Maeckes
Interview — Maeckes
»Wenn ich mich selbst preisgebe, öffnen sich andere auch«
Mit seinem »gitarren album« hat Maeckes gerade eine Platte veröffentlicht, die einem sehr schnell sehr eng ans Herz wachsen kann – wenn man sie nur lässt. In 20 liebevollen Tracks erzählt der Rapper, Sänger und Produzent viele kleine und große Geschichten, die uns nicht nur einen tiefen Blick in seine eigene Seele gestatten, sondern uns auch vor die Frage stellen, wie wir uns selbst auf dieser Welt verorten wollen. Ein Interview über das Worst-of des Lebens, ein ultrakapitalistisches Liebeslied und den besonderen Charme von Kleinbuchstaben.
29. April 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Frederick Herrmann
Ach, diese Feststelltaste. Im Jahr 1875 von Christopher Sholes als Teil der modernen Tastatur erfunden, hatte sie auf mechanischen Schreibmaschinen noch einen echten Mehrwert. Denn wenn man per Umschalttaste von Klein- auf Großschreibung wechseln wollte, war das immer mit einem gewissen Kraftaufwand verbunden. Die Feststelltaste ließ die schwere Umschalttaste komfortabel einrasten – was für ein Service!
Knapp 150 Jahre später ist das fleißige Helferlein von einst ziemlich in Verruf geraten. Vor allem in den „sozialen“ Netzwerken gilt die Feststelltaste heute als verbales Megafon. Wer seiner Meinung besonderen Nachdruck verleihen will, schaltet kurzerhand auf „Caps Lock“ – und feuert los. Garniert wird dieses lautlose Gebrüll gerne mit etlichen Ausrufe- und Fragezeichen. Was für ein Augenschmaus!
Höchste Zeit also, die Feststelltaste in Rente zu schicken? Zumindest in den letzten Jahren wurde das immer wieder mal gefordert.
Doch während die Fachwelt noch diskutiert, hat Markus Winter alias Maeckes der Feststelltaste gerade ein Sabbatical bewilligt. Auf seinem neuen „gitarren album“, das am 26. April erschienen ist, kommt der 41-jährige Rapper, Sänger und Produzent völlig ohne Großbuchstaben aus – ganz anders übrigens als bei den Alben davor.
Typografisch sieht das „gitarren album“ irgendwie niedlich, leicht und ungefährlich aus. Und auch die Songtitel – „happy heart syndrom“, „der brand nach dem feuerwehrfest“ oder „die parties der eltern als man noch kind war und schon im bett lag“ – suggerieren auf den ersten Blick eher Easy Listening als Existenzialismus. Doch der Schein trügt.
Zwar ist dieses „gitarren album“ mit seinen 20 kleinen und großen Tracks auch wirklich easy anzuhören. Aber gleichzeitig lässt uns Maeckes mit dieser Platte derart tief in seine Seele blicken, dass man manchmal gar nicht weiß, wie man mit diesem Vertrauensvorschuss umgehen soll; und ob er gerade sich selbst meint oder uns, die voyeuristischen Zuhörenden. Etwa im Song „bucketlist“, in dem er etliche Herausforderungen auflistet, die einem das Leben so vor die Füße wirft, ob man nun will oder nicht. Oder in „orangerot“, ein Lied, das sich mit unserer persönlichen Verortung inmitten der Krisen dieser Welt auseinandersetzt, von Klimakatastrophe über Wohlstandsgefälle bis Demokratieermüdung.
Vor vier Jahren durften wir Maeckes schon mal zusammen mit seiner lebhaften Band „Die Orsons“ interviewen, jetzt haben wir ihn erneut zum Gespräch getroffen – ganz entspannt und in einer fast andächtigen Atmosphäre: an einem Freitagnachmittag im Studio des Fotografen und Videokünstlers Frederick Herrmann, der hier in den Stunden zuvor das Musikvideo zu Maeckes’ Song „nichts“ gedreht hat.
»Wenn man aus dem Rap kommt, stellt man viel schneller mal ein Mixtape zusammen, als ein komplettes Album zu konzipieren.«
MYP Magazine:
Maeckes, Dein Song „happy heart syndrom“ startet mit der Zeile „Mir geht es gerade gut“. Wir hoffen, diese Gefühlslage ist noch aktuell.
Maeckes:
Lasst mich kurz überlegen… Ja, doch, es geht mir immer noch gut. Danke der Nachfrage.
MYP Magazine:
Als wir Dich vor vier Jahren zum Interview mit den Orsons getroffen haben, hast Du Folgendes gesagt: „Beim Musikmachen gibt es manchmal Phasen, die so inspiriert sind, dass alles aus einem herausquillt. Dann wiederum erlebt man Phasen, die eher etwas ruhiger und nachdenklicher sind. In diesen Momenten braucht man immer den richtigen Vibe, um weiterzukommen – das ist wie klassisches Rätsellösen.“ In welcher dieser Phasen ist Dein „gitarren album“ entstanden?
Maeckes:
Die Herangehensweise an das neue Album war total frei und gelöst. Das hat vor allem damit zu tun, dass ich es eher als ein Gitarren-Mixtape betrachtet habe. Wenn man wie ich aus dem Rap kommt, stellt man ja viel schneller mal ein Mixtape zusammen, als ein komplettes Album zu konzipieren und dafür die richtigen Songs zusammenzusuchen. Klar, am Ende ist auch mein „gitarren album“ ein echtes Album geworden, aber längere Kopfgeburten gab es dabei nie. Ich habe immer nur das gemacht, was mir gut von der Hand ging – und das spiegelt sich in den 20 Tracks auf der Platte wider.
»Von all den Liedern, die ich zehn Jahre lang auf der Bühne gespielt habe, ist letztendlich kein einziges auf dem Album gelandet.«
MYP Magazine:
Diese 20 Tracks sind eine Essenz der geheimnisvollen Gitarrenkonzerte, die Du in den letzten zehn Jahren gespielt hast und zu denen es keine Aufzeichnungen gibt. Hattest Du mit diesem Album auch das Ziel, für Dich und Deine Fans einige Erinnerungen aus dieser Zeit zu konservieren?
Maeckes:
Die 20 Tracks sollten eine Essenz aus dieser Zeit sein. Das Lustige ist aber, dass von all den Liedern, die ich zehn Jahre lang auf der Bühne gespielt habe, letztendlich kein einziges auf dem Album gelandet ist. Ganz am Anfang hatte ich noch die Intention, die besten Songs meiner Gitarrenkonzerte auf einer Platte zu verewigen. Aber dabei habe ich gemerkt, dass diese Songs eher für den jeweiligen Moment bestimmt waren, in dem ich sie gespielt habe, und dass sie heute dieser Magie nicht mehr gerecht werden – jedenfalls nicht, wenn ich versuche, sie nachträglich zu recorden. Dazu kommt, dass ich auch immer wieder neue Songideen hatte, die sich irgendwie frischer angefühlt und mehr und mehr durchgesetzt haben gegenüber den mittlerweile zehn Jahre alten Dingern.
»Du wurdest gerade vom Kapitalismus gefickt, hier auf meinem Konzert.«
MYP Magazine:
Aber ist „dein name“ nicht auch ein Song, den Du immer wieder vor Publikum gespielt hast?
Maeckes:
Ja, allerdings ist dieses Lied nicht mal ein Jahr alt. Ich hatte es für die Konzertreihe „Maeckes und das Experiment“ geschrieben, die Ende April 2023 startete.
MYP Magazine:
Bei diesen Shows hast Du die Leute immer wieder aktiv in die Entwicklung Deiner Songs eingebunden. Welche Erfahrungen hast Du dabei gemacht?
Maeckes:
Die wichtigste Erkenntnis war, dass der Kapitalismus auf meinen Konzerten seine hässlichste Fratze zeigt. Das hätte ich nie gedacht. Mein Ziel war immer, mir mit dem Publikum einen gemeinsamen Spaß zu machen und den Kapitalismus auf den Arm zu nehmen. So jedenfalls ist das Lied „dein name“ angelegt…
MYP Magazine:
… ein Song aus der Reihe „Kapitalistische Liebeslieder“. Die Idee dabei ist: Zahlt jemand aus dem Publikum einen gewissen Betrag, baust Du den Vornamen dieses Menschen in den Text ein – und suggerierst damit, dieses Lied sei ganz allein für ihn geschrieben.
Maeckes:
Genau. Aber was war passiert? Die Leute haben sich gegenseitig überboten! Kaum hatte zum Beispiel eine Svenja zehn Euro gezahlt, zahlte ein Peter zwanzig – und Svenja, die „nur“ einen Zehner gegeben hatte, hörte keine einzige Zeile von mir. Das tat mir wahnsinnig leid. Überhaupt habe ich immer wieder in enttäuschte Gesichter blicken müssen – mit dem Wissen: Du wurdest gerade vom Kapitalismus gefickt, hier auf meinem Konzert. Das war hart, vor allem, weil der Preis manchmal richtig in die Höhe schoss. Bei dieser ganzen Sache habe ich viel gelernt. Wir haben aber auch viel gelacht über den Kapitalismus. Und darum ging es ja auch in erster Linie.
»Einen differenzierten, rationalen Blick darauf, welche Kritik in dem Song verpackt sein könnte, hatten eher wenige.«
MYP Magazine:
„dein name“ funktioniert im Grunde wie ein Werbespot, der einem das Gefühl vermitteln soll, ganz persönlich angesprochen zu sein. Hat Dein Publikum nicht reflektiert, dass auch dieses Lied den versprochenen Individualismus nur vorgaukelt und persifliert?
Maeckes:
Nein, ich hatte eher den Eindruck, dass in den meisten das kapitalistische Feuer entfacht wurde, als sie gecheckt haben, dass sie sich für zwei, vier, zehn oder zwanzig Euro einen scheinbar personalisierten Song schießen können. Einen differenzierten, rationalen Blick darauf, welche Kritik in dem Song verpackt sein könnte, hatten eher wenige.
MYP Magazine:
Es gibt Künstler*innen, die betreiben das Verkaufen pseudo-individueller Songs oder Videos sogar hauptberuflich.
Maeckes:
Frank Zander!
MYP Magazine:
Stimmt, der hat bereits in den Neunzigern TV-Werbung für CDs mit personalisierten Geburtstagswünschen gemacht: „Hallo Ingeborg! Jetzt kommt der absolute Knaller, denn dieses Lied ist nur für dich.“
Maeckes:
Frank Zander ist auf jeden Fall der Original Gangster der Namenssongs.
»Es passiert in meinem Leben nur noch ganz selten, dass ich alkoholtechnisch so richtig der Sonne entgegen reite.«
MYP Magazine:
Als wir uns vor vier Jahren zum Interview mit den Orsons trafen, haben wir auch darüber gesprochen, was es Dir und den anderen bedeutet, gemeinsam Konzerte zu spielen. Was gibt es Dir, solo unterwegs zu sein?
Maeckes: (ohne zu zögern)
Ruhe!
MYP Magazine:
Dann passt die andächtige Stimmung hier in Fredericks Studio gerade ja ganz gut.
Maeckes:
Ja, absolut. Ich freue mich immer wieder, wenn ich der Action des Alltags entfliehen und in etwas total Ruhiges eintauchen kann – so wie heute. Mir reicht es aber auch schon, ganz gechillt in einer anderen Stadt zu sein und dort ein Konzert zu spielen. Und da ich vor allem in den größeren Städten viele Freunde habe, freue ich mich immer, die bei der Gelegenheit mal wieder zu sehen. Es gibt mir viel mehr, nach einem Konzert noch ein paar Stunden mit Leuten, die ich mag, zusammenzusitzen und ausgiebig zu quatschen, als mich wie früher einfach über den Haufen zu trinken. Seit Corona ist das bei mir ohnehin viel ruhiger geworden. Es passiert in meinem Leben nur noch ganz selten, dass ich alkoholtechnisch so richtig der Sonne entgegen reite.
»Ich kam an der Location an und hing mit irgendwelchen Leuten ab, die ich noch nie zuvor gesehen hatte.«
MYP Magazine:
Hast Du für Deine Solo-Auftritte auch ein eigenes Ritual entwickelt – wie damals bei den Orsons das gemeinsame Schnapstrinken vor dem Gang auf die Bühne?
Maeckes: (lächelt)
Manchmal trinke ich immer noch einen Schnaps vor dem Auftritt, aber dann halt mit den Veranstaltern. Es gab in den letzten Jahren etliche Konzerte, bei denen ich wirklich komplett allein war – ohne Tourmanagement, ohne Crew, ohne gar nichts. Ich kam an der Location an und hing mit irgendwelchen Leuten ab, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. In solchen Momenten ist es schwer, so etwas wie ein Ritual zu entwickeln und auch zu pflegen.
»Ich spüre ich in mir schon so etwas wie die Energie eines politischen Liedermachers.«
MYP Magazine:
Kommen wir zurück zu Deinem „gitarren album“. In unserer Gesellschaft gibt es zum einen das romantisierte Bild des „Jungen mit der Gitarre“, dem alle zu Füßen liegen. Und zum anderen gibt es das des ernsthaften, oft politischen Liedermachers in Gestalt etwa eines Reinhard Mey oder Wolf Biermann. Hast Du dich selbst jemals in einem dieser Bilder wiedergefunden?
Maeckes: (überlegt einen Moment)
Hmm… einerseits habe ich mich nie als einen Gitarristen oder Gitarrenmusiker gesehen. Das sind höchstens Kostüme, die ich mir versucht habe anzuziehen – die aber nie genau gepasst haben.
Andererseits spüre ich in mir schon so etwas wie die Energie eines politischen Liedermachers, die vor allem damals zum Vorschein kam, als ich noch Rap-Shows und keine Gitarrenkonzerte gespielt habe. Es gibt ja auch etliche Orsons-Songs und -Skizzen, die sehr politisch sind und eine wichtige Message haben. Da komme ich also schon irgendwie her… Aber dass ich einfach nur Musik machen möchte, bei der man mir zuschmachten kann, ist eine mindestens genauso große Wahrheit. (lacht)
MYP Magazine:
Dabei kann man Deine Songreihe „der brand nach dem feuerwehrfest“ durchaus als kleine Persiflage auf den musikalischen Stil alternder Gitarrenbarden verstehen.
Maeckes:
Ja, allerdings hat mein Anfang eher was von Rolf Zuckowski.
»Die Bühne war für mich nie ausschließlich für die Musik da.«
MYP Magazine:
Diese fünfteilige Serie wirkt auf dem „gitarren album“ wie eine Geschichte innerhalb der Geschichte. Wäre ein Job am Theater für Dich nicht auch eine Option gewesen?
Maeckes:
Theater war ja nie keine Option. Als ich vor vielen, vielen Jahren angefangen habe, Musik zu machen, war die Bühne für mich nie ausschließlich für die Musik da. Ich habe zwar nie klassisches Theater gespielt, aber bei meinen Auftritten gab es schon immer irgendwelche Mischformen und Performance-Krempel. Und auch mit meinem Orsons-Kollegen Bartek habe ich im Laufe der Jahre immer wieder Stücke geschrieben, die wir vor Publikum performt haben. Das heißt, in irgendeiner Weise komme ich schon aus dieser Welt – nur, dass ich dem Ganzen meine ganz eigene Form gegeben habe.
»So etwas wie eine Bucketlist zu haben, empfand ich schon immer als etwas merkwürdig Dummes.«
MYP Magazine:
Einer der persönlichsten Songs auf Deinem neuen Album ist „bucketlist“. Darin lässt Du uns tief in Dein Innerstes blicken. Wie geht es Dir damit, Dich emotional so nackt zu machen?
Maeckes:
Diesen Song habe ich zum ersten Mal bei „Maeckes und das Experiment“ gespielt. Dabei habe ich gemerkt: Wenn ich mich selbst preisgebe, öffnen sich andere auch. Klar, es ist vielleicht ein bisschen weird, diese Dinge mal so klar auszusprechen, auch weil normalerweise alles, was ich so schreibe, super chiffriert und in Metaphern verstrickt ist. Aber bisher hat es sich richtig angefühlt, das mit den Menschen zu teilen.
MYP Magazine:
Am Anfang des Song erzählst Du uns von den vermeintlichen Highlights Deines Lebens, die Du erfolgreich abgehakt hast. Dann aber gibt es eine Wende hin zu Deiner „Nicht-Bucket List“, in der Du „ganz viel Scheiße“ auflistest, die Du nie erleben wolltest. Wie ist dieses Lied entstanden?
Maeckes:
So etwas wie eine Bucketlist zu haben, empfand ich schon immer als etwas merkwürdig Dummes. Interessant wird das Ganze erst, wenn man mal versucht, die andere Seite der Medaille zu beleuchten: nicht das Best-of des Lebens, sondern das Worst-of. Heutzutage versuchen doch alle, die Idealseite ihres Daseins möglichst attraktiv in Szene zu setzen, vor allem auf Social Media. Das nervt so hart. Daher dachte ich, es passt vielleicht mal ganz gut, einen Song über dieses Thema zu schreiben, der aber einen U-Turn in sich hat. Denn diese Kehrseite gibt es nicht nur in meinem Leben, sondern auch in dem aller anderen Menschen.
»Es hat sich wahnsinnig gut angefühlt, mal die doppelten Böden sein zu lassen.«
MYP Magazine:
Wenn man selbst noch nie einen Baum gepflanzt, ein Auto gekauft, eine Aktie besessen und ein Haus gebaut hat, fühlt man sich mit diesem Lied sehr verstanden – ebenso, wenn man ein paar Jahre nicht mit seinem Vater gesprochen hat, in einer Wohnung ohne funktionierende Heizung lebt oder an einer Depression erkrankt ist. Es tut gut, wenn sich jemand in seiner Musik so nackt macht.
Maeckes:
Das geht mir bei Musik allgemein auch so. Gleichzeitig hat es sich auch wahnsinnig gut angefühlt, das selbst mal so klar auszusprechen und die doppelten Böden sein zu lassen. Und ganz ehrlich: Das war vor allem am Anfang noch eine ziemliche Challenge. Denn es geht ja nicht nur darum, mit dem Song einem anderen Menschen Mut zu machen, indem ich sage: Wenn du denkst, du bist der einzige Depp auf der Welt, schau dir Maeckes an, der ist auch so ein Depp. Ich habe dieses Lied auch einfach nur für mich geschrieben, um mich mal was zu trauen – um mich zu öffnen.
»Meine Stars sollen herumschweben und eine Silhouette sein, auf die ich alles projizieren kann, was ich will.«
MYP Magazine:
Darüber hinaus macht „bucketlist“ deutlich, dass ein Mensch, der im Rampenlicht steht, am Ende die gleichen Sorgen und Probleme hat wie jeder andere auch. Vielleicht hilft das ja all denen, die ihre Musik-, Schauspiel- und Instagram-Stars auf einen Sockel stellen und sich selbst dadurch kleinmachen.
Maeckes:
Ich glaube nicht, dass mein Song das durchbrechen kann – denn auch auf das, was ich da singe, kann man im Endeffekt wieder etwas projizieren. Vielleicht ist es für einen selbst sogar gesund, wenn so ein Künstler, den man gut findet, irgendwo herumschwebt und nicht mehr ist als eine Projektionsfläche. Man will doch nicht wirklich sehen, wie der in seinem Alltag Wäsche wäscht, oder? (lacht)
Ich jedenfalls will das nicht sehen. Meine Stars sollen herumschweben und eine Silhouette sein, auf die ich alles projizieren kann, was ich will. Auf diese Weise kann man mich auch gerne verwenden.
»Man selbst ist zwar nicht derjenige, der die Welt angezündet hat, aber man wärmt sich trotzdem gerne an ihr.«
MYP Magazine:
Ein weiterer Song, der sich im wahrsten Sinne ins Gedächtnis brennt, ist „orangerot“: erstens, weil der Titel Assoziationen an den Film „Blade Runner 2049“ weckt, der nicht nur in dieser Farbwelt gehalten ist, sondern auch in einer dystopischen Zukunft nach der Klimakatastrophe spielt. Und zweitens, weil der Titel die Bilder aus dem Jahr 2020 zurück ins Gedächtnis ruft, als der Himmel über San Francisco infolge der Waldbrände in ein tiefes Orangerot gefärbt war – ein Moment, in dem die Realität mit der Fiktion gleichgezogen ist. Waren solche dystopischen Bilder die Vorlage für Deinen Song?
Maeckes:
Thematisch würde das auf jeden Fall passen. Tatsächlich ist der Song aber schon ein bisschen älter und definitiv vor den Bildern aus San Francisco entstanden, vielleicht sogar schon vor „Blade Runner 2049“. Ursprünglich war der Song mal als Skizze für die Orsons gedacht, die in dem Zusammenhang aber nie weiterentwickelt wurde. Dennoch hat mich die Idee dahinter nie ganz losgelassen: Man selbst ist zwar nicht derjenige, der die Welt angezündet hat, aber man wärmt sich trotzdem gerne an ihr – und nutzt wie selbstverständlich das wütende Feuer als Lichtquelle. Dieses Bild konnte ich nie ganz über Bord werfen. Und da Feuer eh das Hauptthema des ganzen Albums ist, dachte ich, ich lasse es am Ende noch so richtig schön orangerot brennen.
