at the girls, talk about love and I’ll be a star.

Jonas:
Let me guess: it didn’t work.

Dominic:
Right! I was doing that for a year, going into the studio with five producers a week; each of them giving me their opinion about what I was. I remember meeting one producer, who told me that the lyrics I was writing were rubbish. He told me that this wasn’t me—I knew he was right.

Jonas:
Was being in that studio with this producer a moment of realisation for you?

Dominic:
I got so frustrated with all these people telling me what I was—but I knew exactly who I was in that moment. So, I started writing lyrics in my room. And a week later “King Charles” came out, “I Love You, Marry Me” came out and then, another twenty-five songs after that. I think it was in that moment I realised exactly who I was and exactly what I wanted to talk about and exactly who I wanted to represent. Since then, I haven’t really looked back and it’s been fucking crazy.

»I’ve realised that this lad mentality is not acceptable—it’s fundamentally wrong.«

Jonas:
In January you released the song “Polygraph Eyes”. You said on Facebook that this song is “such an important song” to you. Why’s that?

Dominic:
“Polygraph Eyes” was definitely the most important song for me on the EP. The story of “Polygraph Eyes” actually coincides with a situation my friend got into. In my teens, when I was going out in Doncaster and Sheffield in the north of England, I could see girls who were totally drunk get into taxis with boys that weren’t nearly as drunk as they were. It’s only since I’ve grown up a little, that I’ve realised that this lad mentality is not acceptable—it’s fundamentally wrong. I had a lot of female friends growing up and I was surrounded by a lot of very opinionated northern women, so I felt like this was a subject I needed to address. I can’t really remain silent whilst this lad mentally keeps going on.

»It’s fucking cool to care, it’s fucking good to give a shit, it’s good to say what you want.«

Jonas:
In 1977, when the Sex Pistols released their song “God Save The Queen”, they coined the term “no future” that became the label of an entire generation—a generation that was afraid of the Cold War and permanent nuclear danger. Would you say that your generation can be labeled as “no future 2.0”? Or would you define your generation differently?

Dominic:
My generation feels more positive, it’s less about fuck you, fuck you. I’ll reiterate, my generation is so clued up; we see how we want our future to go. I want to spread a message that it’s fucking cool to care, it’s fucking good to give a shit, it’s good to say what you want. I really want to spread that…

Jonas:
…especially with the #MeToo movement.

Dominic:
Definitely! Punk for me isn’t saying “Fuck you!” or playing my drums too loud. I’m someone more like Rosa Parks—she was a punk. The punk I’m trying to promote is, “I’m going to express myself in a way I want to, but to move the world forward”. I feel that’s the way I see my generation going forward.

»I want to encourage people to say what they think—that’s how I think things will change and progress.«

Jonas:
Do you feel like your generation has the power to change? Is this why your music is so powerful and driven?

Dominic:
I’m just saying what I think. I don’t want to tell people what to think. Who am I to do that? Everyone’s entitled to their own opinion and I want to encourage people to say what they think—that’s how I think things will change and progress.

Jonas:
Relating this back to your home country, what British attitudes make you who you are?

Dominic:
What I love about Britain is that I think we’re reluctant to back down, all the time. No matter what happens, I believe we stick our chin up and just try again. No matter how many times we’re beaten down, or how many times we’re told we’re wrong, I think we’ve got this motivation to give it another go. I think that’s why young people in Britain will fundamentally win. If enough young people speak up, they cannot ignore us.


Aquilo

Interview — Aquilo

Pretty Normal People

Aquilo’s Ben Fletcher and Tom Higham describe themselves as “pretty normal people”. But as ordinary these two guys might be, as extraordinary and touching is their music. An interview about friendship and the meaning of normality—and how to make music out of it.