»Das Leben ist eine einzige Verarsche. Aber das ist auch okay.«
MYP Magazine:
Mit Deinem Song „die parties der eltern als man noch kind war und schon im bett lag“ widmest Du dich einem ganz anderen Thema: dem Aufwachsen. Fühlst Du dich vom Leben betrogen, weil sich die romantische Idee, die Du als Kind vom Erwachsensein hattest, am Ende nicht bewahrheitet hat?
Maeckes:
Immer! Das Leben ist eine einzige Verarsche. Aber das ist auch okay, denn es zwingt einen dazu, immer wieder ein Update zu machen. Ich finde, das ist wirklich das Einzige, was man auf seiner Bucketlist haben sollte: ein regelmäßiges Update seiner Perspektive auf das Leben und die Welt.
MYP Magazine:
Das ist oft leichter gesagt als getan.
Maeckes:
Total! Und eines der schwierigsten Updates ist es, wenn man lernen muss, wie Beziehungen funktionieren. Als Kind hält man es für eine eisenharte Wahrheit, dass die Art und Weise, wie die Eltern ihre Beziehung führen, die einzig richtige ist. Aber wenn man dann irgendwann groß und erwachsen ist, muss man mit Erschrecken feststellen: Fuck! Die Eltern haben es genauso wenig gecheckt wie man selbst. Für mich persönlich war das eine der ersten großen Verarschen des Lebens. Wenn man sich in dem Moment kein Riesen-Update verordnet, bleibt man auf der Strecke. Und diese Situation wird es immer und immer wieder geben – „Till The Day I Die“, wie 2Pac gesagt hat.
»Der Stuhl knarzt und die Stimme ist nicht ideal, aber für mich war es der beste Moment.«
MYP Magazine:
Ihr habt heute hier im Studio das Video zu Deinem Song „nichts“ gedreht. Wie schwierig ist es, ein Lied über nichts zu schreiben?
Maeckes:
Überhaupt nicht schwierig! Dieser Song kam ganz locker-flockig zu mir. Ich war letztes Jahr eine Woche lang im Chiemgau, um dort im Studio eines Freundes – Grüße gehen raus an Lukas – super viele Gitarrenlieder aufgenommen habe. Und wenn ich mal nicht aufgenommen habe, hing ich einfach rum, hab‘ mir neue Sachen überlegt oder war draußen in der Natur. Die Idee zu „nichts“ entstand, als ich einen ganzen Tag lang einfach wandern war. Die Melodie des Songs hatte ich bereits im Kopf und als ich dann stundenlang in dieser schönen Landschaft herumgelaufen bin, hatte ich immer wieder mal eine Idee für eine Zeile, die ich dann in mein Handy getippt habe.
Gleich am nächsten Morgen habe ich das Lied dann aufgenommen – in einem einzigen Take. Man hört es ja auch ein bisschen: Der Stuhl knarzt und die Stimme ist nicht ideal, aber für mich war es der beste Moment. Ich saß am offenen Fenster, die Vögel zwitscherten und alles fühlte sich irgendwie richtig an.
»Wie die meisten Leute schaue auch ich mir auf YouTube lieber noch ein Video mehr an, bevor da nichts mehr ist.«
MYP Magazine:
Viele Menschen können gar nicht so gut damit umgehen, wenn um sie herum gerade nichts ist – kein Geräusch, kein Termin, keine anderen Menschen. Wie gehst Du selbst mit so einer Situation um?
Maeckes:
Ich liebe nichts! Ich liebe es, wenn das Papier noch weiß ist, bevor ich darauf schreibe – oder besser gesagt: bevor ich überhaupt eine Ahnung davon habe, was ich schreiben will. Für mich fühlt sich so etwas sehr befreiend an, weil es mir noch alle Möglichkeiten offen lässt. Gleichzeitig merke ich, dass ich immer schlechter darin werde, diese besonderen Momente zu genießen. Wie die meisten Leute schaue auch ich mir auf YouTube lieber noch ein Video mehr an, bevor da nichts mehr ist. Schade eigentlich.
»Jeder Mensch versucht, sich eine kleine Bühne einzurichten, auf der er mit der Welt klarkommt und sich selbst irgendwie akzeptieren kann.«
MYP Magazine:
Im Outro des Albums singst Du: „Ich bin nur sicher auf der Bühne / Ich bin nur sicher nach Applaus / Und bin ich nicht mehr Bühne / Dann gehen die Lichter plötzlich aus“. Fühlst Du dich in der Situation gerade jetzt, abseits der Bühne, sicher oder unsicher?
Maeckes:
Ich bin mitten in einem Interview. Das heißt, ich stehe gerade auf der Bühne.
MYP Magazine:
Hast Du eine Strategie, mit der es Dir gelingt, Dich im Alltag ohne den Applaus fremder Menschen sicherer zu fühlen?
Maeckes: (lächelt)
Der Song ist ein bisschen als Scherz gedacht. Ich will damit klarmachen, dass wir alle diese Bühne haben, nicht nur ich als Musiker. Wir alle haben bestimmte Komfortzonen, in denen wir uns sicher wähnen und wissen: Okay, wenn ich diese Hose anziehe, fühle ich mich halbwegs wohl. Oder aus diesem Blickwinkel finde ich mein Gesicht gar nicht so scheiße.
Jeder Mensch versucht, sich eine kleine Bühne einzurichten, auf der er mit der Welt klarkommt und sich selbst irgendwie akzeptieren kann. Und wenn man diese Bühne verlässt, kann es eben passieren, dass man von den einfachsten Dingen überfordert ist, sich in scheinbar harmlosen Situationen unwohl fühlt oder sich den Kopf zerbricht, weil man glaubt, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben.
»Vielleicht ist Applaus nicht das Wichtigste im Leben.«
MYP Magazine:
Du drohst am Ende des Lieds damit, Dich umzubringen, wenn Du keinen Applaus bekommst.
Maeckes: (das Lächeln geht in ein Grinsen über)
Damit sage ich mir selbst, dass ich vielleicht mal einen anderen Umgang damit finden sollte, wenn ich keinen Applaus bekomme. Vielleicht ist Applaus nicht das Wichtigste im Leben. Das habe ich aber noch nicht herausgefunden.
MYP Magazine:
Dabei ist es leider keine Seltenheit, dass Menschen im Showbusiness in ein tiefes Loch fallen, sobald der Vorhang fällt.
Maeckes:
True.
»Ich kann so ein Album nicht im luftleeren Raum schaffen und dann einfach ein goldenes Ei scheißen, das ohne Dialog funktioniert.«
MYP Magazine:
Durch deine Suizid-Drohung ganz am Ende des Albums entlässt Du uns nicht nur mit einem Cliffhanger, sondern auch mit einem ziemlichen Klos im Hals. Immerhin legst Du die Verantwortung für Deine emotionale Erlösung und Dein physisches Überleben in unsere Hände.
Maeckes:
Ich wette, Ihr habt zu Hause applaudiert.
MYP Magazine:
Ja, natürlich. Wir wollten Dich retten. Wie kommen wir als Dein Publikum aus dieser Verantwortung nur wieder heraus?
Maeckes:
Genau darum geht es ja. Ihr als Zuhörer wollt ein Album von mir – ein Album, das Euch ablenkt, in dem Ihr euch aber auch wiederfinden könnt und so weiter und so fort. Aber das funktioniert eben nicht ohne Euch. Das bedeutet, dass Ihr leider auch eine gewisse Verantwortung bei der Sache tragt, ob Ihr wollt oder nicht. Ich kann so ein Album nicht im luftleeren Raum schaffen und dann einfach ein goldenes Ei scheißen, das ohne Dialog funktioniert. Mir bleibt nichts anderes übrig, als Euch Zuhörer dazu zu bringen, Euch die Frage zu stellen, welche Rolle Ihr selbst bei all dem spielt. Habt ich die Platte nur nebenbei gehört und Euch wie in einer WhatsApp-Gruppe einfach durch den Verlauf gescrollt, ohne selbst etwas zu schreiben? Habt Ihr einfach einen auf stumm gemacht, wolltet aber trotzdem alles lesen?
MYP Magazine:
Jetzt fühlen wir uns ein bisschen ertappt.
Maeckes: (lacht)
Keine Sorge, es gibt ja eine Lösung. Versucht mal, wenn Ihr das Album noch mal hört, die Songs nicht auf mich, sondern auf jedes andere Leben zu beziehen und Euch zu fragen: Wie ist es, persönliche und intime Geschichten preiszugeben? Wie verändert sich das Gefühl, wenn man nicht mehr Kind, sondern erwachsen ist und man vielleicht selbst Kinder hat?
MYP Magazine:
Und wenn man „die Partys, und zwar als Eltern“ feiert.
Maeckes:
Genau. Ich glaube, dass mein Outro da einfach mal den Ball zurückspielt.
»Alle meine Alben bestanden immer nur aus Großbuchstaben, da musste sich mal ändern.«
MYP Magazine:
Eine letzte, aber profane Frage: Warum sind der Albumtitel sowie alle Songtitel kleingeschrieben?
Maeckes:
Weil es ein kleingeschriebenes Album ist. Weil das alles kleine Zeilen sind. Weil mein Gitarrenspiel sehr klein ist. Weil es einfach keine Großbuchstaben verlangt hat. Alle meine Alben bestanden immer nur aus Großbuchstaben, da musste sich mal ändern.
MYP Magazine:
Reicht ja, wenn die Gedanken groß sind.
Maeckes: (lächelt)
Ja, aber es sind auch viele kleine dabei.
Maeckes „Live 2024“ Tour:
02.11.24 – Rostock, M.A.U. Club
03.11.24 – Hamburg, Uebel & Gefährlich
04.11.24 – Hannover, MusikZentrum
05.11.24 – Bremen, Tower
07.11.24 – Dortmund, FZW Club
08.11.24 – Köln, Stollwerck
10.11.24 – Zürich, Papiersaal
11.11.24 – Stuttgart, Im Wizemann
12.11.24 – Frankfurt, Das Bett
13.11.24 – München, Hansa 39
15.11.24 – Nürnberg, Z-Bau
16.11.24 – Wien, Flex Café
18.11.24 – Leipzig, Moritzbastei
19.11.24 – Dresden, Ostpol
20.11.24 – Berlin, Columbia Theater
Mehr von und über Maeckes:
Interview & Text: Jonas Meyer
Fotografie: Frederick Herrmann
Creative Direction, Styling & Set Design: Sarah Schurian
Fred Roberts
Interview — Fred Roberts
»It takes a personal story to help someone else«
The British singer-songwriter Fred Roberts is an exceptional phenomenon for two reasons. Firstly, the 21-year-old creates music that simply sticks in the ear and sounds as though he has been doing nothing else for decades. And secondly, with his unflinching openness about his own emotional world, he serves as a role model for many queer kids around the world. We met him for a very personal interview about living in disguise, the power of Troye Sivan, and an artistic vision that is much more than writing self-help songs.
11. April 2024 — Interview & text: Jonas Meyer, Photography: Steven Lüdtke
What is a role model? The term, which today seems to be a natural part of our linguistic usage, was first coined by the sociologist Robert Merton back in the 1950s. Merton described role models as individuals who serve as examples for others to emulate, and he proposed that they play a crucial role in the socialization process, particularly in the formation of aspirations and goals among individuals.
One of these individuals is certainly Fred Roberts. The 21-year-old singer-songwriter from England has been a beacon of hope for many queer teenagers around the world, at least since he gave them a deep insight into his inner self with Disguise, only the third single he’s ever released and part of his debut EP Sound of My Youth. In his own words, he addressed this song to the boy who said he’d love him—if Fred were a girl.
However, this description is somewhat narrow for two reasons. Firstly, Fred’s role model appeal is not just limited to the younger generation. In general, he offers an emotional refuge to all those who have experienced the need to disguise themselves, hiding who they truly are and who they love. And secondly, even more importantly: at the age of 21, Fred Roberts can already be regarded as a serious artist who makes damn good music—music that wants to stay in your ears once you’ve heard it.
And so, we make the same mistake here, as many others do, which should be avoided at all costs when approaching an artist journalistically: we put the sexuality aspect first, not the music. And at the same time, it has never been more important to have queer individuals who use their art and outreach to provide more visibility for a group of people, many of whom are still socially stigmatised, persecuted and marginalised today.
A few weeks ago, our publisher Jonas Meyer met Fred Roberts in Berlin for a very personal conversation.
»This song is about one of the most vulnerable experiences I ever had.«
Jonas:
Disguise, the latest single you released, is a song “for the boy who said he’d love you if you were a girl.” You said on Instagram that you’d wanted to tell the story of this song for a long time. How do you feel, now that the story has finally become public?
Fred:
Even though the first two singles, Runaway and Say, also draw from personal experiences, Disguise was a big step further of being very specific: this song is about one of the most vulnerable experiences I ever had. The fact that this story is now out in the world feels exciting, because the reason why I make music is to let people who are going through the same shit know that they’re not the only ones who feel this way. In my opinion, it really takes a personal story to help someone else. It can make people feel less scared. Music is so transformative, you know? The flip side is: I feel that the story is not owned by me any more. That’s very weird, but that’s also what makes the song so special.
»Everyone in the world now knows what happened.«
Jonas:
Don’t you feel somehow exposed, telling the world this very intimate story?
Fred:
Kind of, yeah… especially with being so vulnerable in the lyrics. Everyone in the world now knows what happened. Even though the whole song is an artistic product, which means that I’ve slightly stepped away from who I am as a person, it’s still my name on it in the end; it still reveals my very own experiences and intimate feelings. But what would the alternative be? I guess it’s easier to not hide behind the fact that I’m the one who’s actually lived through it.
Jonas:
Luckily, this story only provides a very small insight into your personal life and uncovers 0.1 per cent of who you actually are…
Fred: (smiles)
But I’ll keep writing to fill in the gaps!
»The full picture of what I want to be as an artist is yet to be drawn.«
Jonas:
Do you sometimes get the impression that people who listen to your music think they know you 100 per cent? Especially now that they think they can follow you every step of the way on Instagram.
Fred:
Isn’t that what we all do when we like someone’s music? I think it’s nice that so many people are interested enough in getting to know me and my music, and it’s lovely to see that they’re connecting with the songs and everything… I mean, I’ve only released three singles, and my first EP is in the starting blocks!
But I’ve got so many other songs I’ve been writing for probably two years now, which means that I’ve got this backlog of different paths I’ve gone down. So, yeah, there is definitely a lot more to build, the full picture of what I want to be as an artist is yet to be drawn. Until then, this whole situation is like a new world for me.
»I’m basically saying: I wish I was somebody else that you could love—but I’m not, unfortunately.«
Jonas:
Some of your fans find that Disguise sounds like a song that could accompany the final scenes of a coming-of-age-film. What images did you yourself have in mind when you wrote the song?
Fred:
I’ve always been a storyteller, I really enjoy that. The way I got into songwriting was literally like this: I would have an experience, I would write about it, and then I’d sit in front of a piano and just play some chords, literally speaking the story. That has always been my process.
My favourite film is Call Me by Your Name—with its landscape, all its nostalgic elements and the dark nights—and I feel that the sound of Disguise evokes that same imagery. When I think of the end of the film, when Elio’s sitting by the fireplace after he got off the phone with Oliver who told him that he’s getting married—that’s definitely the world Disguise comes from. In the part where I sing, “Do I wish I was somebody else?”, I’m basically saying: I wish I was somebody else that you could love—but I’m not, unfortunately. I think that’s the emotion that relates to the one expressed in the film, the image of crying in front of the fireplace.
»I feel that the nature of a slower song allows me to tell more stories.«
Jonas:
After two up-tempo singles, Disguise shows a more thoughtful and dreamy side of you. Would you say that this aspect reflects your personality more? Or is it the other way around?
Fred:
Both sides reflect my personality, I’d say! I just love throw-yourself-around songs like those by my favourite band, The Killers. I’m totally into the anthemic nature of music. So that side of it is definitely one half of me. But then, there’s a song like Disguise, and I’ve got a few other guitar ballads coming up. That just gives me the opportunity to be more real with the lyrics. I feel that the nature of a slower song, with atmospheric, intertwined sounds, allows me to tell more stories.
But even though you’re getting more of me in Disguise than you’re probably going to get in Say or Runaway, these two other songs are also extremely important for me in building the world in which I want my music to exist.
»If I were to produce it myself, it wouldn’t sound anything like this.«
Jonas:
Your songs have a very high production quality and sound like you’ve been making music for decades. But you only released your debut single in April 2023. Would you say you are a perfectionist? Or is it the people you work with?
Fred: (smiles)
I’m a perfectionist, but I’m not the one who produces the music. I’m very lucky to have Andrew Wells by my side: he’s like my anchor in the projects, even though he lives overseas. I met Andrew during lockdown through other people and we connected, but the only music I had were some rough demos I’d done on a Zoom recorder. That didn’t put him off and he still wanted to work with me. He was so passionate about building a soundscape and finding the right vibe, it was just incredible. And this guy is still pure magic. Even when we write a song over the course of a day, he often finishes it at the end of the same day. As much of a perfectionist as I am, he surpasses me by far. And if I were to produce it myself, it wouldn’t sound anything like this.
»It’s hard keeping true to yourself when you want as many people as possible to listen to your music.«
Jonas:
How important is it to create a brand around your music nowadays? Is there a danger of losing your own edginess and personality in the process?
Fred:
I think I’d be stupid if I always tried to write songs with a goal in mind. But of course, I’m aware of why certain songs exist. Runaway, for example, was quite big on the radio in Germany. That’s pretty cool, but I didn’t write the song to be successful in a specific market and in a specific medium. I was just lucky that it appealed to people’s tastes. Something like that just happens, or it doesn’t. But whatever—it doesn’t influence the music I love to make.
It’s hard keeping true to yourself when you want as many people as possible to listen to your music. If you really want to be successful, at least in a commercial sense, you have to write songs that reach out. But the second you write a song with a specific purpose, like going viral or taking off as a massive radio hit, that’s when the magic disappears.
For me, writing a song is only for the sake of writing it. When I come to the studio, it’s important for me to bring a story I really care about. Then Andrew and I elaborate it together, just knowing that we’ve got certain influences and certain songs that we want it to sound like, and then it turns into whatever it turns into. That’s all.
»Something deep inside me also wanted me to make music, but I wondered: How do I actually do that?«
Jonas:
When in your life did you realize that making music is a vital outlet for your emotions?
Fred:
During lockdown. I mean, I was already on a TV show in the UK just before the first lockdown; that’s how I got a little bit of a platform and how I made a few connections in the industry. But I hadn’t written a song before. I had just sung for a little bit, including in a school choir. But nothing serious. After lockdown happened, I found myself playing Xbox for the first six months. I was still at school at the time and about to finish it up. Something deep inside me also wanted me to make music, but I wondered: how do I actually do that? My mum just said: “You got to write your own stuff, you know?”
»If no one in the world existed, I think I would still feel the need to document my emotions in a song.«
Jonas:
Your mother used to be a performer, your dad’s a graphic designer. What influence did the creative professions of your parents have on your own artistic development?
Fred:
My mum was the one that got me started and playing piano, she was one that pushed me to get into music in the first place, and she’d sit over me while I practised and so on. Without her, I probably wouldn’t be able to write a song.
Overall, having two parents that both understood the need for a creative outlet was really important. I think it might be more difficult if they’d work in finance, for example. Not that it’s a worse job, but I think if you’re a parent working in the creative field, you have a finer instinct for when your child develops a quiet voice in their head that asks them more and more often: do you want to be a singer? Honestly, this wasn’t a big dream I had from a young age. But there was this constant voice that got louder and louder, and my parents instinctively understood. Their message was: “When there’s something inside of you that you want to let out, just do it and see what happens.”
Jonas:
Isn’t that the essence of art?
Fred:
I guess it is! And in this context, it doesn’t matter whether anyone is listening to you. If no one in the world existed, I think I would still feel the need to document my emotions in a song, like other people do in a diary, for example—although I would be a bit upset by now if absolutely nobody listened. (smiles)
It still feels kind of weird. There’s nothing more special to me than making a song about a specific experience and then getting home after a session, just being in bed, putting my headphones on and being instantly taken back to what I was feeling in the moment it happened.
»The song triggered something deep inside of me.«
Jonas:
A few weeks ago, when the whole world seemed to be posting their Spotify Wrapped, including you, it turned out that you and I have something very important in common: Last year, we both spent endless hours listening to Ryan Beatty’s new album, Calico. What do you like about it?
Fred:
This whole record is just perfect! I’m surprised it’s not being promoted more. Maybe it’s because Ryan Beatty is no longer perceived as a traditional artist like he was a few years ago. He was something of a pop star, and he was releasing music that’s far different to what he’s creating now.
For me, Calico kind of soundtracked my entire summer last year. This record is just beautiful from beginning to end, its soundscape is phenomenal, and it’s been a long time since I skipped any songs on an album. I’m absolutely sure that this record will stay with me for a very long time… What’s your favourite song on it?
Jonas:
It’s Ribbons. I remember sitting on the bus to our office early in the morning and listening to it. Suddenly I started crying—but I couldn’t understand why it touched me so much.
Fred:
Oh, I definitely know what you mean. Ribbons is just brilliant. I had the same experience with Black Friday by Tom Odell. I guess that was my top song of the year 2023—the way it builds up just blew me away. When it came out, I was in Hamburg playing my third show ever. I’d been through a breakup a few months ago, and I remember lying in bed after going out on the Reeperbahn. It was 2 a.m. and I had the song on full blast, absolutely the same experience as yours. I didn’t know why I was feeling any of this, it triggered something deep inside of me.
»Watching Troye Sivan’s music videos, it was the first time I’d seen two boys or men be with each other.«
Jonas:
Even more than Ryan Beatty, another music artist—a certain Troye Sivan—has changed your life. Can you tell how?
Fred:
My first contact with his music was when I discovered him on YouTube, watching the videos of his Blue Neighbourhood Trilogy. It was the first musical discovery of my life that wasn’t through a friend or my parents or someone else recommending me any music. I was hooked from the very first second. I saw this amazing Australian boy who was making wonderful music, and I was like, who is this? From that moment, I literally absorbed his songs.
At that time, I was 14 or maybe 15 years old, going through a period of my life figuring out who I was. Watching Troye Sivan’s music videos, it was the first time I’d seen two boys or men be with each other…
Jonas:
… and that was something so new for you?
Fred:
Not that I wasn’t aware of this beforehand—I had already seen it in my personal life—but until then, it had never appeared in the media that I was actively consuming. Or, to put it differently, I had never immersed myself in the storyline of a gay couple.
»The confusion or loneliness that comes with being gay was something no one had ever talked to me about before.«
Jonas:
What effect did that have on you?
Fred:
That specific experience was very important for me to find my own identity as a gay man. Of course, I knew already what it meant to be gay, and I already knew that I liked boys, but that was it. Everything else that comes with that—the confusion or loneliness, for example—was something no one had ever talked to me about before. Troye Sivan was the first one who, through his music and videos, spoke openly about all the emotions and experiences I personally could relate to. He showed me that I wasn’t the only person in the world who had fallen unhappily in love with a boy. That was magical.
I guess knowing that there’s an artist out there that is being so open and vulnerable about certain issues kind of paved my own artistic way. Apart from that, he broke so many boundaries of what can be talked about today, especially with his new album and the visuals. I mean, obviously, being queer is more accepted in the world now than it was just a couple of years ago, but there’s still a long way to go.
»My sexuality isn’t my whole life. There are so many different parts of me that define who I am as an artist.«
Jonas:
Absolutely. I myself grew up as a gay kid in a small town, and I always thought my generation would have been the last one growing up without any queer role models or a public conversation about people who do not conform to the heteronormative ideal. Then, preparing for today’s interview, I learned that you when you realized that you were gay, you also didn’t know who to tell or how to articulate it because the conversation still didn’t seem to exist at that age. How do you perceive the situation for queer kids in our society today? What do you hear from people who get in touch with you?
Fred:
When I released the first two songs, before Disguise, it wasn’t obvious what I’m talking about. And to be honest, I also didn’t want to explain…
Jonas:
You don’t have to explain anything either.
Fred:
I know. My sexuality isn’t my whole life. There are so many different parts of me that define who I am as an artist. But then the moment came, with Disguise, when I thought that telling my story was kind of important. I started to talk about my life and to explain what the song was about, which also changed the perspective of my past songs, I think.
The people’s reactions were just overwhelming. I’ve received so many messages from people saying, “You’ve put into words how I’m feeling”, “You express something I didn’t know how to express”, or just “Thank you for sharing this story”. When that comes from someone older than me, it’s particularly touching. I’m in a place right now where it’s okay to be gay. Many older people weren’t allowed to experience that in their youth.
»I’m aware that just because I’m personally doing well, it doesn’t mean that all queer kids are in a good situation.«
Jonas:
Many teenagers today are still not allowed to do that.
Fred:
Right, especially those who live in smaller towns or villages and not in big, diverse cities. I’m aware that just because I’m personally doing well, it doesn’t mean that all queer kids are in a good situation. It’s often quite the opposite. Many of them are going through a lot of shit right now, especially when I think of trans kids in the UK these days. Listening to their stories is heartbreaking for me because they are still subject to a lot of stigma. But at the same time, knowing that I’m able to connect with them through my music is more than heartwarming. I never had a same-age role model when I was growing up, and it didn’t feel okay to be gay until I came across Troye Sivan. If there’s even one teenager I can do something similar for or give a voice to, that would be also magical and make me happy.
»In environments where someone might have something against gay people, I tend to hold back from shouting it out.«
Jonas:
Interestingly, there isn’t just one coming-out for queer people. Rather, it is an ongoing process with many coming-outs almost every day. For example, telling you in a question a few minutes ago that I grew up as a gay kid was a conscious decision to come out to you.
Fred:
I totally agree. I’ve been in a few writing sessions where I met some people I haven’t worked with before. This is just a very small thing to tell, but when they were suggesting lyrics including the word “her”, I had to say: “Oh, sorry guys, I can’t sing that, I’m gay.” But sometimes I don’t say it and just change the lyric, you know? This is also a conscious decision in favour of or against coming out—because when you’re in a room with other people, you can’t just leave. (laughs)
But seriously—it still doesn’t feel natural at all having to announce your sexual preference in front of other people. It’s such a weird thing. But at the same time, it’s very important, because it adds context and it allows other people to understand you better. But it remains a conscious decision. And in environments where someone might have something against gay people, I tend to hold back from shouting it out. In an ideal world, everyone would get along with everyone else and it would be okay for us all to love each other.
»In our society, talking about their emotions is still not a thing for men.«
Jonas:
Four years ago I had the chance to talk with your colleague Sam Fender about his song Dead Boys. He said: “We still think it’s bullshit for boys to cry. We still try to emasculate them by saying, ‚Don’t be a fag‘ or ‚Don’t be a little girl‘, and simultaneously we accuse others of being sexist. Isn’t that ridiculous? I spent an entire life around that kind of bullshit bravado that people haven’t got rid of.” Is that still the case, in your experience?
Fred:
Dead Boys is a very sad song because it deals with the high suicide rate among young men in the UK. However, when it comes to my personal experience with toxic masculinity, the saying “Men don’t cry” is one that I’m very familiar with. I went to an all-boys school and for a lot of the time that I was there, it was a progressive school. Nevertheless, through my teenage years, I masked certain elements: my behaviour, for example, or the way I dressed. I just wanted to fit in. And even though I was in this progressive place, I personally experienced that that language still exists and that boys aren’t used to talking about their emotions with each other. In our society, this is still not a thing for men, and it seems to have been buried in them for generations.
»Troye Sivan’s achievement is to push the boundaries of what is usually thought of as a male pop star.«
Jonas:
I’d like to come back to Troye Sivan and Ryan Beatty, because they both play artistically with the topic of toxic masculinity: Troye in his video for the song Rush, Ryan in his album artwork, which is designed around the photography by Peter de Potter. Would you say that an artistic approach is the only way to change something when it comes to that outdated idea of being a real man?
Fred:
I don’t think it’s the only way but it’s one of the possible ways. Troye Sivan, for example, is pushing the boundaries on what a male pop figure can wear. When I was growing up, the idea of a male pop star was pretty clear. And today, the image you have in your head when you picture Shawn Mendes or Justin Bieber is a cool guy wearing hoodie and trousers and singing songs…
Jonas:
… nothing against comfy hoodies!
Fred: (laughs)
No, no, of course not, I like wearing hoodies myself. By the way, that’s another stigma: that all gay kids like flamboyant clothes. But Troye Sivan’s achievement is to push the boundaries of what is usually thought of as a male pop star. He’s stepping outside of the male stereotype and the role ascribed to male musicians. The same goes for Ryan Beatty’s album artwork. I think what they do is really important because their message is: “Don’t be afraid!” When someone sees artists like them talking openly and being vulnerable, they might also find the courage to do so personally—maybe even if they’re a straight man.
»My artistic vision is much more than writing self-help songs.«
Jonas:
I found the following quote from you: “I write songs with the specific intent of helping someone who is going through the same experience.” Do you sometimes feel a certain responsibility that comes with such a promise?
Fred: (ponders for a moment)
I’m still very early on in making music and plan to do this for a long time, but according to the messages I get, it seems that I’ve already impacted some people’s lives. But I don’t know if I feel a special responsibility here, because that’s exactly why I make music: I want to help people. But that’s not the only reason: I also just want to play concerts and get people dancing. Sure, I’m still telling my personal stories with the songs, and when someone can connect with that, it’s brilliant. But if someone just likes the sound and the energy of my music, that’s just as good. My artistic vision is much more than writing self-help songs.
»When I put that in my headphones, it feels like everything’s good.«
Jonas:
From my point of view, there is almost nothing more intimate than entrusting another person with the music in which you find your own emotional refuge. Is there a song or a band that you only recommend to someone if you really like them?
Fred:
Black Friday by Tom Odell, which I have already mentioned, is perhaps a little too melancholy. That’s why I recommend another song that you certainly haven’t heard of in Germany. It’s called Dakota by Stereophonics, a song that has been massive in the UK. I played it in a really slow version at my first live show and it’s also the song I usually listen to before playing a show. It’s like a warm-up: I put on my headphones, go to a private room, and just jump around.
The message in it is actually really sad. It’s about not understanding what the hell happened with a relationship. But it resolves and the song ends with countless repetitions of the line, “Take a look at me now.” It’s just euphoric, in a sense. When I put that in my headphones, it feels like everything’s good—at least for the moment.
More from Fred Roberts here:
Photography by Steven Lüdtke:
Interview and text by Jonas Meyer:
Copy editor: Jem Nelson
phlwest
Interview — phlwest
»Bei mir entsteht ein Song selten aus dem Affekt heraus«
Philip Wester alias phlwest besticht nicht nur musikalisch mit einer unverwechselbaren Handschrift. Auch visuell setzt der 28-jährige Singer-Songwriter und Produzent immer wieder ein Ausrufezeichen, nutzt er doch seine ganz eigene queere Lebenswelt konsequent als ästhetisches Stilmittel. Ein Interview über absurde Männlichkeitsbilder, Musik als Kondensat komplexer Gefühlswelten und die Erkenntnis, kein Ed Sheeran 2.0 mit der Akustikgitarre sein zu wollen.
21. März 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Stefan Hobmaier
Es ist ein Bild, das jede*r kennt: Wenn im Hochsommer die Temperaturen einen gewissen Punkt erreichen, sieht es oft so aus, als würden die Straßen anfangen zu flimmern. Eine optische Täuschung, die darauf zurückzuführen ist, dass die Sonne den Asphalt so stark erhitzt, dass er die Luftmassen unmittelbar darüber zusätzlich erwärmt und nach oben steigen lässt.
Klar, der Hochsommer ist aktuell noch sehr weit weg. Dennoch haben wir das Bedürfnis, gerade jetzt und an dieser Stelle dieses Bild zu bemühen. Schließlich gibt kaum ein besseres, um zu beschreiben, wie sich die Musik von Philip Wester alias phlwest anhört.
Wer das nicht glauben mag, dem sei zum Beispiel „Somebody Sun“ ans Herz gelegt. Der Song, den phlwest Ende Juli 2023 – also in der Mitte des letzten Hochsommers – veröffentlicht hat, ist zwar nur knapp zweieinhalb Minuten lang. Gleichzeitig verkörpert dieser Track alles, wofür der 28-jährige Kölner musikalisch steht: komplexe elektronische Klangteppiche, die energetisch vor sich hin wabern; eingängige und prägnante Melodien, in denen immer auch eine gewisse Grundmelancholie mitschwingt; und eine Gesangsstimme, die Philip wie ein zusätzliches Instrument einsetzt und mal mehr, mal weniger verständlich mit dem darunter liegenden Klangteppich verwebt.
Sich mit dem Werk von phlwest auseinanderzusetzen, ist aber nicht nur aus musikalischer Perspektive spannend. Denn auch mit seinem visuellen Auftritt setzt Philip ein kaum zu übersehendes Ausrufezeichen. Immerhin gelingt ihm nichts Geringeres, als die queere Lebenswelt, in der er sich ganz und gar zu Hause fühlt, zu einem ästhetischen Stilmittel zu transformieren – und das mit einer Konsequenz und Selbstverständlichkeit, wie man sie sonst eher von Musikbusiness-Größen wie Troye Sivan oder Lil Nas X kennt. Doch auch dieser Vergleich hinkt ein wenig, denn der visuelle Auftritt von phlwest sieht in erster Linie aus wie der von phlwest. Und der strahlt vor allem eines aus: Pride.
Wenige Wochen vor der Veröffentlichung seiner ersten EP treffen wir Philip, der von seinem Freund Marius begleitet wird, zum Interview und Portrait-Shooting im Studio von Fotograf Stefan Hobmaier. Draußen war es zwar noch grau und eisig, aber zumindest in Stefans Set konnten wir schon ein paar Sonnenstrahlen simulieren.
I’m looking straight at the sun man /
That’s somebody sun, somebody’s son /
That boy is a gun /
His love is a gun /
»Im Gegensatz zu Peter Fox beschreibe ich den Moment nicht explizit.«
MYP Magazine:
Philip, Du hast Anfang Januar Deine EP „Together“ veröffentlicht, die man mit ihren sieben Tracks fast schon als Album bezeichnen könnte. Was steckt dahinter?
phlwest:
„Together“ ist Teil eines Duos und wird im Laufe des Jahres in einer zweiten EP fortgesetzt. Die Songs der beiden Platten beschäftigen sich mit einem ganz bestimmten Moment, den wahrscheinlich jeder Mensch kennt, der die Nacht durchgefeiert hat und gerade aus dem Club kommt: Man befindet sich in einem Zwischenraum zwischen „Ich will jetzt noch auf einer Afterparty weiterfeiern“ und „Ich möchte Intimität mit einer bestimmten Person an einem bestimmten Ort haben“…
MYP Magazine:
… also jener Peter-Fox-Moment, in dem die Nacht von „schwarz zu blau“ wird.
phlwest:
Nicht ganz. Im Gegensatz zu Peter Fox beschreibe ich in den Lyrics den Moment nicht explizit. Es geht eher darum, die Gefühle greifbar zu machen, die man in der Situation empfindet. Daher ist die EP auch eine Mischung aus langsamen und schnelleren Songs, die aber alle einen gewissen Techno-Einfluss haben – womit ich die zurückliegende Nacht ein bisschen in die Erinnerung zurückhole.
»Mir wurde schnell klar, dass ich kein Ed Sheeran 2.0 mit der Akustikgitarre sein will.«
MYP Magazine:
Dir ist in den letzten Jahren etwas gelungen, wovon viele Deiner Kolleg*innen nur träumen: Du hast einen eigenständigen und unverwechselbaren Sound geschaffen. Wie ist dieser musikalische Fingerabdruck entstanden?
phlwest:
Die Idee, wie ich klingen möchte, war eigentlich schon immer da – es hat nur sehr lange gedauert, sie aus meinem Kopf in die Realität zu übersetzen.
Ich habe mit sechs Jahren angefangen Klavier zu spielen, mit 13 kam die Gitarre dazu und irgendwann habe ich mich an ersten eigenen Songs versucht. Dabei wurde mir schnell klar, dass ich kein Ed Sheeran 2.0 mit der Akustikgitarre sein will. Ich war vielmehr interessiert an elektronischer Musik, an Alternative Pop und R’n’B. Also habe ich angefangen, mir das Produzieren beizubringen, ganz selfmade über YouTube. So sind nach und nach Songs entstanden, mit denen ich dieser musikalischen Idee immer nähergekommen bin. Das hat sich übrigens bis heute nicht geändert: Ich mache immer noch alles selbst, vom Songwriting über das Recording bis zum Mixing – und alles immer noch in dem kleinen Studio bei mir zu Hause. (lächelt)
»Mir ist der Klang meiner Stimme viel wichtiger als der Anspruch, am Ende jedes einzelne Wort verstehen zu können.«
MYP Magazine:
Bei Dir wirkt die Stimme immer wie ein zusätzliches Instrument, das Du eng mit dem musikalischen Part verwebst. So entsteht ein in sich geschlossener Klangteppich, bei dem die Texte mal besser und mal schlechter zu verstehen sind. Willst Du die Lyrics bewusst verschleiern?
phlwest:
Ganz ehrlich: Ich war vor allem in den ersten Jahren sehr unzufrieden mit dem Klang meiner Stimme. Ich glaube, das ist überhaupt bei vielen Menschen so. Man nimmt sich auf und denkt: Wow, herzlichen Glückwunsch.
Aber das ist nicht der Grund, warum ich diesen Stil entwickelt habe. Ich liebe einfach Songs, die mit vielen Synthesizern gemacht sind; Songs, die in die Breite gehen und eine spannende Soundlandschaft erzeugen, über der aber eine relativ klare, deutlich erkennbare Stimme liegt. Mir ist der Klang meiner Stimme viel wichtiger als der Anspruch, am Ende jedes einzelne Wort verstehen zu können. Ich wurde auch schon öfter darauf hingewiesen, dass man bei mir nie alle Textelemente verstehen kann. Daher habe ich sämtliche Lyrics auf meine Website gepackt – dort kann man alles Wort für Wort nachlesen. (lächelt)
»Meine Musik erzählt keine Geschichte, der man einfach folgen kann und zu der man eine Analogie im realen Leben findet.«
MYP Magazine:
Wenn man Deinen Sound visuell beschreiben müsste, könnte man ihn mit dem Flimmern von Straßenasphalt an heißen Sommertagen vergleichen – als ginge es darum, diesen wabernden Moment in Musik zu übersetzen…
phlwest:
… und genau das war und ist meine Intention! Ich bin nicht daran interessiert, eine Story zu spinnen, die sich von A über B nach C entwickelt. Meine Musik erzählt keine Geschichte, der man einfach folgen kann und zu der man eine Analogie im realen Leben findet. Mir geht es um die reine Emotion. Dabei versuche ich, die Songs wie eine Collage aus mehreren Gefühlsmomenten zusammenzubauen – und das sowohl lyrisch, musikalisch als auch produktionell. Ich habe immer das Ziel, etwas zu kreieren, das cinematic klingt: einen Sound, der alles ein bisschen offen lässt und zu dem man seine ganz eigenen Assoziationen entwickeln kann.
»Die in der Musikwelt weit verbreitete Idee, einen Hit innerhalb eines Tages geschrieben zu haben, funktioniert für mich nicht.«
MYP Magazine:
Das heißt, Du planst einen Song wie am Reißbrett, wo Du verschiedene Bausteine zusammenfügst?
phlwest:
Bei mir entsteht ein Song selten aus dem Affekt heraus. Ich weiß, dass viele andere dafür einen emotionalen Trigger brauchen: etwa eine Situation, in der es ihnen richtig dreckig geht. Nur damit können sie dieses Gefühl musikalisch kanalisieren. Mir persönlich hilft das aber überhaupt nicht. Mir geht es viel eher darum, dieses Gefühl selbst zu bauen. Daher versuche ich, verschiedene Momente und Emotionen musikalisch zusammenzubringen und daraus etwas Neues entstehen zu lassen. Ist das vergleichbar mit der Arbeit am Reißbrett? Vielleicht. Auf jeden Fall ist es ein sehr langwieriger und technisch anspruchsvoller Prozess.
Davon abgesehen habe ich den Anspruch, in einen Song eine Vielzahl von Perspektiven einzubringen, die sich mir oft erst über einen längeren Zeitraum eröffnen. Diese in der Musikwelt weit verbreitete Idee, einen Hit innerhalb eines Tages zu schreiben, funktioniert für mich nicht. Keine Chance. Bei mir braucht ein Song eher acht, neun oder auch mal zehn Monate, bis er fertig ist.
MYP Magazine:
Was genau meinst Du mit jener Vielzahl von Perspektiven, die bei Dir in das Songwriting mit einfließen? Sind das persönliche Gefühlslagen, Beobachtungen, Begegnungen oder Dialoge?
phlwest:
Das möchte ich gar nicht eingrenzen. Im Prinzip handelt es sich dabei um alles, was ich um mich herum wahrnehme – und das kann wirklich alles sein: von Kunst über bestimmte Geschichten von Freunden bis zu eigenen emotionalen Momentaufnahmen.