9. Mai 2018 — MYP N° 22 »Resistance« — Interview & Text: Jonas Meyer, Photography: Maximilian König

You have to imagine following: Two very talented young musicians live in a 1,500-people town in the northwest of England, even live on the same street—and how do they get to know each other? On Soundcloud. One of them, Ben Fletcher, released a song there about six years ago. And the other one, Tom Higham, became aware of it, contacted his near-neighbor and invited him to come over and make some music together. After the first encounter in real life, it quickly became clear to both that there could be something in common in music.

What followed was the wonderful story of Aquilo, whose soulful and touching music reached—from a small town called Silverdale—the ears and hearts of millions of people around the world. Their first joint song “You There”, which they—who would have thought it—released on Soundcloud, spread across the globe at lightning speed and today counts almost two million clicks on this platform alone. By the way, a success that they had not expected at all and which initially irritated them, as they told our colleagues from Stereogum in mid-2015.

Soon, Aquilo started touring the world and played in countless countries. After a while, the two artists decided to move away from Silverdale because of the music. Their first stop was Manchester, then they moved to London. In 2017, Ben and Tom finally released their first album “Silhouettes”. The record was accompanied on YouTube with their “Silhouettes Trilogy”, a series of three music videos about the lives, dreams, and fears of ordinary people in northern England.

A few days ago, Aquilo released their second record called “ii”—or rather the second part of it, as the first half of the album they had already published at the end of last year. The new record’s song “Who are you” alone is so wonderful that it would be worthwhile just to talk and write about it. But that wouldn’t embrace at all the musical world that these guys from Silverdale have been created—because there is so much more.

Jonas:
Three years ago, you said in an interview with Stereogum that the positive reaction to your music “doesn’t really make sense”. Are you able to deal with it in the meantime?

Ben:
That’s humble, isn’t it? I think what we were trying to bring across there is that it’s surprising that so many people like our music. It’s incredible.

Tom:
It’s something that we never expected. Any praise we get from anyone is the best fame for us. We are happy about that because we don’t expect any praise.

Jonas:
A couple of years ago, you also said that you never intended in playing your music live. Today, after you’ve travelled the world and have played so many concerts, how would it feel to cut off this live-part of your music?

Ben:
I was thinking about this today! We don’t tour that often and when we are not on tour, we get this itch, we get this need to go away and gig. Without touring, I’d probably get quite frustrated. Making music in the studio is fun—but getting out and actually seeing people physically enjoying our music is a completely different feeling—I’d say it’s a better feeling.

Tom:
It’s the perks of recording music, you get to play it live. We don’t actually tour that much but when we do it’s really amazing. It’s a real change for us, especially with a new setup. I think a lot of things have changed with us recently. It has progressed, hopefully in a good way—it’s a lot more exciting.

»We wouldn’t have been able to relate to a music video that had super whacky people starring in it.«

Jonas:
Last year you published the “Silhouettes Trilogy”, a series of three music videos showing regular people with regular problems. Why was it so important to you to underline the meaning of normality?

Ben:
We wanted the videos to be something that people like. We wanted it to be a proper story, something we can relate to. And we are pretty normal people, I’d say. We wouldn’t have been able to relate to a music video that had ‘super whacky’ people starring in it. So, the video is quite basic and normal; it could have been about any of our friends. It’s about the music, that’s the thing.

Jonas:
How did you come across the people who feature in the “Silhouettes Trilogy”?

Ben:
We weren’t able to attend the video shoot because we were touring through America when it was being filmed. So, we didn’t get to meet these people. We actually never really got to know them that well, but we spent an evening with some of them quite a while after when we went to the premiere. So that was all about the director. But it actually had something quite nice of not being there—they were able to do what they wanted to put in. We had already put our input in it and it was nice for us to leave them do it.

Jonas:
In the fourth video titled “The Story of Silhouettes”, you say there was a point in your lives when the comfort of home “brings boundaries” and you decided to leave Silverdale and move to London. What boundaries did you mean?