»Meine Songs behandeln so gut wie immer die Beziehung zwischen zwei Personen, das ist der inhaltliche Grundbaustein von phlwest.«
MYP Magazine:
Apropos emotionale Momentaufnahmen: In Deinen Visuals und Musikvideos ist immer wieder zu sehen, wie Du deine Kopfhörer an eine andere Person weiterreichst, genauer gesagt an Deinen Freund Marius. Welche Bedeutung hat diese fast intime Geste für Dich?
phlwest:
Die Geste repräsentiert eigentlich alles, wofür ich als Musiker stehe: Meine Songs behandeln so gut wie immer die Liebe oder zumindest die Beziehung zwischen zwei Personen – das ist der inhaltliche Grundbaustein von phlwest. Über den musikalischen Part versuche ich dann, die Gefühle zwischen diesen beiden Menschen für die Hörer*innen in irgendeiner Form greifbar zu machen. Und das Bild der Kopfhörer ist ein schönes Symbol dafür, wie ich versuche, das von mir Wahrgenommene und in einem Song Verarbeitete an andere Menschen weiterzugeben.
»Gerade in der schwulen Welt hat man oft das Gefühl, dass Menschen sehr schnell ersetzbar sind.«
MYP Magazine:
Im Refrain des Songs „Somebody Sun“ heißt es: „I’m looking straight at the sun man / That’s somebody sun, somebody’s son“ Hast Du dich hier mit einer Vater-Sohn-Beziehung auseinandergesetzt?
phlwest: (lächelt)
Nein, zumindest nicht explizit. Mir hat dieses Wortspiel einfach gefallen. Ohnehin entstehen solche Zeilen bei mir eher spontan. Oft ist es so, dass mir in meinem Alltag etwas in den Kopf schießt und ich den Gedanken in meinem Notizbuch festhalte. Später im Songwriting greife ich dann auf die Textelemente zurück, die ich im Laufe der Zeit so gesammelt habe. Bei „Somebody Sun“ zum Beispiel habe ich einfach mit den Begriffen „Sonne“ und „Sohn“ weitergearbeitet – und so ist nach und nach der Song entstanden.
MYP Magazine:
Dennoch ist dieses Wortspiel ein besonderes, denn es erinnert daran, dass jeder Mensch auch immer der Sohn oder die Tochter von jemandem ist. Das ist ein Umstand, der vor allem in urbanen queeren Bubbles – in denen es oft um Anonymität und schnellen Konsum von Körpern geht – gerne verdrängt wird…
phlwest:
Absolut. Gerade in der schwulen Welt hat man oft das Gefühl, dass Menschen sehr schnell ersetzbar sind und ihr „Wert“ in erster Linie anhand ihrer körperlichen Attribute bemessen wird. Hook-ups und schnelle Bekanntschaften verfliegen so schnell, wie sie gekommen sind, und am Ende ist da nichts, was bleibt. Gleichzeitig hat diese Welt aber auch ihren Reiz – und ihre Berechtigung.
Ich persönlich mag es sehr, mit diesen Gegensätzen zu spielen, auch weil ich mich selbst darin bewege. Einerseits bin ich total interessiert an schnellem Sex und Intimität, gleichzeitig weiß ich aber auch aus eigener Erfahrung, wie wertvoll eine echte emotionale Verbindung zwischen zwei Menschen ist.
»Mir ist erst sehr spät in meinem Leben aufgefallen, dass ich anders bin.«
MYP Magazine:
Im letzten Jahr durften wir ein sehr ausführliches Interview mit Christian Ruess führen, dem Gründer der queeren Plattform „Container Love“. In unserem Gespräch ging es unter anderem um die Generation queerer Millennials, deren Zeit als Jugendliche und junge Erwachsene oft mit großen Traumata verbunden ist. Viele von ihnen haben irgendwann einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit gezogen, haben mit ihrem Elternhaus und ihrer Heimat gebrochen und haben sich irgendwo anders ein gänzlich neues Leben aufgebaut. Dort sind sie heute eher „nobody’s son“ statt „somebody’s son“. Welche Erfahrungen hast Du persönlich auf Deinem Weg gemacht?
phlwest:
Mir ist erst sehr spät in meinem Leben aufgefallen, dass ich anders bin – viel später übrigens als den Menschen um mich herum. (lacht)
Aber im Ernst: Ich konnte erst mit 17 oder 18 für mich präzise formulieren, dass ich schwul bin. Das hatte auch einen Vorteil: Während andere vielleicht schon mit 13, 14 durch diese ganze Thematik gegangen sind, war ich an dem Punkt schon mehr oder weniger erwachsen und emotional gefestigter. Gleichzeitig war meine Sexualität für mein Umfeld auch nie ein Problem. Klar, in meiner Familie war es anfangs etwas komisch. Aber das hat sich sehr schnell gelegt.
»Ich glaube, dass ich andere queere Menschen ermutigen kann, mehr zu der Welt zu stehen, in der sie sich bewegen und wohlfühlen.«
MYP Magazine:
Die visuelle Identität, die Du um deine Musik herum erschaffen hast, ist sehr stark von einer modernen schwulen Ästhetik geprägt. Interessant ist dabei vor allem die Offenheit und Selbstverständlichkeit, mit der Du diese für Dich in Anspruch nimmst – als hätte es in Deinem Leben nie etwas anderes gegeben. War das für Dich der einzige logische Schritt nach dem Outing?
phlwest:
Ich habe schon immer die Idee gehabt, schwules Leben so zu zeigen, wie es ist – zumindest mein schwules Leben. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass mir immer wieder aufgefallen ist, wie wenig dieser konkrete Lifestyle bei anderen queeren Künstler*innen stattfindet. Dabei gibt es viele, die genau diesen Style leben und lieben. Natürlich ist auf Instagram selten etwas genauso wie in der Realität, daher muss man auch meine Visuals in erster Linie als eine Art Fantasie verstehen. Dennoch glaube ich, dass ich damit anderen queeren Menschen auch ein paar Impulse geben und sie ermutigen kann, mehr zu der Welt zu stehen, in der sie sich bewegen und wohlfühlen. Das ist etwas, was mir mit der Zeit immer wichtiger geworden ist.
»Ich habe schnell gelernt, dass es überhaupt keinen Sinn macht, sich zurückzuhalten – zumindest nicht auf Social Media.«
MYP Magazine:
Besteht für Dich nicht auch die Gefahr, dass Deine visuelle Identität die musikalische irgendwann überlagern könnte – und dass Dir die Menschen eher wegen Deiner Fotos und Videos folgen und weniger wegen der Songs?
phlwest:
Wenn man auf Social Media unterwegs ist, ist das definitiv eine Frage, die man sich stellen muss – und über die ich selbst auch schon viel nachgedacht habe. Folgen mir die Leute wegen der Musik? Folgen sie mir, weil ich zeige, was schwules Leben beinhaltet? Folgen sie mir vielleicht aus ganz anderen Gründen? Es gab mal eine Zeit, da habe ich versucht, mich visuell ein bisschen zurückzuhalten und dafür noch stärker die Musik zu pushen. Aber ich habe schnell gelernt, dass es überhaupt keinen Sinn macht, sich zurückzuhalten – zumindest nicht auf Social Media.
Mittlerweile bin ich auf dem Standpunkt: Die Leute dürfen mir folgen, aus welchen Gründen auch immer. Meine Hoffnung ist nur, dass sie für sich irgendetwas aus dem herausziehen können, was ich tue. Und wenn das „nur“ die Musik ist, super! Wenn das eher das Visuelle ist, ist das auch okay.
»Es geht nicht einfach nur um eine visuelle Ästhetik, sondern vor allem um einen Lebensstil.«
MYP Magazine:
Kannst Du dir vorstellen, Deinen visuellen Auftritt auch mal komplett zu verändern?
phlwest:
Auf jeden Fall! Das ist in der Musikwelt ja auch nichts Ungewöhnliches. Es gibt viele Künstler*innen, die ihre visuelle Ästhetik mit jedem neuen Album komplett über den Haufen werfen. So etwas finde ich auch für mich nicht uninteressant.
Dennoch habe ich das Gefühl, dass ich mich immer mehr oder weniger in der visuellen Welt bewegen werde, die ich auch in den letzten Jahren erschaffen habe. Denn hier geht es nicht einfach nur um eine visuelle Ästhetik, sondern vor allem um einen Lebensstil – um meinen Lebensstil. Und es geht um meine Sexualität, um das Schwulsein. Das ist einfach ein Fakt, den ich nicht einfach aus der Luft greife. Das soll aber nicht heißen, dass ich mich visuell nicht weiterentwickeln will, ganz im Gegenteil.
»Ich mag es, wenn ich bestimmte Männlichkeitsbilder ad absurdum führen kann.«
MYP Magazine:
In der visuellen Welt, die Du um Deine Musik erschaffen hast, wirkst Du immer ein wenig hart, ernst und melancholisch – ganz im Gegensatz übrigens zu dem Eindruck, den man von Dir hat, wenn man Dich persönlich trifft…
phlwest: (lächelt)
Ich weiß, was Du meinst. Ich mag es einfach, einen Kontrast herzustellen zwischen dem, wie ich im Privaten wirke, und meinem Bild in der Öffentlichkeit – vor allem, wenn dieses Bild in der schwulen Lebenswelt stattfindet und ich damit bestimmte Männlichkeitsbilder ad absurdum führen kann, wie zum Beispiel diese Idee von Härte und Ernsthaftigkeit.
MYP Magazine:
Hast Du für Dich persönlich eine Definition von Männlichkeit?
phlwest:
Darauf habe ich keine gute Antwort. Männlichkeit heißt für mich in erster Linie, ein Mann zu sein – ohne dass ich das mit einem bestimmten Aussehen oder Auftreten verbinden würde. Mir geht es dabei eigentlich nur um Attraktivität, privat wie in meiner Musik. Ich freue mich, wenn die Leute denken: „Oh, das ist aber interessant, sieht cool aus und hört sich gut an, was dieser Typ so macht.“ Dabei denke ich über so etwas wie Männlichkeit gar nicht nach.
Mehr von und über phlwest:
Interview & Text: Jonas Meyer
Fotografie: Stefan Hobmaier
Marius Nitzbon
Interview — Marius Nitzbon
»Die Leute wollen Musik hören, die von einem menschlichen Wesen gemacht wird«
Mit seinen gefühlvollen und präzisen Klangwelten erschafft Marius Nitzbon eine Musik, die tief in unsere Seele greift. Dabei bewegt sich der 23-jährige Komponist und Pianist nicht nur virtuos zwischen Intimität und Lebendigkeit. Er verknüpft auch immer wieder klassische mit elektronischen Elementen – und manchmal sogar mit etwas Vogelgezwitscher. Ein Gespräch über Trost als Antrieb, einen engagierten Musiklehrer und die Frage, ob man für den Algorithmus einer Maschine Empathie empfinden kann.
11. Februar 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König
Wir wagen mal eine These: Es gibt auf der Welt kaum etwas Intimeres, als einem anderen Menschen Musik zu empfehlen. Nein, wir meinen damit nicht jenes inflationäre Hinausgeballere von Spotify-Jahresrückblicken auf Instagram und Co. Sondern die wohlüberlegte Entscheidung, einen bestimmten Song oder gar ein Album, von dem die eigene Seele tief ergriffen ist, einer anderen Person liebevoll ans Herz zu legen. Wie zum Beispiel „Little Human“ von Marius Nitzbon.
Mit diesem Album hat der 23-jährige Neoklassik-Künstler bereits im Juni letzten Jahres ein so wundervolles und wahrhaftiges Stück Musik in die Welt geworfen, dass wir gar nicht anders können, als Euch diese Platte zu empfehlen. In insgesamt elf Tracks nimmt uns Marius mit auf eine verträumt-melancholische Reise, die beim eher reduzierten Piano-Stück „B Town is Awakening“ beginnt und bei „Dyn“ endet – einem überaus markanten Track, der mit pointierten Elektronik-Elementen einen dystopisch wabernden Klangteppich erzeugt. Ganz so, als wäre er Teil eines Films wie „Blade Runner 2049“.
Dabei ist „Little Human“ bereits das zweite Album des jungen Komponisten und Pianisten, der in Bergedorf aufgewachsen ist und aktuell an der Uni Münster Musikproduktion studiert. Schon 2018 erschien mit „Colours for the Blind“ sein Debütalbum, auf dem er seine ersten öffentlichen Gehversuche bei der Kombination klassischer und elektronischer Elemente machte.
Aktuell arbeitet er an einem weiteren Album, das den verheißungsvollen Titel „Birds Are My Friends“ trägt. Für das Recording dieser Platte, die Mitte 2024 erscheinen soll, reiste Marius Ende Mai ins lettische Kuldīga. Zehn Tage lang hatte er sich dort im Studio des berühmten Klavierbauers David Klavins eingemietet, um seine neuen Songs auf dessen „Una Corda“ aufzunehmen – ein von Klavins und Nils Frahm entwickeltes Piano, das über nur eine Saite pro Ton verfügt und einen ganz besonderen Klang hat.
Die insgesamt 13 Tracks sind von gefühlvollen Melodien und Stimmungen getragen, die sich in ausbrechende Dynamiken weiterentwickeln. Dabei steht das zarte Klavierspiel immer wieder in Kontrast zur eher exzentrischen Virtuosität, wodurch Marius – ähnlich wie auf „Little Human“ – ein faszinierendes Spannungsfeld schafft. Dabei kreiert nicht nur das Klacken der Pianomechanik eine unverwechselbar lebendige und intime Atmosphäre – sondern auch der Gesang der Vögel, der ab und zu von draußen in den Saal eindringt.
Vor einigen Wochen haben wir Marius Nitzbon in Berlin zum Interview und Photoshoot getroffen. Dabei sind wir nicht darum herumgekommen, hier und da auch über Spotify zu sprechen. Es hat ja manchmal auch sein Gutes, hätte jemand wie Loriot dazu gesagt.
»Ich bin ein Mensch, der sehr viel in seinen Gedanken lebt.«
MYP Magazine:
Eine Deiner eigenen Spotify-Playlists trägt den Untertitel „Nostalgic longing in its most positive form.“ Was reizt Dich so an dem, was längst vergangen ist?
Marius Nitzbon:
Ich bin ein Mensch, der sehr viel in seinen Gedanken lebt. Oft entsteht dabei auch jene nostalgische Sehnsucht. Das hat nicht selten mit der Musik zu tun, die ich gerne höre – und die in der Playlist liegt mir ganz besonders am Herzen. Ich schätze, daher geht es auch in meinen eigenen Tracks immer wieder um Nostalgie, sei es in meinen Klavierstücken oder in den elektronischen Produktionen. Dabei habe ich Bilder einer Zeit vor Augen, die längst vergangen ist – und die ich selbst oft gar nicht erlebt habe.
»Meine Hoffnung war, der Familie ein kleines bisschen Halt zu geben in der schweren Zeit.«
MYP Magazine:
Eines Deiner meistgehörten Stücke ist der Song „Little Human“ aus dem gleichnamigen Album. Wie ist dieses Lied entstanden?
Marius Nitzbon:
Als ich mit 16 ein halbes Jahr auf Schüleraustausch in Kanada war, habe ich zwei Brüder kennengelernt, die ich sehr, sehr mochte. Wir haben wahnsinnig viel Zeit miteinander verbracht und waren nach meinem Kanada-Halbjahr sogar noch zusammen im Spanienurlaub. Wenige Monate später hat sich einer der Brüder das Leben genommen… sein Name war Chris. Als ich davon erfahren habe, hatte ich das tiefe Bedürfnis, für die Familie einen Song zu schreiben. Meine Hoffnung war, ihr damit ein kleines bisschen Halt zu geben in der schweren Zeit. Und so habe ich zuhause auf meinem Klavier den Song „For Chris“ aufgenommen und ihn 2020 veröffentlicht.
Leider war ich mit der Recording-Qualität überhaupt nicht glücklich. Mein Klavier klingt sehr gewöhnungsbedürftig, es macht im Hintergrund ständig irgendwelche Klack-Geräusche, daher war diese Aufnahme irgendwie nicht genug, wie ich dachte. Aber dann hatte ich den passenden Einfall: Ich wollte den Track in meiner Schule aufnehmen, denn dort gibt es einen ziemlich großen und toll klingenden Flügel. Da wir alle gerade mitten im Lockdown steckten, war die Schule absolut menschenleer, und so konnte ich dort in aller Ruhe recorden.
MYP Magazine:
Und wie ist daraus in der Folge Dein zweites Album entstanden?
Marius Nitzbon:
Auch wenn es ursprünglich nur mein Ziel war, „For Chris“ in einer besseren Qualität aufzunehmen, haben sich aus diesem einen Stück plötzlich immer weitere ergeben – alle aus dem bloßen Versuch heraus, dieses eine Stück schöner klingen zu lassen. Eine der ersten Variationen von „For Chris“ sollte „Little Human“ heißen. Am Ende hatte ich ein ganzes Album in der Hand, das ich ebenfalls „Little Human“ getauft habe… Ich glaube, der Titel ist ein bisschen selbsterklärend. Chris war 15 Jahre alt.
»Niemand aus dem Publikum kannte die tatsächliche Story hinter dem Album. So konnten alle zu meiner Musik ihre ganz eigene Geschichte entwickeln.«
MYP Magazine:
Interessanterweise hört sich das Album nicht wie ein Zufallsprodukt an, sondern wie etwas, in das sehr viel Konzeptarbeit geflossen ist: einerseits, weil es so eine emotionale Tiefe hat; andererseits, weil es im Kopf einen fiktionalen Plot erzeugt – ähnlich wie ein gutes Buch.
Marius Nitzbon: (lächelt)
Diese Assoziation höre ich immer wieder, zuletzt bei einem Festival in Hannover, auf dem ich gespielt habe – auch wenn ich den undankbarsten Slot überhaupt erhalten hatte: an einem Sonntagmittag um 13 Uhr. Um diese Zeit standen ganze zehn Leute vor der Bühne und ich dachte, dabei bleibt‘s. Aber dann kam immer mehr Laufpublikum, das stehengeblieben ist.
Nach dem Auftritt erzählten mir die Leute, dass sie bei meiner Musik die Augen geschlossen und irgendwelche Filme gesehen hätten. Für mich war das ein sehr besonderes Kompliment, denn niemand aus dem Publikum kannte die tatsächliche Story hinter dem Album. So konnten alle zu meiner Musik ihre ganz eigene Geschichte entwickeln. Das hat meine Intention am Ende völlig unwichtig gemacht – für mich war und ist das etwas Wunderschönes an der Musik ohne Text.
»Der Song gehört zu den vielen Dingen, mit denen sie versuchen, die Erinnerung an ihren Sohn hochzuhalten.«
MYP Magazine:
Hast Du Sorge, dass die Menschen das Album mit anderen Ohren hören, wenn sie wissen, welche Tragödie der Auslöser war?
Marius Nitzbon:
Definitiv – denn eigentlich will ich das nicht. Ich war mir nicht mal sicher, ob es überhaupt okay ist, öffentlich darüber zu sprechen. Daher habe ich im Vorfeld auch bei Chris‘ Familie nachgefragt…
MYP Magazine:
Und was war die Antwort?
Marius Nitzbon:
Dass ich die Geschichte auf jeden Fall erzählen soll – die von Chris genauso wie die der Entstehung des Songs. Sie haben mir gesagt, dass „Little Human“ zu den vielen Dingen gehört, mit denen sie versuchen, die Erinnerung an ihren Sohn hochzuhalten.
»Ich habe mich von dem Anspruch verabschiedet, dass das Album ein elektronisches Gesamtwerk sein muss.«
MYP Magazine:
Auch wenn das Album aus einem einzigen Song heraus entstanden ist, wirken die insgesamt elf Tracks sehr eigenständig und divers. Wie ist es Dir gelungen, Dich aus der Gefühlslage von „Little Human“ für die anderen zehn Songs zu lösen?
Marius Nitzbon:
Ich komme musikalisch stark von Nils Frahm, meinem großen Idol. Nils arbeitet in seiner Musik sehr viel mit Synthesizern, weshalb auch ich am Anfang versucht habe, eher elektronische Stücke aufzunehmen. Aber das ist eine ultrakomplexe Angelegenheit, mir ist es einfach nicht gelungen. „Dyn“, aber auch „Swell“ sind nichts anderes als die Überbleibsel aus elektronischen Tracks, bei denen ich am Ende nicht bereit war für diese enorme Komplexität an Soundelementen. Aus diesem Grund habe ich bei anderen Stücken immer öfter mal das Klavier sprechen lassen und mich von dem Anspruch verabschiedet, dass das Album ein elektronisches Gesamtwerk sein muss. Durch dieses Ausprobieren habe ich mich sukzessive von dem Gefühl gelöst, aus dem heraus „For Chris“ entstanden ist.
»Ich habe das Gefühl, dass man aus dem Klavier noch viel mehr herausholen kann, wenn man ein bisschen elektronisch denkt.«
MYP Magazine:
In Deiner Musik verbindest Du immer wieder klassische mit elektronischen Elementen – ein bisschen so, als würde man Erik Satie mit Kollektiv Turmstraße mischen. Was geben dir diese beiden musikalischen Welten?
Marius Nitzbon:
Ich finde klassische Musik superspannend, vor allem klassische Klaviermusik. Aber ich habe das Gefühl, dass man aus dem Klavier noch viel mehr rausholen kann, wenn man ein bisschen elektronisch denkt. Ein Beispiel: Ich sehe meine linke Handbegleitung oft als eine Art Synthesizer Pad. Um „Pad-mäßig“ zu spielen, versuche ich möglichst leise zu spielen, um dadurch weniger Obertöne aus den Saiten zu kitzeln. Dadurch haben die rechte Hand und ihre Melodien automatisch mehr Platz. Andersherum finde ich elektronische Musik erst dann besonders ansprechend, wenn darin akustische oder Live-Performance-Elemente stecken. Ich kann gar nicht anders, als diese beiden Welten immer zusammen zu denken.
»Das, was wirklich an einem zehrt, ist dieses stundenlange Aufnehmen.«
MYP Magazine:
Für dein kommendes Album „Birds Are My Friends“ bist du vor einigen Monaten für zehn Tage ins lettische Städtchen Kuldīga gereist, um dort auf dem „Una Corda“-Piano des Klavierbauers David Klavins Deine Songs aufzunehmen. Was genau ist das für ein Instrument?
Marius Nitzbon:
Das „Una Corda“ ist ein neuartiges Klavier, das David Klavins zusammen mit Nils Frahm entwickelt hat. Anders als normale Pianos hat es statt drei nur eine Saite pro Ton – auf Italienisch una corda. Für mich persönlich klingt dieses Instrument ein bisschen so wie ein E-Piano oder eine Harfe. Andere hören darin aber auch eine Gitarre – was natürlich Sinn macht, denn Gitarre und Harfe haben auch nur eine Saite pro Ton. Insgesamt hat das „Una Corda“ also einen ganz eigenem Klang, der ein bisschen klarer, heller und leichter ist als der eines normalen Pianos.
MYP Magazine:
Wie hast du die zehn Tage in Kuldīga empfunden?
Marius Nitzbon:
Das war mit die beste Zeit, die ich mit mir und meiner Musik verbracht habe! Aber auch die intensivste, weil ich nächtelang gespielt und aufgenommen habe. Man sagt ja, der nervigste Teil von sowas ist immer die Postproduktion. Aber das, was wirklich an einem zehrt, ist dieses stundenlange Aufnehmen. Man weiß: In zehn Tagen muss alles fertig sein, also arbeitet man extrem viel und schaut besonders selbstkritisch auf das, was man so fabriziert.
»Heutzutage kann Billie Eilish super leise in ihr Mikrofon singen und daraus wird ein Megahit. Und genauso super leise kann man auch Klaviermusik aufnehmen.«
MYP Magazine:
Du bist über Deinen ehemaligen Musiklehrer auf die Arbeit von Nils Frahm und David Klavins aufmerksam geworden. Welchen Einfluss hat dieser Lehrer auf Deinen persönlichen Werdegang?
Marius Nitzbon:
Einen riesigen! Ich erinnere mich noch gut daran, dass Herr Sieveking (schöne Grüße an der Stelle) mit uns mal in der 7. Klasse das Thema Minimal Music durchnahm. Dabei führte er uns auch an Künstler wie Philip Glass und Nils Frahm heran – und erzählte uns stolz, dass Nils Frahm auch mal Schüler auf unserer Schule in Bergedorf war. Verrückt, oder?
Als Herr Sieveking später mal von David Klavins und seinem „Una Corda“ berichtete, fand ich es richtig cool, wie jemand, der eigentlich ein klassischer Klavierbauer ist, einfach mal die Regeln bricht. Immerhin sind die Patente für Pianos um die 150 Jahre alt und haben sich nie geändert. Klaviere werden seit jeher nach dem gleichen Prinzip gebaut, sprich mit drei Saiten pro Ton. Die sind dazu da, um das Instrument möglichst laut klingen zu lassen, denn damals gab es noch keinen Verstärker. Heutzutage kann Billie Eilish super leise in ihr Mikrofon singen und daraus wird ein Megahit. Und genauso super leise kann man auch Klaviermusik aufnehmen, denn mittlerweile ist man nicht mehr angewiesen auf physische Gegebenheiten wie etwa eine Mindestlautstärke, da man eh alles elektronisch verstärkt – egal ob bei Konzerten oder auf unseren Kopfhörern. Diesem Zeitgeist ist auch David Klavins gefolgt und hat das Instrument völlig neu gedacht. Das finde ich nach wie vor extrem spannend.
»Ich habe meine Songs immer nur nachts aufgenommen, weil ich mir den regulären Tagestarif nicht leisten konnte.«
MYP Magazine:
Für Deine Aufnahme-Session in Lettland hast Du eigentlich absolute Stille gesucht – bekommen hast Du aber jede Menge Vogelgezwitscher…
Marius Nitzbon:
Stimmt. Das liegt daran, dass ich meine Songs immer nur nachts aufgenommen habe, weil ich mir den regulären Tagestarif nicht leisten konnte. Daher hat mir David Klavins erlaubt, sein Studio außerhalb der regulären Zeiten zu nutzen. Soll heißen: Sobald er und seine Kolleg*innen in der Pianowerkstatt Feierabend gemacht haben, konnte ich mit dem Recording anfangen. Das war meistens so gegen 19, 20 Uhr – und in den frühen Morgenstunden, nach acht, neun Stunden, sind dann die Vögel aufgewacht. Ganz am Anfang war das noch gegen vier Uhr morgens. Aber mit jedem weiteren Tag fing das Gezwitscher etwas früher an, weil es auch immer früher hell wurde. Am Ende konnte ich ziemlich genau vorhersagen, in wie vielen Minuten sich die ersten Vögel melden.
»In der Nachbearbeitung habe ich gemerkt, dass ich diesen atmosphärischen Vogelsound in gewisser Weise auch sehr schön finde.«
MYP Magazine:
War das für Dich nicht der absolute Albtraum? Immerhin hast Du für die Aufnahme doch Stille gebraucht…
Marius Nitzbon:
Am Anfang war das tatsächlich eher nervig. Doch in der Nachbearbeitung habe ich gemerkt, dass ich diesen atmosphärischen Vogelsound, der vor allem auf den Raum-Mikros liegt, in gewisser Weise auch sehr schön finde. Davon abgesehen bekommt man diese speziellen Geräusche in der Postproduktion nie ganz weg. Also habe ich sie einfach drin gelassen.
MYP Magazine:
Das heißt, der Albumtitel ist eine nachträgliche Geste der Versöhnung an die lettische Vogelwelt?
Marius Nitzbon: (lacht)
Das kann man so sagen, ja.
»Ich finde: Wenn man Musik zu glatt bügeln will, verliert sie ihre Magie.«
MYP Magazine:
Auch in der Vergangenheit hast Du in Deinen Stücken immer wieder mal mit mehr oder weniger subtilen Hintergrundgeräuschen gespielt. In Deinen „Forest Sessions“ etwa hast Du Naturgeräuschen eine sehr prominente Rolle gegeben. Was reizt Dich so an diesen nichtmusikalischen Elementen?
Marius Nitzbon:
Das Besondere daran ist, dass man beim Hören das Gefühl hat, an der Aufnahme zu partizipieren – als wäre man im selben Raum. Oder zumindest in demselben Ambiente. Das Gehirn scheint es zu schaffen, dass man diese Elemente nicht als Störgeräusche wahrnimmt, sondern als integralen Teil des Tracks. Das macht die Musik nach meinem Empfinden irgendwie nahbarer und persönlicher. Bei den „Forest Sessions“ hätte ich es auch eher langweilig gefunden, wenn das Ganze im Studio aufgenommen worden wäre. Die zwitschernden Vögel waren da ein essenzieller Teil des Konzepts. Ich finde: Wenn man Musik zu glatt bügeln will, verliert sie ihre Magie.
»Auf einem Live-Konzert ist es doch irgendwie netter, wenn auf der Bühne ein bisschen performt wird und man sich zur Musik auch bewegen kann.«
MYP Magazine:
Die Tracks auf „Birds Are My Friend“ wirken im Vergleich zur aktuellen Platte wesentlich rhythmischer und treibender – und geradezu tanzbar. Oder anders gesagt: Wenn einem diese Musik auf dem Soundtrack von „Babylon Berlin“ begegnen würde, würde man sich nicht wundern. Ist „Birds Are My Friend“ der Versuch einer Kernschmelze aus Klassik und Elektronik?
Marius Nitzbon:
Ja, das kann ich zumindest aus heutiger Perspektive sagen. Denn über die letzten Jahre gab es immer öfter den Impuls in mir, Tracks zu kreieren, die auch ein bisschen reinkicken, wenn man sie live spielt…
MYP Magazine:
Um beispielsweise die Leute am Sonntagmittag auf einem Festival aufzuwecken…
Marius Nitzbon: (lächelt)
Genau! Mit solchen Stücken ist es live vor Publikum wesentlich einfacher für mich… Aber was heißt schon einfach? Ich komme ja immer noch mit recht schwerer Musik an, die eher introspektiv und träumerisch ist, zumindest im Vergleich zu dem, was sonst auf solchen Festivals gespielt wird.
Wenn die Leute zuhause auf der Couch sitzen, ihre Kopfhörer aufhaben und in dem entsprechenden Mindset sind, „funktioniert“ meine Musik total gut. In so einem Setting entscheidet man sich ja auch bewusst dafür. Aber auf einem Live-Konzert ist es doch irgendwie netter, wenn auf der Bühne ein bisschen performt wird und man sich zur Musik auch bewegen kann. Und das geben die neuen Stücke definitiv her. Ich wollte im Vorfeld unbedingt ein Album machen, mit dem ich mehr auf die Bühne kommen kann – und ich glaube, das ist mir gelungen.
»In nur sechs Wochen habe ich Popmusik von wirklich allen Seiten kennengelernt.«
MYP Magazine:
Mitte 2023 hast Du unter dem Namen „Neon Valis“ ein zweites musikalisches Projekt gestartet, mit dem Du dich hauptsächlich im Electronic Dream Pop bewegst. Wie kam es dazu? Und was gibt Dir „Neon Valis“, was Du in „Marius Nitzbon“ nicht findest?
Marius Nitzbon:
Dazu muss ich ein wenig ausholen. Ich habe vor drei Jahren den Popkurs an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg belegt. Dieser Kurs ist ein sogenannter Kontaktstudiengang, bei dem jedes Jahr etwa 50 junge Musiker*innen in zwei Intensivkursen à drei Wochen gecoacht werden. Das Ganze findet immer im März und August statt, also in den Semesterferien. Für mich war das damals perfekt, da ich durch Empfehlungen von Teilnehmern schließlich zur Musikhochschule in Münster gefunden habe, wo ich immer noch studiere.
Wenn ich heute auf diesen Popkurs zurückblicke, muss ich sagen, dass das meine totale „Musik-Spielwiesen-Zeit“ war. Erstens, weil ich mich musikalisch austoben konnte wie noch nie zuvor in meinem Leben. Und zweitens, weil ich mit den absolut unterschiedlichsten Leuten spielen konnte – und manchmal auch musste. Denn bei uns im Kurs gab es nur drei Keyboarder. Und einer davon war ich. Wegen dieses akuten Keyboarder-Mangels durfte ich Jahr darauf erneut teilnehmen, wodurch ich unter anderem auch die Jungs meiner heutigen Band KARRERA kennengelernt habe. In diesen beiden Jahren habe ich über einen Zeitraum von insgesamt zwölf Wochen an unzähligen Sessions teilgenommen, Dutzende Konzerte gespielt und an über 50 Songs mitgewirkt. Auch wenn ich danach kurz vor dem Burnout war: Ich habe in dieser Zeit Popmusik von wirklich allen Seiten kennengelernt. Und ich bin auf vieles gestoßen, das ich mit „Marius Nitzbon“ künstlerisch nicht ausdrücken kann. All das versuche ich nun über „Neon Valis“ zu transportieren. Was genau das ist, kann ich aber selbst noch nicht in Worte fassen.
»Ich setze auf das Altbewährte: auf Künstler, bei denen ich weiß, dass es sich um echte Menschen mit einem musikalischen Anspruch handelt.«
MYP Magazine:
Im Mai hat die ARD eine Dokuserie mit dem Titel „Dirty Little Secrets“ veröffentlicht, die uns einen Blick hinter die Kulissen des schillernden Musikbusiness ermöglicht. Dabei geht es unter anderem um – teilweise von Spotify – bezahlte Fake-Interpret*innen, die in reichweitenstarken Playlists platziert werden. Wie blickst Du als Newcomer auf den Musikmarkt?
Marius Nitzbon:
Dieses Thema ist krass präsent in meinem Kopf. Ich selbst habe auch schon mehrere solcher Angebote erhalten – von irgendwelchen Leuten, die sich als Musiklabel ausgeben. Mittlerweile weiß ich, dass sich dahinter in der Regel Einzelpersonen verbergen, die mal ein paar tausend Euro in Playlist-Promotion gesteckt haben. Jetzt versprechen sie vollmundig, deine Musik zu pushen – gerne mit dem Hinweis, innerhalb von kürzester Zeit über eine Million Streams zu generieren.
Früher fand ich so etwas noch sehr verlockend, weil ich dachte, es könnte mir tatsächlich helfen, mich im Musikbusiness als glaubwürdigen Künstler zu etablieren. Aber dann musste ich mit Erschrecken feststellen, wie viele Leute sich in dem Bereich tummeln, die zehn Projekte gleichzeitig bedienen und den Markt mit Musik überschwemmen. Eine Musik, die teilweise so belanglos ist, dass ich selbst sie gar nicht hören will. Ich setze viel lieber auf das Altbewährte: auf Künstler wie Nils Frahm, Ólafur Arnalds oder Martin Kohlstedt, bei denen ich weiß, dass es sich um echte Menschen mit einem musikalischen Anspruch handelt; Menschen, die sich handwerklich und emotional wirklich mit dem auseinandersetzen, was sie tun.
»Man muss den Leuten zeigen: Ich bin ein echter Mensch.«
MYP Magazine:
Doch auch die Arbeit dieser großen Künstler gerät immer mehr in Gefahr. Denn für künstliche Intelligenzen ist es schon lange kein Problem mehr, eigene Songs zu schreiben. Und diese Fähigkeit wird von Tag zu Tag ein bisschen besser. Fühlst Du dich durch diese Entwicklung in Deiner Existenz bedroht? Oder positiv gefragt: Welchen Vorteil hast du nach wie vor als Mensch gegenüber der KI?
Marius Nitzbon:
Immer, wenn mir ein Argument dafür einfällt, denke ich im nächsten Moment, dass man auch das letztendlich programmieren kann. Daher glaube ich, dass es am Ende nur noch einen einzigen Vorteil geben wird: die Tatsache, dass die Musik von einem Mensch geschrieben wurde. Ich bin mir sicher, dass sich das nie ändern wird: Die Leute wollen Musik hören, die von einem menschlichen Wesen gemacht wird. Vielleicht nicht, wenn es sich um dudelige Hintergrundmusik im Supermarkt handelt. Aber immer dann, wenn man vor einer Bühne steht und sich zu dem bewegen will, was der Mensch da oben mit seiner Stimme und den Instrumenten erzeugt.
MYP Magazine:
Auch wenn es um 13 Uhr auf einem Festival ist.
Marius Nitzbon: (lacht)
Gerade dann! Sonst würde ja erst recht niemand kommen. Daher will ich mit dem neuen Album auch mehr auf die Bühne. Mir bleibt eh nichts anderes übrig. Wenn ich als Künstler bei meiner Klaviermusik bleiben will und mich weiterhin weigere, für zehn Spotify-Projekte gleichzeitig zu komponieren, muss ich konsequent den Weg der Live-Auftritte gehen. Man muss den Leuten zeigen: Ich bin ein echter Mensch.
»Für die Gefühlswelt eines Menschen können wir Empathie empfinden. Für den Algorithmus einer Maschine nicht.«
MYP Magazine:
Es ist ohnehin fraglich, ob eine KI die Empathie hätte, einer Familie, die um ihren verstorbenen Sohn trauert, einen Song zu schenken – nur, um ihr ein wenig Trost zu spenden.
Marius Nitzbon:
Aber kann man nicht auch so etwas programmieren? Ich befürchte, dass eine KI dazu ebenfalls bald in der Lage sein wird. Der einzige Unterschied bleibt die menschliche Intention. Für die Gefühlswelt eines Menschen können wir Empathie empfinden. Für den Algorithmus einer Maschine nicht.
MYP Magazine:
Der Mensch bleibt am Ende eben immer Mensch…
Marius Nitzbon:
Und er will Mensch! Gerade in einer Welt, die mehr und mehr von künstlichen Intelligenzen beherrscht wird. Der Mensch will einen anderen Menschen, der leibhaftig auf der Bühne steht, eine persönliche Message hat und dabei auch Fehler macht, immer und immer wieder. Das wird das nostalgic longing der Zukunft sein.
Mehr von und über Marius Nitzbon:
instagram.com/mariusnitzbon
mariusnitzbon.com
youtube.com/@MariusNitzbon
spotify.com
Interview & Text: Jonas Meyer
Fotografie: Maximilian König
instagram.com/studio.maximilian.koenig
maximilian-koenig.com
Sina Martens
Interview — Sina Martens
»In Resignation zu versinken ist nicht die Art, wie ich leben möchte«
Im Berliner Ensemble steht Schauspielerin Sina Martens seit zwei Jahren als Britney Spears auf der Bühne, für Amazon Prime hat sie nun die Rolle einer Rucksacktouristin übernommen, die entführt und in einen Kofferraum gesperrt wurde: zwei ungleiche Formate, zwischen denen es mehr Parallelen gibt, als man im ersten Moment vermuten würde. Ein Gespräch über männliche Gewalt, weiblichen Überlebenswillen und das Prinzip Hoffnung in Momenten, die absolut aussichtslos erscheinen.
24. Januar 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Steven Lüdtke
„Der permanente Wunsch von Künstler*innen, bekannt zu sein, sowie der ebenso permanente Wunsch ihrer Fans, wirklich alles über sie zu wissen, ist ein geradezu vulgäres Zeichen unserer Zeit“, schrieb der Kulturjournalist Douglas Greenwood vor Kurzem in einem Artikel für das „i-D Magazine“. Und in der Tat: Spätestens seit Social Media scheint nichts mehr zu privat oder zu intim, um es mit der ganzen Welt zu teilen – oder zumindest mit der eigenen Followerschaft. Wer nicht liefert, muss mit Liebesentzug rechnen.
Doch nicht alle, die im Showgeschäft tätig sind, hegen diesen Wunsch. Vor allem nicht, wenn sie am eigenen Leib erlebt haben, wie es ist, nicht mehr als menschliches Wesen wahrgenommen zu werden, sondern nur noch als Ereignis. Wie zum Beispiel Britney Spears.
Bereits im Kindesalter wurde die heute 42-Jährige von ihrer Mutter zu diversen Castings und Talentshows geschleppt, ihre Jugend opferte sie einer TV-Sendung namens „Mickey Mouse Club“, vor den Augen eines Millionenpublikums. Doch das eigentliche Unglück ereignete sich erst Ende der Neunziger – als ihr Debütalbum „… Baby One More Time“ auf Platz 1 der US-Billboard-Charts schoss und sie ein Star wurde. Von nun an war Britney Spears als Privatperson passé und ihr Leben vollzog sich unter der ständigen Beobachtung – und Beurteilung – der Weltöffentlichkeit.
Vor allem das Jahr 2007 brannte sich dabei ins kollektive Gedächtnis. Nach dem Scheitern zweier Ehen rasierte sich die Künstlerin, von der viele gehofft hatten, dass sie auf immer und ewig das laszive Schulmädchen mit den blonden Zöpfe bliebe, die schönen Haare ab. Außerdem begab sie sich in eine Reha-Klinik für Suchtkranke. Und ihrem Exmann wurde das alleinige Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder zugesprochen.
Spätestens nach diesem Jahr verfiel die Boulevard-Presse in Goldrausch. Angetrieben von einer schier unersättlichen Informationsgier der Weltöffentlichkeit, drehte sich das mediale Rad immer weiter – und wurde belohnt: Anfang 2008 wurde Britney Spears durch ein Gericht entmündigt und ihr Vater zum Vormund bestellt. Erst 13 Jahre später, nach einem fast biblischen Martyrium, wurde die Vormundschaft aufgehoben und Britney war wieder ein freier Mensch.