Tom:
I was referring to the aspects of recording music. At that time, we were recording at my dad’s basement in my house in Silverdale and we wanted to get out. I just came back from university and I was working in a factory, then I was working in a coffee shop and I just wanted to make music full-time. So, this was the opportunity! We got signed by a record label at that time and it was crazy. We actually moved to Manchester first, where we got a studio and bought new equipment.

Ben:
Eventually we had to move to London. At home, there are boundaries like being surrounded by friends and often it can be distracting, especially in Manchester. It’s just really nice to detach yourself from what you’re writing about. When we moved to London, it all just seemed to be the right process. It was a lot easier and quicker as well! We were quite focused.

»It’s quite comforting that I can go home, not telling anyone about it, and then I can just call someone and they are there.«

Jonas:
In your song “Close to Magic”, you give a very intimate look into your personal lives back in Silverdale. What does coming home mean to you in times when you’re constantly travelling around the world?

Tom:
For me, home is one of my favourite places. Whenever I go home, it’s kind of weird—all my friends are still there and they are still doing the same things. Not that there’s anything wrong with that, it just kind of fascinates me. It’s quite comforting that I can go home, not telling anyone about it, and then I can just call someone and they are there. They haven’t moved, they are all doing the same thing. It’s really nice and feels like a really safe place. That’s for all that part of England where we’re from.

Jonas:
By now, millions of people have watched your videos and listened to your songs. Why do so many people have such a strong connection to your music?

Tom:
I don’t know! I was at school at that time when we had recorded our first song “You There”. Ben came to my house after school one day and we checked our Sound Cloud account—it had like 5,000 plays, that was crazy!

Ben:
We were freaking out. And then, a few years later, it has come to millions. I don’t know. We are just happy with how many people like our music. It’s weird.

Jonas:
Your song “Who Are You”, for example, is especially touching. It seems like you give a lot of yourself into this music. Do you sometimes think you give too much?

Tom:
I think that song especially means a lot. We met these new people after going through bad breakups at that time, and for me, the song is very much about that. And I don’t see it as a negative thing at all, I actually think it’s one of the most positive songs we’ve ever made. It’s a celebration of happiness, in a way—it means a lot to me.

»Making music is basically all we do—and maybe going to the pub on a Thursday or Friday.«

Jonas:
“Who Are You” is part of the “ii Side A” that you released in November 2017. This EP is the first half of your new record “ii” that is going to be published on the May 4th. Why did you decide to release the first part of the record half a year before the rest? Is there a difference between “Side A” and the rest of the album?

Tom:
That’s a funny question because there never was meant to be a difference. But I feel there might be a tiny bit of a difference.

Ben:
Tom and I spent a hell lot of time making music. It’s basically all we do—and maybe going to the pub on a Thursday or a Friday. And I think with that, your sound is developing all the time. You can’t consistently have one sound. Well, you can, but we always find new sounds and new influences quite quickly. So, we made the first half of the record and while we were in the studio and getting it mixed, we were still working there. It’s been just two months since we wrote the first half and the sounds already slightly started to change. It all definitely feels concise. I think you can tell that we wrote the second half in a somewhat different way to the first half.

Tom:
I think there’s a slight bit more energy in the second part.

Jonas:
So, the second part went to different musical directions?

Ben:
Yes, I think so! We were listening to different musicians whilst we were making the second half.

Tom:
You can hear that. We’re always evolving musically, like everyone who makes music. You’re always influenced by new people. And this album is kind of special to us because it gave us the chance to actually produce everything ourselves. On the first record, we had a couple of other people involved like Ólafur Arnalds and those guys who helped us in production. It’s been a massive learning curve since that first album! We had the chance to do everything ourselves now. And it makes us feel very close to it.

»Well, we share a bank account, we live with each other—it’s like a marriage!«

Jonas:
You got to know each other five years ago and started making music together. How would you characterise the friendship between you?

Ben:
Well, we share a bank account, we live with each other—it’s like a marriage!