Doch wer ist dieser Mensch überhaupt?
Dieser Frage geht seit Januar 2022 das Theaterstück „It’s Britney, Bitch!“ am Berliner Ensemble nach. Entwickelt von Autorin Lena Brasch und Schauspielerin Sina Martens, wird dem Publikum hier eine Perspektive eröffnet, die so gar nichts mit dem Bild zu tun hat, das in der Presse – und damit in der Geschichte der Popkultur – über drei Jahrzehnte aufgebaut wurde. Es ist die Perspektive einer Frau, die nicht nur an ihrer Seele, sondern auch in ihrer Würde verletzt wurde. Und die nicht aufgegeben hat, sich zu behaupten – gegenüber der öffentlichen Meinung, den Gerichten und nicht zuletzt auch ihrer Familie.
Dargeboten wird das Solostück von Sina Martens, die auf der Bühne 75 Minuten lang nichts anderes tut, als diesem menschlichen Wesen namens Britney Spears ein kleines bisschen Würde zurückzugeben. Was für eine Leistung!
Die 35-Jährige, die in Leipzig Schauspiel studiert hat und seit der Spielzeit 2017/2018 Teil des Berliner Ensembles ist, liefert aber nicht nur auf der Theaterbühne ab. Seit vielen Jahren brilliert sie auch immer wieder vor der Kamera. Ab dem 26. Januar zum Beispiel ist sie in der Amazon-Produktion „Trunk – Locked In“ zu sehen, in der sie – ähnlich wie in „It’s Britney, Bitch!“ – fast 90 Minuten lang eine Solorolle übernimmt. In dem packenden Thriller verkörpert sie eine junge Rucksack-Touristin namens Malina, die entführt und in einem Kofferraum gesperrt wurde und nun versuchen muss, sich irgendwie aus dieser Misere zu befreien.
Wir treffen Sina Martens am Morgen nach einem Auftritt in der Kantine des Berliner Ensembles. Als wir das Gespräch beginnen, läuft im Hintergrund der Song „Rosa Luft“ von Das Paradies:
Du träumst nicht das, was wird
Du träumst nicht das, was war
Du träumst für uns
Von der Gegenwart
Besser hätte man die gestrige Vorstellung von „It’s Britney, Bitch!“ nicht zusammenfassen können.
»Das Thema Emanzipation ist keines, das ausschließlich der jungen Generation vorbehalten wäre.«
MYP Magazine:
Seit der Premiere Anfang 2022 hast Du auf der Bühne etliche Male den Popstar Britney Spears verkörpert. Welches Zwischenfazit ziehst Du nach knapp zwei Jahren „It’s Britney, Bitch“?
Sina Martens:
Schon als wir im Herbst 2021 mit den Proben begonnen haben, hatte ich die leise Hoffnung, dass es uns gelingen würde, mit unserer Geschichte den einen oder anderen Menschen zu berühren. Dabei meinte ich vor allem junge Frauen, immerhin geht es in dem Stück einerseits um eine schwierige Vater-Tochter-Beziehung und andererseits um den Umgang mit Frauen in der Öffentlichkeit. Aber bereits nach den ersten Vorstellungen wurde sichtbar, dass wir mit „It’s Britney, Bitch!“ ein Publikum über alle Geschlechter hinweg erreichen. Vor allem in der Eltern-Kind-Thematik finden sich auch viele Männer wieder. Und manche von ihnen hinterfragen sogar ihre eigene Position als Mann in der Gesellschaft, nachdem sie das Stück gesehen haben…
MYP Magazine:
… weil das Thema Emanzipation kein exklusiv weibliches ist?
Sina Martens:
Nicht nur das! Es ist auch keines, das ausschließlich der jungen Generation vorbehalten wäre. Klar, ich freue mich, dass vor allem junge und diverse Menschen in unser Stück kommen, immerhin ist das Publikum hier sonst eher ein älteres – und vor allem ein sehr weißes. Dennoch berührt es mich genauso sehr, wenn wir mit einem Theaterstück über Britney Spears auch die ältere Generation erreichen können. Erst gestern Abend hat mich nach der Vorstellung eine Dame um die 70 angesprochen, um mir zu sagen, wie wichtig sie es findet, dass wir auf der Bühne diese Themen behandeln.
»Es ist nach wie vor wichtig, diese besondere Geschichte zu erzählen.«
MYP Magazine:
Gibt es in Deinem Alltag – außerhalb des Theaters – Momente, in denen Du an den Mensch Britney Spears denken musst?
Sina Martens:
Die gibt es immer wieder. Zwar ist meine eigene Geschichte eine völlig andere als ihre, dennoch findet auch in mir eine ganz persönliche Auseinandersetzung mit diesen Themen statt. Da geht es mir nicht anders als den Menschen im Publikum. Ich denke da vor allem an das Ende des Stücks, wenn ich frage: „Wie soll man jemals lieben, wenn man so geliebt wurde?“ Hinter dieser Frage steht für mich eine grundsätzliche und universelle Auseinandersetzung mit dem eigenen Seelenleben, da ist Britney mir sehr nah.
Davon abgesehen muss ich an sie denken, wenn ich sehe, lese und erlebe, wie immer noch mit Frauen in der Öffentlichkeit umgegangen wird. Unser Stück bezieht sich zwar auf die Ereignisse von 2007 – und ein bisschen was hat sich seitdem auch verändert. Aber vieles auch nicht. Aus diesem Grund ist es nach wie vor wichtig, diese besondere Geschichte zu erzählen.
»Britney Spears war immer so etwas wie eine kollektive Erfahrung. Den Mensch dahinter hat so gut wie niemand gesehen.«
MYP Magazine:
In Eurem Stück geht es um die massenhaften Übergriffe auf das Leben, den Körper und die Seele eines einzelnen Menschen. Wie hast Du dir eine Figur erarbeitet, die in ihrem Leben ein so großes Maß an Unterdrückung erfahren hat? Eine Figur, die zwar entmündigt ist und handlungsunfähig scheint, aber gleichzeitig unermüdlich weiterarbeitet und riesige Konzerte spielt?
Sina Martens:
Für mich gab es hier zwei Ebenen der Erarbeitung. Auf der einen, der physischen, habe ich mich sehr intensiv mit Britneys Bühnenpräsenz und ihren Choreografien auseinandergesetzt. Sie ist nach wie vor eine fantastische Tänzerin und Sängerin, das hat mich ziemlich beeindruckt – und ich habe mit der Choreografin Brittany Young viele Stunden trainiert, um mir diesen besonderen Bewegungsstil anzueignen.
Daneben musste ich mir die Rolle aber auch emotional erarbeiten. Im Fall von Britney hieß das, sich mit der riesigen Einsamkeit einer Frau auseinanderzusetzen, von der fast alle glaubten, sie ganz genau zu kennen. Britney Spears war für die Leute immer so etwas wie eine kollektive Erfahrung. Den Mensch dahinter hat so gut wie niemand gesehen.
»Wir wollen uns mit dem Stück nicht anmaßen, diese Frau erklären zu wollen.«
MYP Magazine:
Zu Britney Spears schien um die Jahrtausendwende wirklich jede*r etwas zu sagen zu haben…
Sina Martens:
… und genau auf diesen Zug wollen wir nicht aufspringen! Wir wollen uns mit dem Stück nicht anmaßen, diese Frau erklären zu wollen. Wir können lediglich nach einzelnen Punkten in ihrer Biografie suchen, mit denen wir uns irgendwie verbinden können. Und das sind für uns die Themen Vater-Tochter-Beziehung, Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung und emotionale Vereinsamung.
MYP Magazine:
In den ersten Minuten des Stücks hältst Du eine Kaffeetasse mit folgender Aufschrift in die Luft: „Britney survived 2007. You can handle today.“ („Britney hat 2007 überlebt, also schaffst du diesen Tag.“) Und tatsächlich: Diesen massenhaften seelischen Missbrauch zu überleben, ist eine Leistung.
Sina Martens:
Das sehe ich ganz genauso. Für mich ist es auch interessant zu beobachten, dass einige Popstars, die nach Britney Spears groß geworden sind, ihrem privaten Ich erst mal eine Kunstfigur vorangestellt haben. Lady Gaga zum Beispiel. Wer weiß, vielleicht kann so eine Kunstfigur einen besseren Schutz vor dem bieten, was Britney erleiden musste. Die war leider immer „nur“ die echte Britney Spears und keine Kunstfigur, dadurch konnte die ganze Welt ungefiltert an ihrem Privatleben partizipieren. Schon als Kind arbeitete sie hart im „Mickey Mouse Club“ – und bereits da gab es keinen Schutzraum für sie.
»Was, wenn 2007 ein Akt der Emanzipation war?«
MYP Magazine:
Weißt Du, wie es ihr heute geht?
Sina Martens:
In unserem Ankündigungstext zur Premiere haben wir vor zwei Jahren gefragt: „Was, wenn 2007 ein Akt der Emanzipation war?“ Denn uns war aufgefallen, dass es bei der Berichterstattung aus jener Zeit kein einziges Medium gab, das Britneys Handeln als einen emanzipatorischen, selbstermächtigen Akt gedeutet hatte. Überall ging es nur um den körperlichen und physischen Untergang eines Weltstars. Doch wenn man bei den Bildern von damals genau hinschaut, zum Beispiel in der Doku „Framing Britney Spears“, sieht Britney weder fertig noch völlig durch aus. Ganz im Gegenteil: Sie wirkt rebellisch und stark – übrigens auch durch die kurzen Haare, wofür die Presse sie damals für verrückt erklärt hatte.
In ihren Memoiren, die erst vor wenigen Monaten erschienen sind, beschreibt Britney Spears, dass sie sich zu jener Zeit von alten Rollenbildern befreien wollte. Ich weiß zwar nicht, wie es ihr heute geht, aber für mich ist dieses Buch zum allerersten Mal so etwas wie ihre eigene Stimme. Und das macht Mut.
»Eines der wichtigsten Leitmotive im Leben ist die Frage: Wie wird man zu Ende geliebt?«
MYP Magazine:
An einer Stelle des Stücks zitierst Du Goethe: „Und wenn ich dich liebe, was geht es dich an?“ Welche Bedeutung hat diese Frage im Britney-Spears-Kontext?
Sina Martens:
Ich mag dieses Zitat wahnsinnig gerne. Eines der wichtigsten Leitmotive im Leben ist doch die Frage: Wie wird man zu Ende geliebt? Dabei geht es um die große Hoffnung, dass die Person, der wir unsere Liebe gestehen, mit einem „Ich liebe dich auch“ antwortet. Tut sie das nicht, sind wir tief verletzt. Aus diesem Grund machen wir unsere Liebe oft gar nicht erst sichtbar, weil die Angst vor einer Abweisung viel zu groß und mit einer enormen Scham verbunden ist.
Goethe löst diese Abhängigkeit auf und gibt uns unsere Autonomie zurück. Er sagt nichts anderes als: Es kann sein, dass ich dich liebe. Aber das ist meine Sache und geht dich nichts an. Ob ich dir davon erzähle oder nicht, ist ganz allein meine Entscheidung.
In Bezug auf unser Stück verstehe ich das Zitat in einem erweiterten Kontext. Aus Sicht von Britney Spears meint es: Ich habe mich wund geliebt an der Welt. Ich habe ihr immer gesagt, dass ich sie liebhabe, und nie kam echte, aufrichtige Liebe zurück. Mit jedem Mal tat das ein bisschen mehr weh. Und irgendwann habe ich entschieden, meine Liebe für mich zu behalten. Sie geht die Welt da draußen nichts mehr an.
»Statt mit Würde abzutreten, fällt Thomas Gottschalk nichts anderes ein, als weiter eine Debatte um Cancel Culture anzuheizen und sich dabei ganz seltsam zum Opfer zu stilisieren.«
MYP Magazine:
In Euer Theaterstück habt ihr auch einige Audio-Ausschnitte von Interviews eingebunden, in denen Britney Spears die übergriffigsten Fragen gestellt werden – etwa zu Brustimplantaten oder ihrer Jungfräulichkeit. Dabei gibt es auch einen Ausschnitt aus einer „Wetten, dass..?“-Sendung von 2002, in dem es um Britneys Beziehungsstatus geht. 21 Jahre später scheint hier die Welt immer noch die Gleiche zu sein: Ende November begleitete Moderator Thomas Gottschalk in seiner letzten Sendung die Sängerin Cher mit den Worten von der Bühne: „I can still take you by the hand, because nowadays you‘re really afraid to touch a girl.“ („Ich kann dich immer noch an die Hand nehmen – heutzutage muss man ja richtig Angst haben, ein Mädchen zu berühren.“) Was machen solche Momente mit Dir?
Sina Martens:
Das macht mich erst mal fassungslos. (schweigt für einen Moment) In unserem Stück gibt es eine Stelle, an der ich über Journalismus spreche. Ich sage: „Journalismus ist niemals langweilig, dafür aber wahnsinnig anstrengend, unterliegt strengen Regeln und man gewinnt nie einen Beliebtheitswettbewerb.“ In der Sonntagsvorstellung nach der „Wetten, dass..?“-Sendung habe ich an dieser Stelle einen kleinen Gruß an Thomas Gottschalk eingebaut. Ich finde es unglaublich, wie sich dieser Mann verhält. Der Spruch gegenüber Cher war ja nicht der einzige. Zu der Rapperin Shirin David sagte er, sie sehe ja gar nicht aus wie eine Feministin oder Opernliebhaberin. Das ist doch irre! Ich hatte in dem Moment das Gefühl, ein fiktionales Format zu sehen, aber das war im besten Sinne Realsatire…
MYP Magazine:
… in gewisser Weise strombergig.
Sina Martens:
Ja, tatsächlich. Das Ende der Sendung hat mich aber noch fassungsloser gemacht. Thomas Gottschalk kann ja denken und reden, was er will. Was aber nicht geht: wenn sich so jemand an Millionen von Menschen richtet und es dabei nicht schafft, einen versöhnlichen Ton zu treffen. Denn statt mit Würde abzutreten, fällt ihm nichts anderes ein, als weiter eine Debatte um Cancel Culture anzuheizen und sich dabei ganz seltsam zum Opfer zu stilisieren.
Warum hat er diese besondere Gelegenheit nicht anders genutzt? Er hätte doch genauso gut Größe zeigen können, indem er sagt: Lasst uns mal wieder miteinander ins Gespräch kommen. Wir müssen ja nicht alle das Gleiche denken, aber wir können doch wieder anfangen, sachlich miteinander zu debattieren und uns auszutauschen. Dass er da aber so dagegen geht und die gesellschaftliche Spaltung noch mehr befördert, will mir einfach nicht in den Kopf. Und auch nicht, dass jemand, der seit Jahrzehnten eine Sendung zur besten Primetime mit Millionenpublikum moderiert, sich gleichzeitig über ein vermeintliches Rede- oder Meinungsverbot auslässt. Einfach unfassbar.
»Vielleicht reagieren viele Männer auch deshalb wie bissige Hunde, weil sie nicht bereit sind, eine gewisse Vorherrschaft aufzugeben und sich dem Offensichtlichen zu stellen.«
MYP Magazine:
Dass sich ältere Männer reflexartig in eine Opferrolle begeben, sobald ihnen Kritik entgegenschlägt, ist immer wieder zu beobachten – zuletzt etwa bei Hubert Aiwanger im Zuge der sogenannten Flugblattaffäre. Wie erklärst Du dir dieses Verhalten?
Sina Martens:
Ich kenne diese Menschen nicht persönlich, daher empfände ich es als anmaßend, für deren Verhalten eine Erklärung zu präsentieren. Ich kann nur sagen, wie es auf mich wirkt. Und bei Leuten wie Gottschalk und Aiwanger kommt mir das wie eine tiefe Kränkung vor. Im Fall von Gottschalk macht es zudem den Eindruck, dass er unfähig ist zu akzeptieren, dass eine jüngere Generation nachkommt, die die Dinge etwas anders sieht. Und dass Frauen keine Lust mehr haben, in diesen patriarchalen Strukturen zu leben und sich permanent mit überholten Rollenbildern zuschütten zu lassen.
Vielleicht reagieren viele Männer auch deshalb wie bissige Hunde, weil sie nicht bereit sind, eine gewisse Vorherrschaft aufzugeben und sich dem Offensichtlichen zu stellen. Denn wenn ich mich vor allem als weißer Cis-Mann ernsthaft mit dem Patriarchat auseinandersetzen will, werde ich sehr schnell begreifen, dass ich selbst ein Teil des Problems bin – und dass ich in den letzten Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten allein deshalb die heftigsten Vorteile genossen habe, weil ich als Mann zur Welt gekommen bin. Wenn ich mich wirklich aufrichtig mit dem Thema beschäftige und zu dem Schluss komme, dass das alles ungerecht ist, werde ich feststellen, dass ich selbst deutliche Abstriche machen muss in meinem Leben. Denn nur dadurch kann ich das Leben für viele andere etwas besser und gerechter machen.
»Der Tonmann sagte mir, dass er es hören könne, wenn ich eine halbe Minute vor Dreh einer Szene sei – weil sich mein Herzschlag in dem Moment so heftig beschleunigt hat.«
MYP Magazine:
Ab dem 26. Januar bist Du im Film „Trunk – Locked In“ zu sehen. Dabei gibt es eine interessante Parallele zu Eurem Theaterstück: In beiden Fällen verkörperst Du in einer Solo-Rollo eine Frau, die Gewalt erfahren hat, dieser Gewalt über eine längere Zeit ausgesetzt ist und nun mit aller Kraft versucht, sich aus ihrem Gefängnis und einer scheinbar ausweglosen Situation zu befreien. Hattest Du ein Déjà-vue, als die Anfrage kam?
Sina Martens:
Ja, aber eher insofern, dass ich solche klaren Setzungen spannend finde. Und die Idee, einen Film nur in einem Kofferraum zu spielen, fand ich einfach unglaublich herausfordernd.
MYP Magazine:
Solche Filme mit starken Solo-Rollen gibt es verhältnismäßig selten. Man denkt zwar sofort and an „Cast Away“ mit Tom Hanks, „Der Marsianer“ mit Matt Damon, „Die Wand“ Martina Gedeck…
Sina Martens:
… oder „Buried“ mit Ryan Reynolds.
MYP Magazine:
Genau! Hier haben die Darsteller*innen aber immer sehr viel Raum zur Verfügung. In „Trunk“ spielst Du fast 90 Minuten lang im Liegen, und das in einem Kofferraum von knapp zwei Quadratmetern Fläche. Wie hast Du dich auf diese Rolle vorbereitet?
Sina Martens:
Ähnlich wie für „It’s Britney, Bitch!“: Einerseits musste ich körperlich fit sein, da ich in der Rolle sehr viel Kraft aufwenden musste. Andererseits habe ich auf viel mentales Training gesetzt, vor allem auf Meditation. Bei meiner Figur Malina ging es immer wieder darum, aus stressigen Situationen schnell in die Ruhe zu kommen und mich genauso schnell aus dieser Ruhe wieder hochzupushen. Das ist mir irgendwann so gut gelungen, dass mir der Tonmann sagte, dass er es hören könne, wenn ich eine halbe Minute vor Dreh einer Szene sei – weil sich mein Herzschlag in dem Moment so heftig beschleunigt hat.
»Uns war es wichtig, dass Malinas Stimmung am Ende kein Brei aus Todesangst wird.«
MYP Magazine:
Da der Film fast ausschließlich in einem Kofferraum spielt, muss er sich gehörig ins Zeug legen, um das Publikum 90 Minuten bei der Stange zu halten – ein besonderer Anspruch an Cast, Regie und Kamera. Wie habt Ihr euch dieser gemeinsamen Aufgabe genähert?
Sina Martens:
Regisseur Marc Schießer und mir war es wichtig, dass Malinas Stimmung am Ende kein Brei aus Todesangst wird, sondern die einzelnen emotionalen Stufen sichtbar werden, die sie durchlebt. Aus diesem Grund hatten wir vor den Dreharbeiten eine Art Psychogramm von ihr entwickelt und uns gefragt: In welchen Momenten ist sie hoffnungsvoll? Wo ist sie lethargisch? Wo wird sie wütend? Wo ist sie verzweifelt? Die Antworten darauf haben wir uns dann gemeinsam im Drehbuch erarbeitet und die entsprechenden Szenen an den jeweiligen Drehtagen auch ausführlich geprobt.
»Diese Sequenz war am Ende ein großes Ballett des ganzen Teams.«
MYP Magazine:
Und wie blickst Du auf die Zusammenarbeit mit Tobias Lohf und Daniel Ernst, die für die Kamera verantwortlich waren?
Sina Martens:
Die war genauso intensiv! Es gibt im Film zum Beispiel eine Sequenz, in der ich zehn Minuten am Stück im Kofferraum zu sehen bin und die Kamera immer wieder um mich herumfährt. Bei der Produktion standen uns drei oder vier verschiedene Kofferräume zur Verfügung, in dem wir die einzelnen Szenen gedreht haben. Einer war so präpariert, dass man jede Seite einzeln herausnehmen konnte, damit die Kamera von dort aus filmen konnte. Hat sich die Kamera aber bewegt, musste das Team nacheinander die einzelnen Seitenteile herausziehen oder zurückstecken – je nachdem, von wo und in welche Richtung gerade gefilmt wurde. Ich selbst musste dabei immer darauf achten, dass ich die Kamera, die ja permanent ihre Position verändert hat, nicht aus den Augen verliere. So war diese Sequenz am Ende ein großes Ballett des ganzen Teams.
»In existenziellen Notsituationen kommt man scheinbar an einen Punkt, an dem man einfach nur noch funktioniert und über sich hinauswächst.«
MYP Magazine:
Trotz ihrer entsetzlichen Situation gelingt es Malina, halbwegs ruhig, reflektiert und klar zu bleiben. War das emotionales Neuland für Dich? Oder konntest Du auf Erfahrungen aus eigenen Notsituationen zurückgreifen?
Sina Martens:
Nein, solche Extremsituationen gab es noch nicht in meinem Leben. Daher habe ich mich umso intensiver damit auseinandergesetzt, wie man einen so unbedingten Überlebenswillen entwickeln und schauspielerisch darstellen kann. Denn das will Malina ja am meisten: leben. Ich glaube, so ein Überlebenswille setzt in Menschen ungeahnte Kräfte frei. Es gibt die unglaublichsten Geschichten von Leuten, die irgendwie riesige Unglücke und Katastrophen überlebt haben. In existenziellen Notsituationen kommt man scheinbar an einen Punkt, an dem man einfach nur noch funktioniert und über sich hinauswächst. Über diesen Gedanken habe ich versucht, Malina möglichst nahezukommen.
»Es macht einfach etwas mit dem Körper und dem Geist, wenn man neun bis zehn Stunden pro Tag in so einem engen Kasten herumliegt.«
MYP Magazine:
In „Trunk“ geht es auch darum, dass sich ein sorgloses Leben innerhalb von Sekunden ändern kann und man plötzlich um sein Leben kämpfen muss. Gehst Du seit der Arbeit an dem Film anders durch den Alltag? Bist Du misstrauischer geworden?
Sina Martens:
Eigentlich nicht. Ich kann so etwas recht gut hinter mir lassen, das gehört schließlich zu meinem Beruf – auch wenn es bei diesem Film tatsächlich etwas länger gedauert hat. Immerhin habe ich während der Dreharbeiten sehr viel Zeit in diesem Kofferraum verbracht. Es macht einfach etwas mit dem Körper und dem Geist, wenn man neun bis zehn Stunden pro Tag in so einem engen Kasten herumliegt. Daher habe ich in den Wochen danach auch einige Osteopathie-Behandlungen gebraucht, um den einen oder anderen verkürzten Muskel wieder in die Länge zu ziehen. Außerdem habe ich bei Fahrstühlen gedacht, ich nehme lieber mal die Treppe – ich hätte jetzt absolut keine Lust, darin steckenzubleiben. (lacht)
»Für mich ist Gewalt im Film vor allem dann problematisch, wenn sie entweder inflationär stattfindet oder in einem eher unbedeutenden Nebenstrang erzählt wird.«
MYP Magazine:
Laut einer Studie kommt in rund einem Drittel der Sendungen, die in Deutschland ausgestrahlt werden, geschlechtsspezifische Gewalt vor. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um explizite und schwere Gewalt gegen Frauen und Kinder – und nur in seltenen Fällen lässt man in den jeweiligen Sendungen die von Gewalt Betroffenen selbst zu Wort kommen. Wie ordnest Du euren Film in diesem Zusammenhang ein? Hattest Du im Vorfeld Sorge, mit Deinem Mitwirken an „Trunk“ diesen Umstand noch zu befördern?
Sina Martens: (überlegt kurz)
Für mich ist Gewalt im Film vor allem dann problematisch, wenn sie entweder inflationär stattfindet oder in einem eher unbedeutenden Nebenstrang erzählt wird – zum Beispiel, wenn irgendwo eine Frau entführt oder geschlagen wird und es am Ende doch nur um die männliche Hauptfigur geht. Daher hat mich übrigens auch Maria Schrader mit ihrem Film „She Said“ total beeindruckt. Sie verzichtet in ihrer Inszenierung komplett darauf, die Übergriffe zu zeigen, außerdem rückt die Kamera den Frauen nicht auf die Pelle. Das finde ich unglaublich interessant – und ist für mich eine ganz klare Setzung.
In unserem Film ist die Setzung genauso klar: Der Fokus liegt eindeutig auf einer starken Frauenfigur, die wir dabei verfolgen, auf engstem Raum zurechtzukommen und sich aktiv aus ihrem Gefängnis freizukämpfen. Das Drehbuch hat mich interessiert, weil sich hier eine starke Frau befreit; weil eine starke Frau hier Verantwortung übernimmt; weil diese starke Frau so viel mehr ist und macht als alle anderen in dem Film, die im Gegensatz zu ihr nicht in einem Kofferraum eingesperrt sind. Für mich ist das alles andere als eine Opfergeschichte. Es ist vielmehr die emanzipatorische Geschichte einer Frauenfigur, die sich gleich auf drei Ebenen befreien muss.
MYP Magazine:
Und welche Ebenen sind das?
Sina Martens: (grinst)
Das werde ich jetzt nicht spoilern! Wer das herausfinden will, muss sich den Film anschauen.
»Ich kann total verstehen, wenn eine Frau keine Lust mehr hat, Aufklärungsarbeit zu leisten.«
MYP Magazine:
Gewalt gegen Frauen ist – egal wo auf der Welt – in 99,9 Prozent der Fälle männliche Gewalt gegen Frauen. Und das wird sich nicht ändern, wenn sich nicht auf Seite der Männer etwas fundamental ändert. Die Autorin und Aktivistin Kristina Lunz sagte vor einigen Wochen in einer Gesprächsrunde zum Internationalen Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen, sie habe den Versuch aufgegeben, irgendwelche Männer zu überzeugen. Bist Du an einem ähnlichen Punkt angelangt? Oder gibt es eine Botschaft, die Du diesbezüglich an Männer hast?
Sina Martens:
Ich kann total verstehen, wenn eine Frau keine Lust mehr hat, Aufklärungsarbeit zu leisten. Ich selbst bin aber noch nicht an diesem Punkt. Ich habe noch nicht aufgegeben, Männern unsere Perspektive zu erklären, und gehe immer wieder gerne in Diskussionen, in denen ich sage: Stopp mal! Aber habe ich eine konkrete Botschaft, die ich Männern mitgeben möchte? (überlegt einen Moment)
Ich würde Männer ermutigen, uns Fragen zu stellen: Fragt uns, wie sich etwas anfühlt oder wie etwas ist!
»Mit der Schauspielerei habe ich tatsächlich mehr gefunden als das, wonach ich nach dem Abi gesucht hatte.«
MYP Magazine:
Du wolltest nach dem Abitur eigentlich Psychologie studieren, bist dann aber Schauspielerin geworden. Ist die Aufgabe am Ende nicht eh dieselbe? Menschen in ihrem Innersten zu verstehen und zu versuchen, ihnen mit dem eigenen Wirken zu helfen?
Sina Martens:
Mit der Schauspielerei habe ich tatsächlich mehr gefunden als das, wonach ich nach dem Abi gesucht hatte, denn in meinem Beruf gibt es ja noch diesen schönen Zusatz der Kunst. Ich habe hier nicht nur die Möglichkeit, Figuren zu verstehen – oder besser gesagt: mich auf die Suche danach zu machen, sie verstehen zu wollen. Sondern auch, einen künstlerischen Umgang mit dieser Suche zu finden und im besten Fall andere Menschen damit zu erreichen, zu berühren und sie zum Nachdenken zu bringen.
»Das Berliner Ensemble ist ein Ort, an dem schon viel gedacht, versucht und gescheitert wurde.«
MYP Magazine:
Seit mittlerweile sechs Jahren bist Du ein Teil des Berliner Ensemble. Was bedeutet Dir dieser Ort hier?
Sina Martens: (lacht)
Dieser Ort hier? Da muss ich an einen Satz von Wolfram Lotz denken, einem deutschen Dramatiker: „Das Theater ist ein Ort.“
Für mich persönlich ist Theater ein sehr wichtiger Ort – und das Berliner Ensemble ist unter all den Theatern ein ganz besonders wichtiger Ort für mich. Ich würde ihn zwar nicht als mein Zuhause bezeichnen, das Wort wäre mir an der Stelle zu groß, aber dennoch hat mich dieses Haus ungemein geprägt. Ich durfte hier nicht nur sehr viel lernen, sondern habe hier auch etliche Menschen getroffen, die heute einen wichtigen Teil meines Lebens ausmachen.
Und zu all dem kommt ja noch das kleine Detail, dass das hier das Brecht-Theater ist – also ein Ort, an dem schon viel gedacht, versucht und gescheitert wurde; und an dem man in so einer Art Tradition steht, fleißig weiter zu denken, weiter zu versuchen und weiter zu scheitern.
»Ich möchte mit großer Hoffnung leben, auch wenn es oft Momente gibt, in denen ich denke, dass der Mensch hoffnungslos verloren ist.«
MYP Magazine:
Ich komme zum Schluss noch mal auf „It’s Britney, Bitch!“ zurück. An einer Stelle zitiert Ihr den Refrain des Lieds „Der letzte Song“ von Felix Kummer und Fred Rabe, der sich zwischen Hoffnung und Resignation bewegt:
Alles wird gut / Die Menschen sind schlecht und die Welt ist am Arsch
Aber alles wird gut / Das System ist defekt, die Gesellschaft versagt
Aber alles wird gut / Dein Leben liegt in Scherben und das Haus steht in Flammen
Aber alles wird gut / Fühlt sich nicht danach an, aber alles wird gut
Wie blickst Du selbst auf die Zukunft. Bist Du eher resignativ oder hoffnungsvoll?
Sina Martens:
In mir steckt definitiv mehr Hoffnung als Resignation, auch weil Hoffnung für mich ein Antrieb ist. Natürlich habe auch ich große Sorgen, wenn ich an die Zukunft unserer Gesellschaft und unserer Welt denke. Aber in Resignation zu versinken ist nicht die Art, wie ich leben möchte. Ich möchte mit großer Hoffnung leben, auch wenn es oft Momente gibt, in denen ich denke, dass der Mensch hoffnungslos verloren ist. Das ändert aber nichts daran, dass ich weiter an bestimmte Werte glaube. Ich glaube an die Liebe, ich glaube an die Freundschaft, ich glaube an den Dialog, ich glaube an die Verantwortung. Was kann mir mehr Hoffnung geben?
»It’s Britney, Bitch!« ist aktuell zu sehen im Berliner Ensemble.
»Trunk – Locked In« startet am 26. Januar auf Amazon Prime Video.
Mehr über Sina Martens:
Interview und Text: Jonas Meyer
Fotografie: Steven Lüdtke
Milos Miskovic
Interview — Milos Miskovic
»Es ist keine langfristige Lösung, seine Gefühle zu verstecken«
Er gilt als der Udo Walz von Budapest: Milos Miskovic wuchs als schwuler Junge in Serbien auf, überlebte den Balkankrieg und avancierte in Ungarn zu einem berühmten Damenfriseur. Eine beeindruckende Biografie aus einer Generation, die bei uns in Westeuropa gleich mehrfach um Sichtbarkeit ringt.
8. Januar 2024 — Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: David Ajkai
Mitte der Achtziger im serbischen Dorf Ostojićevo. Wenige Tage vor einem Handballturnier wird Teenager Milos Miskovic von seinem Trainer aufgefordert, sich einen anständigen Haarschnitt zuzulegen. Also schaut er im einzigen Friseurladen der kleinen Gemeinde vorbei und verhandelt: Wenn er Friseurmeisterin Éva bei der Arbeit zur Hand geht, erhält er einen Last-Minute-Termin für sein wildes Haupthaar.
Als Milos aus nächster Nähe erlebt, wie Éva ihre Kund*innen verwandelt, findet er prompt seine Berufung – und verärgert ebenso prompt seine Eltern. Denn die sind ganz und gar nicht erfreut, dass der Filius plötzlich Damenfriseur werden will. Und nicht Anwalt, wie ursprünglich geplant und erhofft. Denn in einem serbischen Dorf wie Ostojićevo gilt es für einen Mann damals als peinlich, diesen Beruf auszuüben. Doch Milos setzt sich durch und eröffnet 1989, da ist er gerade mal 17 Jahre alt, seinen ersten Salon im Erdgeschoss des Elternhauses.
Heute, gut drei Dekaden später, lebt er in Ungarn und ist einer der bekanntesten Hair-Stylisten des Landes. Manche seiner Kundinnen fliegen sogar aus ganz Europa ein, einige kommen von noch weiter. Sein exklusives Studio, das den Namen „MMhair“ trägt, liegt im Zentrum Budapests und ist nur wenige Gehminuten von der berühmten St.-Stephans-Basilika entfernt. Eine edle Adresse. Dennoch ist Milos Miskovic in all den Jahren ein bodenständiger Handwerker der Schönheit geblieben: ein kerniger Typ, dessen Gestik wie eine einzige Umarmung an die Welt anmutet.
Seine große Empathie ist dabei auch ein Resultat seiner ganz eigenen Geschichte, die er in seiner kürzlich erschienenen Biografie niedergeschrieben hat. „Fear of myself“ erzählt von einem jungen, schwulen Mann in Jugoslawien und im späteren Serbien, der im politischen Chaos der neunziger Jahre in eine ungewöhnliche Karriere stürzt. Eine Karriere, die ihm hilft, der großen Einsamkeit zu entkommen, die mit dem Anderssein einhergeht.
In dem Buch erzählt Milos auch, wie der Umgang mit dem Tod seines Vaters und die Krankheit seiner Mutter ihren Tribut forderten. Aber er beschreibt auch, wie er bei einem Urlaub in Spanien seine erste Begegnung mit der Liebe machte: Es ist nur eine flüchtige Romanze, die ihm aber die Tür zu einer Welt öffnet, von der er wusste, dass er zu ihr gehört – obwohl er sie nie zuvor betreten hatte.
Milos, der heute mit seinem langjährigen Partner Simon zusammenlebt, schafft mit seinem Buch ein wichtiges Dokument queeren Lebens in Mittel- und Osteuropa und zeichnet darin Lebenswege einer LGBTQIA*-Generation nach, die bisher kaum sichtbar war. Eine Generation, die schon wieder in großer Sorge lebt angesichts des politischen Rechtsrucks vieler europäischer Staaten – und die, uns alle mahnend, den Zeigefinger hebt.
»Wenn jemand mit einem bestimmten Stil auftrat, fiel er sofort auf.«
MYP Magazine:
Nimm uns mit auf eine Zeitreise: Wie fühlte sich in Deiner Jugend das Leben in Jugoslawien an – einem Staat, den es heute nicht mehr gibt?
Milos Miskovic:
Die Region Vojvodina, in der ich aufgewachsen bin, lag damals im landwirtschaftlichen Teil Jugoslawiens, nahe der ungarischen und rumänischen Grenze. Die Bevölkerung war multikulturell: Serben, Ungarn, Tschechen, Polen und andere. Fast jede Familie besaß ein Stück Land. Fast alle Häuser hatten das gleiche Format – mit einem kleinen Garten neben dem Haus und dahinter ein oder zwei größere Flächen, um Hühner und andere Kleintiere zu halten, sowie einen Gemüsegarten. Jede Familie besaß Obstbäume: Pflaumen, Aprikosen, Äpfel und Birnen. Nut etwa 30 Prozent der Frauen arbeiteten, meistens in Fabriken, die anderen waren Hausfrauen. Modische Kleidung war keine Priorität. Wenn jemand mit einem bestimmten Stil auftrat, fiel er sofort auf. Nur einige hochgebildete Leute sowie ein paar Teenager tanzten modisch aus der Reihe.
»Gleichheit und Brüderlichkeit waren das Motto in Jugoslawien – dennoch waren wir nicht gleichgestellt.«
MYP Magazine:
Welche Erinnerungen hast Du allgemein an die späten Achtziger im heutigen Serbien?
Milos Miskovic:
Die achtziger Jahre waren echt schön. Jugoslawien war zu dieser Zeit ein reiches Land. Die Menschen hatten normale Gehälter und konnten von dem, was sie verdienten, etwas sparen. Auf dem Land produzierten wir alles zu Hause, so dass unsere Gemeinde ein schönes Leben und genug Geld für einen komfortablen Lebensstil hatten. Gleichheit und Brüderlichkeit waren das Motto in Jugoslawien – dennoch waren wir nicht gleichgestellt mit anderen Familien, denen es besser ging. Und so wurde mir klar, dass ich mich anstrengen muss, um etwas aus meinem Leben zu machen. In der Schule hatte ich manchmal Probleme, weil es in meiner Familie orthodoxe Priester gab. Andererseits: Das Bildungssystem war sehr gut und bot viele Möglichkeiten für kluge Kinder, unabhängig von ihrem familiären Hintergrund.
MYP Magazine:
„Ich hoffe, dass er aus diesem Wahnsinn herauswächst“, zitierst Du deinen Vater und seine Sicht auf Deinen Berufswunsch. War das eher seine persönliche Meinung? Oder spiegelt der Satz eher die generelle kulturelle Sichtweise auf Männlichkeit zu dieser Zeit wider?
Milos Miskovic:
Ich denke, das war beides gleichermaßen. Ich war ein ungewöhnliches Kind: sehr kultiviert, sensibel, aber auch schlau. Mein Vater sagte mir, dass ich meine guten Noten im Gymnasium beibehalten müsse, sonst würde er mir nicht erlauben, in einem Haarstudio zu lernen. Meine Noten waren immer sehr gut, also konnte er sich nicht beschweren.
»Mein Highlight war es zu versuchen, bis zum nächsten Tag zu überleben.«
MYP Magazine:
Bereits 1989 hast Du deinen ersten Salon eröffnen – das hatte auch mit einer Inflation von unglaublichen 2.700 Prozent zu tun. Was ist da passiert?
Milos Miskovic:
Zu dieser Zeit dachte niemand daran, dass es in Jugoslawien eine Hyperinflation geben würde. Für mich war das ein echtes Glück, denn ich nahm davor einen Kredit bei der Bank in Dinar auf – und als die Hyperinflation einsetzte, wurde die monatliche Rate zu einem Witz. So konnte ich den Kredit ganz einfach zurückzahlen.
MYP Magazine:
In den folgenden Jahren hast Du unter anderem in einem renommierten Spa in Belgrad gearbeitet und bist gelegentlich nach London oder nach Paris gefahren, zum ersten Mal im Jahr 1997. Dennoch schreibst Du in Deinem Buch: „Nach meinem Arbeitstag ging ich zurück in meinen goldenen Käfig. Allein, um mich auszuruhen und Energie und Kraft für einen neuen Tag zu sammeln.“ Du warst damals ein junger Mann. Wie war das mit dem Ausgehen und Daten in dieser Phase Deines Lebens?
Milos Miskovic:
Ich habe zu jener Zeit auch eine Weile im Friseursalon eines Rehabilitations-Zentrums in Kanjiza gearbeitet, in der Nähe meiner Heimatstadt. Ich konnte nicht daten, weil ich wusste, dass ich schwul bin. Und wenn man mich in einer Stadt oder sogar weiter weg mit einem Mann gesehen hätte, hätten es alle herausgefunden. Also ging ich nach der Arbeit nach Hause. Mein Highlight war es, ein schönes Abendessen zu kochen und zu versuchen, bis zum nächsten Tag zu überleben. In dieser Zeit fühlte ich mich nur im Studio gut aufgehoben.
»Wir wussten nicht, wo die Bomben als nächstes fallen.«
MYP Magazine:
1999 begann die Bombardierung Deiner Heimat. Wie erinnerst Du dich an den Krieg?
Milos Miskovic:
Ich hätte nie gedacht, dass unser Land bombardiert werden würde. Für mich war das irgendwie absurd: Das ganze Volk sollte wegen der Entscheidung der Regierung bestraft werden. Zu diesem Zeitpunkt war das Land bereits von Milošević übernommen worden und die Bevölkerung hatte so gut wie keine Kontrolle über das, was die Regierung tat. Es war eine schreckliche Zeit. Wir alle hatten Angst, denn wir wussten nicht, was morgen passieren wird – und wo die Bomben als nächstes fallen.