Tom:
The only difference between marriage and what we have now is that we sleep in different beds—that’s literally it! Sometimes we even have to sleep in the same bed, for example in a hotel room. We’ve become like best mates! We also live with our mate Harvey Pearson, he’s a photo and video artist and films a lot of our things. It’s weird, because we didn’t really know each other that well before we started writing music together. You know, we lived across the road and there’s a little bit of an age gap between us, so we didn’t really hang out with each other. When Ben came over, it was just for music, constantly. And a couple of days after our first song “You There” was released, when we got to meet managers and so on, things started to happen with us.

Ben:
It’s like a friendship that sort of grew just without thinking of it. Initially, we were just working with each other. And also, we’re writing songs on a quite personal level, so I suppose we know each other.

Jonas:
Where do you find each other in music?

Tom:
In terms of song-writing, one song will mean a lot more to Ben and one song will mean a lot more to me. Or it might be about a situation that Ben has gone through. That’s kind of how we do it. There are some songs that we don’t write like that, but more or less, it’s about one or the other’s experiences.

Jonas:
We already talked about the fact that many people love your music. Do you also have musical heroes, people that create music that you really love?

Tom:
There’s massive songs from Explosions in The Sky that I love! That’s kind of progressive rock that I really like. I think it kind of like progresses from rock ‘n’ roll. But I also like stuff from the Dust Rays, Toto, and all these guys.

Ben (laughing):
Toto?! Haha, I love it!

Tom:
Yeah.

Ben:
I was in a grunge band before, with some of my mates in my village. I had an obsession with Kurt Cobain. I even studied him at school. There was this project where we spent months looking into Kurt Cobain and reading books about him. We probably wouldn’t know these things, because we’re just too young. I mean, I was born the year after he died! I was so fascinated with the whole grunge era. And Pearl Jam as well, I was obsessed with Eddie Vedder. That’s weird because it’s way before my time. My dad was massively into Steely Dan. I actually got to see them in New York! We were playing at a festival there, two shows in one day within four hours. But then my mum called and told me, “Oh my god, Steely Dan is playing in New York”! So, our manager Hamish made a phone call and was like “Mate, I’ve got free tickets!” I played our show, got off the stage, went into a taxi, straight to Steely Dan, watched four or five songs, front-row seats, and then had to leave back to our venue, got on the stage and played the second show. It was the best day of my life!

Jonas:
Last year, we met Australian singer-songwriter Kat Frankie for an interview. She once said, “people that write sad songs are a little happier”. Are you a good example for that?

Tom:
For me, sad songs are kind of moving and very atmospheric. And I’m not talking about Adele songs, I’m talking about Explosions In The Sky and these guys. The chords are quite minor in a lot of ways. That doesn’t make me sad, it’s the complete opposite in fact.

Ben:
I get more feeling from a sad song than from a happy song. My favourite albums are the ones that make me sad. Even when I’m really happy, I enjoy listening to them. But when I’m really happy, I don’t want to make music by myself. If I’m sad, I can go and write about it. But when I’m happy, I just want to carry on what I’m doing.


Bertan Canbeldek

Portrait — Bertan Canbeldek

Jeder spricht Zirkus

Mit seiner neuen Show im Berliner Chamäleon hat Bertan Canbeldek seit Februar wieder alle Hände voll zu tun: Der Meisterjongleur widersteht dort jeden Abend der Schwerkraft. Für MYP schreibt der 26-Jährige exklusiv über die magischen Momente und Schmerzgrenzen des Zirkuslebens.

31. März 2018 — MYP N° 22 »Widerstand« — Text: Katharina Weiß & Bertan Canbeldek, Fotos: Steven Lüdtke

Auf der Bühne stapeln sich Bierkästen und Kartons, die Konfettikanone lässt subtilen Glitzer auf die Szenerie regnen und ständig fliegt irgendein Körper in engen Jeans oder auch mal nur in Boxershorts durch die Luft: Die neue Zirkusshow FINALE im Chamäleon-Theater am Hackeschen Markt ist genau die Art von artistischer Kollektivleistung, die Berlin verdient hat. Pulsierende Flackerlichter, elektronische Beats und rotzig-rohe Stunts, die sich weniger der Hochkultur anbiedern, sondern eher die pure Energie einer urbanen, wild gemischten Jugend einfangen.

Bertan Canbeldek ist eines dieser Zirkuswunderwesen, die hier beinahe jeden Abend – und noch bis zum 19. August – vor Publikum mit ihrem Hausrat jonglieren oder von der Decke hängen. Der 26-Jährige, der in Kreuzberg geboren und aufgewachsen ist, absolvierte 2010 die “Staatliche Artistenschule“ in Berlin und tourt seitdem mit seiner Kunst durch die Welt. In der aktuellen MYP-Ausgabe beschreibt er, wie sich das Leben als Zirkusartist anfühlt.

Kurz bevor ich auf die Bühne darf, fühlt es sich so an, als würde für eine Sekunde die Zeit stehenbleiben. Ich atme einmal tief durch, die Vorfreude kitzelt an meinem ganzen Körper und ich trete ins Licht der Scheinwerfer. Es ist wirklich magisch: In dem Moment, in dem ich auf der Bühne stehe, fühlt es sich jedes Mal wie das erste Mal an. Das Adrenalin ist dabei der Helfer der Artistik: Wenn es in meine Venen schießt, kann ich einmal mehr alles geben. Um diese Leistung zu bringen – manchmal sind es acht Shows in einer Woche –, musste ich meinen Körper sehr gut kennenlernen. Ich weiß, wie ich ihn pflegen muss und wie ich reagieren sollte, wenn was im Rücken zwickt.

Als Artist tanzt und trickst man gegen die verschiedensten Widerstände an: Ich versuche, in einer Jonglage mit sieben Gegenständen der Schwerkraft zu trotzen und mit jedem neuen akrobatischen Trick die Grenzen der eigenen Körperlichkeit etwas herauszufordern. Ich erinnere mich an viele, viele Stunden, in denen ich in einer Ecke stand und wie ein Verrückter einen Trick wiederholte, von dem ich mir nie sicher sein konnte, ob ich ihn am Ende wirklich hinbekomme und jemals zeigen kann. Der Widerstand gegen die Stimme im Kopf, die einem zuflüstert: „Es ist ok, jetzt aufzuhören“, entscheidet oft über das Gelingen. Immer wieder treibt man sich an die Schmerzgrenze und darüber hinaus. Die Techniken, um in diesen Momenten anfänglicher Frustration stark zu bleiben und diese Widerstände zu akzeptieren und zu überwinden, machen den Beruf eigentlich wirklich aus.

»Im Zirkusalltag ist der Spaß mindestens genauso wichtig wie die Disziplin.«

Im Zirkusalltag ist der Spaß mindestens genauso wichtig wie die Disziplin. Ich muss auf nichts verzichten – und kann auch mal am Tag vor einer Show auf eine Party gehen. Sich trotzdem nicht vollkommen gehen zu lassen, gebietet der Respekt vor dem Publikum: Wenn ich am Abend auf die Bühne gehe, dann ist es für mich selbst vielleicht die 34. Show. Aber für andere ist es das erste und einzige Mal, dass sie das erleben können. Etwa für den Papa, der mit seinen kleinen Kindern die Show besucht. Da wäre es einfach nicht angemessen, wenn ich nicht in Topform auf der Bühne stehen würde.

Dass ich mich heute Zirkusartist nennen kann – ein ungewöhnlicher wie schöner Beruf –, habe ich meiner großen Schwester zu verdanken. Ich komme nicht aus einer Zirkusfamilie. Meine Eltern sind türkischstämmige Berliner, wird sind fünf Kinder, ich bin auf den Kreuzberger Straßen groß geworden. Ich war ein eher schüchterner siebenjähriger Junge – und war deshalb ziemlich aufgeregt, als mich eines Tages meine Schwester unterm Arm packte, aus der Tür zog und sagte: „Du kommst jetzt mit in den Zirkus!“ Seitdem war ich gefühlt jeden Tag in der Manege. Zuerst lernte ich die Clownerie und das Zaubern, die körperlich herausfordernden artistischen Tricks kamen erst viel später.

Mit 14 schaffte ich es gerade so, an der „Staatliche Ballettschule und Schule für Artistik “ in Berlin aufgenommen zu werden. Dort ist die artistische Ausbildung in eine normale Schulbildung integriert. Jeden Morgen um halb sechs musste ich aufstehen, um dann von Kreuzberg in die Greifswalder Straße zu fahren. An manchen Tagen ging der Unterricht bis 18 Uhr, das war körperlich irre anstrengend. Alles war sehr professionell dort, es gab die besten Übungsgeräte und eine spannende Gemeinschaft: Auf der einen Seite gab es die Ballettschüler mit ihrer disziplinierten Haltung, der ordentlichen Ästhetik und ihren strengen Diäten – und auf der anderen Seite gab es uns Zirkuskinder mit unseren bunten Klamotten und wilden Tricks.

»Unzählige charismatische Menschen haben etwas von ihrer Persönlichkeit in meinen Koffer gelegt.«

Seit meinem Abschluss sind bereits sieben Jahre vergangen und ich habe von Australien bis Israel in unzähligen Ländern mit Weltklasse-Artisten performen dürfen. Ich habe wilde Partys gefeiert und – innerhalb der Szene sowie am Rande meiner Reisen – unzählige charismatische Menschen kennengelernt, die alle etwas von ihrer Persönlichkeit in meinen Koffer gelegt haben. Ich war keinen Tag unglücklich. Dass ich bereits als Kind etwas finden durfte, dass mir Freude macht und später zu meiner täglichen Beschäftigung geworden ist, ist etwas ganz Besonderes.

Natürlich freue ich mich auch sehr, für die Dauer der Show mal für längere Zeit in Berlin bleiben zu können. Ich freue mich, meine Familie regelmäßig zu sehen oder einfach mal zu meiner Freundin nach Hause fahren zu können, anstatt immer nur mit ihr zu skypen, wenn ich unterwegs bin. Das tut schon gut.

»Unser Projekt heißt FINALE, weil jeder von uns ein Finale ist – wir alle sind gleichgestellt.«

Unser Projekt heißt übrigens FINALE, weil jeder von uns ein Finale ist – wir alle sind gleichgestellt. Und dahinter stehe ich zu einhundert Prozent. Einer der Gründer unserer Kompanie, Florian Zumkehr, hatte damals die Idee, der klassischen Artistik eine experimentelle Note zu verleihen. Weg vom Glamourösen der Bühne und hin zur roughen Attitüde der Straße. Einfach mal ein Holzbrett nehmen, damit experimentieren und herausfinden: Was kann man damit anstellen? Wie wir herausgefunden haben: so einiges!

Bei FINALE kann man sich voll und ganz wegträumen. Uns begleiten ein Live-Drummer und die Sängerin Ena Wild, die ebenfalls live singt. Als Performer bin ich total gelöst und frei innerhalb der Choreografie, dadurch fühlt sich alles natürlicher an und ich kann mehr improvisieren. In Prag haben wir bereits viel Beifall für diese moderne Art des Zirkus bekommen, jetzt sind wir gespannt, was das Heimatpublikum in Berlin sagt. Aber eigentlich bin ich da ziemlich zuversichtlich. Egal, vor welchem Publikum man auftritt: Jede Kultur findet eine Verbindung zum Zirkus. Der Zirkus kennt keine Sprachen. Jeder „spricht Zirkus“: Auf der ganzen Welt verstehen die Menschen intuitiv, was man ausdrücken will.