MYP Magazine:
Wenn du heute über Kriege in der Ukraine oder im Nahen Osten liest: Hast Du einen besonderen Bezug zu den Betroffenen?
Milos Miskovic:
Wenn ich heute etwas über einen Krieg lese, tun mir die Opfer wirklich leid. Die Menschen, die keinen Krieg erlebt haben, können nicht verstehen, was für ein Druck das ist – und was für eine furchtbare Erfahrung. Sie können es sich einfach nicht vorstellen.
»Er brauchte seine Freiheit – aber ich brauchte jemanden wie ihn, der mich in das schwule Leben einführte.«
MYP Magazine:
„In dem Moment, in dem ich den Garten betrat, sah ich einen atemberaubend schönen jungen Mann an einem Pool liegen. Ein Blick auf seinen perfekten Körper ließ meinen Magen verkrampfen. Ich schaute schnell weg.“ Im Jahr 2000 hast Du auf Ibiza einen besonderen Mann kennen gelernt. Er hat Dir die Frage gestellt: „Bist du schwul?“ War das das erste Mal in Deinem Leben, dass Dich jemand nach Deiner Sexualität hat?
Milos Miskovic:
Ja, das allererste Mal. Ich war schockiert, dass er den Mut hatte, mich so etwas zu fragen. Gleichzeitig war ich auch von seiner enormen Schönheit schockiert – eine doppelte Verwirrung.
MYP Magazine:
Wie hast Du reagiert?
Milos Miskovic:
Ich habe erkannt, dass er tief im schwulen Lifestyle steckte. Außerdem war er in einer Lebensphase, in der er sich fragte: „Wo will ich hin und was will ich vom Leben?“ Und ich war da, um ihm zuzuhören. Ich hatte damals keine Ahnung von schwulen Communitys. Er leitete mich und versuchte, mich über alles aufzuklären, worauf ich achten musste. Wir beide waren zwei starke Menschen, die sich zur richtigen Zeit gefunden hatten. Dennoch wusste ich früh, dass er nicht in der Lage war, einer Person gegenüber loyal zu sein. Er brauchte seine Freiheit – aber ich brauchte jemanden wie ihn, der mich in das schwule Leben einführte.
»Wenn man seinen Beruf ernst nimmt, kann man nicht jeden Monat den Partner wechseln, das ist nicht seriös.«
MYP Magazine:
Dein Coming-out-Prozess hat sich über mehrere Jahre hingezogen. Wie hat Budapest Dein Leben als schwuler Mann verändert?
Milos Miskovic:
Das Beste war, dass ich dort frei war. Dennoch wurde mir schnell klar, dass die jungen Männer in Budapest keine ernsthafte Beziehung wollen und eher auf Sex aus sind – aber ich wollte unbedingt etwas Festes. Es war nicht leicht, jemanden zu finden, der es ernst meint mit mir; jemanden, der mich versteht und mit dem ich mein Leben gestalten will. Ich fing an zu erkennen, welche Art von Person die richtige für mich ist, und habe mich auf die Suche nach einem Partner gemacht…
MYP Magazine:
… und hast schließlich das Glück gefunden. Mit Deinem Partner Simon bist Du seit mittlerweile 17 Jahren liiert. Wie hat die ungarische Gesellschaft in den fast zwei Jahrzehnten auf Eure öffentlichen Auftritte reagiert?
Milos Miskovic:
Für mich ist es sehr wichtig, dass ich eine stabile Beziehung habe. Wenn man seinen Beruf ernst nimmt, kann man nicht jeden Monat den Partner wechseln, das ist nicht seriös. Die Gesellschaft in Serbien und auch in Ungarn betrachtet uns als normales, erfolgreiches Paar, das sich liebt. Als wir in Serbien das erste Mal zusammen gesehen wurden, wurden dort garantiert ein paar Augenbrauen hochgezogen. Aber da ich schon damals recht berühmt war und einige Leute meine Sexualität sicherlich schon länger in Frage gestellt hatten, war es keine große Überraschung, als ich eines Tages mit einem Mann aufgetaucht bin. Und dass wir von Menschen mit einer gewissen gesellschaftlichen Bedeutung akzeptiert wurden, die uns als Paar zu Partys und Hochzeiten einluden, hat uns ebenfalls den Weg geebnet.
»Es ist sehr besorgniserregend, welche repressiven Maßnahmen aktuell in Ungarn gegen die Queer- und Transgender-Community ergriffen werden.«
MYP Magazine:
Heute ist das queere Leben in Ungarn wieder bedroht: Was beunruhigt Dich, wenn Du auf die junge Generation blickst?
Milos Miskovic:
Man muss verstehen, dass Budapest mehr oder weniger eine Bubble ist und man das schwule Leben hier nicht mit dem im Rest des Landes vergleichen kann. Gleichzeitig ist es sehr besorgniserregend, welche repressiven Maßnahmen aktuell in Ungarn gegen die Queer- und Transgender-Community ergriffen werden – Maßnahmen, von denen wir alle wissen, dass sie aus rein politischen Gründen erfolgen. Das ist absolut nicht gut für das Selbstwertgefühl sowie das Selbstvertrauen junger queerer Menschen.
»Mein Leben wäre weniger einsam gewesen, wenn ich in der Lage gewesen wäre, mit einigen ausgewählten Vertrauten etwas offener zu sein.«
MYP Magazine:
Vor allem älteren Queers wird immer wieder folgende Frage gestellt: „Was würdest du deinem jüngeren Ich mit auf den Weg geben, wenn du es heute treffen würdest?“ Was würdest Du deinem sagen?
Milos Miskovic:
Meinem jüngeren Ich würde ich raten, Gruppen und Orte aufzusuchen, an denen sich aufgeschlossenere Menschen versammeln – einfach, um ein soziales Sicherheitsnetz um sich herum aufzubauen. Außerdem würde ich ihm sagen, dass es keine langfristige Lösung ist, seine Gefühle zu verstecken und zu unterdrücken. Die Rechnung kommt immer am Ende. Und ich würde meinem jüngeren Ich empfehlen, vor allem seinen engsten Freunden mehr zu vertrauen und mit ihnen offen über seine Gefühle zu sprechen. So sehr wir alle versuchen, unsere wahre Natur zu verbergen, am Ende kommt sie doch zum Vorschein.
Das Interessante dabei ist, dass es den meisten intelligenten und emotional entwickelten Menschen egal ist, wer wie fühlt und wer wen liebt. Ich selbst durfte das leider erst relativ spät lernen. Ich bin ziemlich sicher: Mein Leben wäre einfacher und weniger einsam gewesen, wenn ich in der Lage gewesen wäre, mit einigen ausgewählten Vertrauten etwas offener zu sein.
Mehr von und über Milos Miskovic:
Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß
Fotografie: David Ajkai
Romain Berger
Fotoserie — Romain Berger
Für Frankreich zu vulgär
Mit seinen Bildern feiert der queere Fotograf Romain Berger seit Jahren ein rauschendes Fest der Farben, Körper und Begierden: eine Freizügigkeit, die immer wieder mal mit den Moralvorstellungen von Instagram & Co. kollidiert – und die ihm auch in der analogen Welt das Leben schwer macht, zumindest in seiner Heimat. Denn den meisten französischen Galerien sind seine Arbeiten zu vulgär. »Une opportunité ratée«, wie wir finden – eine verpasste Chance.
21. Dezember 2023 — Fotografie: Romain Berger, Text: Jonas Meyer
»Dass Künstler*innen wie ich auf Instagram gesperrt werden, ist für mich schon lange nichts Neues mehr.«
„Dass Künstler*innen wie ich auf Instagram gesperrt oder einzelne Inhalte gelöscht werden, ist für mich schon lange nichts Neues mehr“, erzählt Romain Berger, als er sich nach knapp drei Jahren wieder mit einer Fotostrecke an uns wendet. Der queere Fotograf aus Rennes, der Ende der Achtziger im ländlich-konservativen Nordwesten Frankreichs geboren wurde und auch dort aufgewachsen ist – ganz ähnlich übrigens wie der berühmte Schriftsteller Édouard Louis („Das Ende von Eddy“) – beschrieb bereits im März 2021 im Rahmen einer Veröffentlichung einiger seiner Arbeiten in unserem Magazin, mit welchen seltsamen Moralvorstellungen er es immer wieder auf Social-Media-Plattformen zu tun hat.
Damals schrieben wir: Die Community-Politik von Facebook ist etwas, über das sich leidenschaftlich streiten lässt. Während auf den einzelnen Plattformen des US-Konzerns immer noch Autokraten und ihre radikalisierte Gefolgschaft fast ungehemmt ihre menschenfeindlichen Botschaften in alle Welt verbreiten dürfen, während Verunglimpfungen und Shitstorms wie die Axt im Walde wüten, während Falschnachrichten mehr schlecht als recht bekämpft und demokratische Systeme sukzessiv unterwandert werden, tut sich an ganz anderer Stelle ein bizarres Verständnis von Moral auf: bei der Abbildung des menschlichen Körpers.
»Wenn sexuell aufgeladener Content aus der heteronormativen Ecke kommt, scheint Instagram damit viel weniger ein Problem zu haben.«
Zum Verhängnis wurde Romain damals (wie heute) immer wieder die Darstellung von zu viel Schambehaarung in seinen Bildern. Man könnte laut loslachen, wenn es nicht so traurig und absurd wäre.
Die kürzlich aktualisierten Nutzungsbedingungen des Meta-Konzerns hätten die Situation für ihn dabei nur noch verschärft, erzählt der 35-Jährige: „Für queere Künstler*innen wie mich wird es auf Instagram immer schwieriger, unsere Inhalte sichtbar zu machen und dafür Reichweite zu generieren. Wenn sexuell aufgeladener Content dagegen aus der heteronormativen Ecke kommt, scheint die Plattform damit viel weniger ein Problem zu haben.“
Immer wieder müsse er erleben, wie er dem sogenannten shadow banning zum Opfer falle: dem Sperren von spezifischen Inhalten, über das die betroffenen User*innen aber nicht informiert werden. Stattdessen verhindert das soziale Netzwerk einfach, dass andere User*innen die Inhalte zu sehen bekommen.
»Die französischen Galerien erachten meine Arbeiten als zu vulgär für eine Ausstellung.«
Doch mit dieser Quasi-Zensur hat Romain nicht nur in der digitalen Welt zu kämpfen, sondern auch in der analogen – vor allem in seiner Heimat.
„Während es im Ausland verhältnismäßig leicht ist, Galerien für meine Bilder zu finden, ist das hier in Frankreich immer noch ein großes Problem“, schildert er seine Situation. „Die französischen Galerien erachten meine Arbeiten als zu vulgär für eine Ausstellung. Die einzige Galerie, die sich dazu mal mit viel Optimismus bereiterklärt hatte, musste am Ende resigniert feststellen, dass auch ihr es nicht möglich war, die Köpfe und Herzen der Menschen zu öffnen.“
Chez nous, tu seras toujours accueilli à bras ouverts, cher Romain!
Fotografie: Romain Berger
Text: Jonas Meyer
Christian Ruess
Interview — Christian Ruess
»Ich akzeptiere den Status quo nicht«
Mit seiner Plattform »Container Love« kämpft Christian Ruess seit 2013 für mehr Akzeptanz und Sichtbarkeit queeren Lebens. Zum zehnjährigen Jubiläum treffen wir den Creative Director in seinem Berliner Studio. Ein Gespräch über Pinkwashing, Selbstfürsorge und schwierige Millennials; über die Popkultur der DDR und queere Menschen in Uganda; und über eine rührende Geschichte von einer Hamburger Mami und dem Nagellack ihres Sohnes.
10. November 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Sven Serkis (Portraits) & Milena Zara (Event)
Tausendvierhundertzweiundzwanzig. So viele Straftaten zählt der Kriminalpolizeiliche Meldedienst in Deutschland für das Jahr 2022, wenn es um Hassdelikte im Zusammenhang mit den Themenfeldern „Sexuelle Orientierung“ und „Geschlechtsbezogene Diversität“ geht.
1.422 Gewalttaten, Beleidigungen, Volksverhetzungen und andere Abscheulichkeiten gegenüber Personen, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, inter* und/oder queer bezeichnen. 1.422 Menschen, die im letzten Jahr allein deshalb angegriffen wurden, weil sie irgendwie von einer vermeintlichen Norm abweichen.
Dabei gehen Expert*innen davon aus, dass etwa 90 Prozent der Vorfälle in Deutschland nicht gemeldet werden.
Die Situation ist auch deshalb alarmierend, weil sich die Zahlen der erfassten Straftaten seit 2018 um fast 200 Prozent erhöht haben. Allein in Berlin erreichte die Menge queerfeindlicher Fälle bereits Ende August 2023 das Niveau des Vorjahres.
Was also tun?
Leider gibt es nicht die eine große Antwort oder die eine große Strategie, um das Leben queerer Menschen erträglicher zu machen und sie vor Hass zu schützen, weder in Deutschland noch anderswo.
Umso wichtiger ist es, dass man sich für queere Menschen engagiert. So wie Christian Ruess. Der Berliner Creative Director hat es sich mit seiner Plattform „Container Love“ zur Aufgabe gemacht, queeres Leben sichtbarer zu machen – in all seinen Facetten, mit all seinen Themen und auch mit all seinen Widersprüchen. Und das seit vielen Jahren.
„Wissen bedeutet weniger Angst – und keine Angst bedeutet Freiheit“, sagt Christian auf der Website von „Container Love“. Dieses Wissen vermitteln er und sein Team dort mit Hilfe sorgfältig kuratierter Arbeiten, darunter Fotostrecken, Filme, Texte und andere Werke spannender Künstler*innen: ein digitaler safe space für queere Kultur.
Eines der aktuellen Highlights zum Beispiel ist der Kurzfilm „The Hidden Dimension“, ein Portrait des queeren polnischen Fotografen Leo Maki. Der gut vierminütige Streifen, den Christian im letzten Jahr mit seiner Crew produziert hatte, erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter etwa den „Silver Screen“ beim „Young Director Award 2023“ in Cannes.
Doch „Container Love“ findet nicht nur im digitalen Raum statt, sondern einmal im Jahr auch im analogen – wie zum Beispiel im August am Berliner Kurfürstendamm. Unter dem Titel „Visible Love“ waren dort diverse Foto- und Videoarbeiten zu bewundern, die queeres Leben in all seiner Schönheit und Vielfalt zeigen. Daneben gab es Liveshows, Podiumsdiskussionen und Artist Talks – kostenlos und zugänglich für alle. Diese Chance ergriffen am Ende über 2.500 Besucher*innen.
Bei dieser Gelegenheit wurde auch das zehnjährige Bestehen der „Container Love“ gefeiert: Im Sommer 2013 hatte Christian seine erste Fotoausstellung auf dem „MS Dockville“ in Hamburg – das beliebte Kunst- und Musikfestival hatte er zehn Jahre lang mitgestaltet. Als Ausstellungsraum diente damals, man ahnt es, ein alter Schiffscontainer.
Neben seiner karitativen Tätigkeit berät Christian seit vielen Jahren große Marken und hilft ihnen dabei, in ihrer Kommunikation diverser zu werden – und auch damit mehr Sichtbarkeit queeren Lebens in der Öffentlichkeit herzustellen. Dabei zieht es ihn persönlich eher in die zweite Reihe statt ins Rampenlicht, wie er uns vor dem Interview verrät.
Bei Kaffee und Donuts treffen wir ihn in seinem gemütlichen Studio in der Neuköllner Hobrechtstraße.
»Wir öffnen unsere Tür für alle. Ob man durch sie hindurchgehen will oder nicht, muss man ganz allein entscheiden.«
MYP Magazine:
Die „Visible Love 2023“ liegt bereits einige Wochen zurück. Wie blickst Du mit etwas Abstand auf die Ausstellung?
Christian Ruess:
Bei unseren Veranstaltungen treffen sich immer viele interessante Leute, die Lust haben, etwas zu bewegen und zu verändern. Das war auch diesmal so. Aus diesem Grund bin ich nach wie vor unendlich dankbar für das, was dort stattgefunden hat. Das gibt mir das Gefühl, dass wir mit unserer Arbeit etwas Richtiges tun. Und dass es wichtig ist, dass wir da sind.
Da die „Visible Love“ diesmal am Ku’damm stattfand – also einem Ort, der touristisch etwas überladen ist – haben sich auch immer wieder Leute in unsere Ausstellung verirrt, die nach 30 Sekunden wieder draußen waren. Ohne ein Hallo, ohne ein Tschüss. Dabei würde ich mir wünschen, dass gerade diese Menschen viel neugieriger und offener sind für die Geschichten, die wir präsentieren. Aber ihre Reaktionen zeigen mir, dass es noch viel zu tun gibt, wenn es um die Sichtbarkeit und Akzeptanz queeren Lebens geht. Gleichzeitig möchte ich aber niemanden zwingen. Wir öffnen unsere Tür für alle. Ob man durch sie hindurchgehen will oder nicht, muss man ganz allein entscheiden.
»Wenn euer Sohn das Gefühl hat, sich mit Nagellack äußern zu wollen, dann ist das toll. Damit könnt ihr arbeiten.«
MYP Magazine:
Welche Reaktionen von Besucher*innen sind Dir in besonderer Erinnerung geblieben?
Christian Ruess: (überlegt)
Es gibt aus den letzten Jahren zwei Geschichten, die ich gerne erzählen möchte. Die erste geht so: Bei unserer letzten großen Ausstellung vor Corona – das war während des Reeperbahn-Festivals in Hamburg – kam eines Nachmittags eine dreiköpfige Familie herein und schaute sich die vielen Bilder an, die wie immer sehr viel zu zeigen hatten. Da gab es keinen Raum für Interpretation. Wir stehen auf dem Standpunkt: Die Vielfalt ist nun mal da, queer heißt viel, also schaut gefälligst hin!
Diese Familie jedenfalls schaute sich erst die Bilder und dann mich völlig ratlos an. Plötzlich erzählte mir die Mutter etwas besorgt von ihrem Sohn, der gerade 14 geworden war und angefangen hate, sich die Nägel zu lackieren. Ich versuchte, ihr die Angst zu nehmen, dass irgendetwas mit dem Sohn nicht stimmen könnte, und sagte: Schaut euch doch um, das alles hier ist wunderschön! Und wenn euer Sohn das Gefühl hat, sich mit Nagellack äußern zu wollen, dann ist das toll. Damit könnt ihr arbeiten, das ist ein Zeichen, geht damit um!
Das Lustige war: Normalerweise trage ich selbst auf all meinen Veranstaltungen Nagellack, nur diesmal hatte ich es vor lauter Stress vergessen. Zwei Stunden nach unserem Gespräch kam die Mutter zurück und brachte mir den Nagellack ihres Sohnes. Zu Hause hatte sie ihm von uns erzählt, er kannte „Container Love“ bereits und sagte zu seiner Mami: „Schenk dem Typen mal meinen Nagellack.“ Das hat mich an dem Abend zu Tränen gerührt.
MYP Magazine:
Und die zweite Geschichte?
Christian Ruess:
Bei unserer diesjährigen „Visible Love“ im Pop Ku’damm gab es eine ähnliche Situation. In unsere Ausstellung schlich eine bayerische Familie, bei der man auf den ersten Blick erkennen konnte, wer sie an diesen Ort gelockt hatte: der Sohn. Nachdem alle schweigend durch den Raum gelaufen waren, warf mir der Sohn beim Gehen ein Lächeln zu. Ich dachte mir nur: Du musst nichts sagen, wir haben es alle verstanden. Und mir war klar: Für solche Momente mache ich das alles.
»Queere Menschen haben unendlich viel zu erzählen.«
MYP Magazine:
Wissen die Menschen, die auf den Fotos zu sehen sind, um ihre Mut machende Wirkung? Ist ihnen bewusst, dass sie nicht nur Models, sondern vor allem role models sind?
Christian Ruess:
Ja, weil unser gesamtes Magazin so konzipiert ist. Ich wollte immer ein Format schaffen, das einerseits queeren Lifestyle zeigt und sich andererseits auch tatsächlich mit den Menschen dahinter auseinandersetzt. Die meisten Hochglanzmagazine, die man seit 100 Jahren auf der Couch liegen hat, können und wollen das gar nicht leisten. Dabei haben queere Menschen unendlich viel zu erzählen, jede*r von uns hat eine Geschichte. Und diesen Geschichten wollte ich eine Plattform geben – eine, die auch außerhalb des pride month, außerhalb queerer Kampagnen und außerhalb der bekannten Social-Media-Kanäle funktioniert. Eine Plattform in Form eines Magazins, die leicht ist, Spaß macht und dabei trotzdem Themen wie Diversität oder body positivity behandelt. Und die trotzdem nicht mit dem erhobenen Zeigefinger durch die Gegend läuft.
»Ich bin kein großer Fan davon, immer alles gleich zu labeln.«
MYP Magazine:
Die „Visible Love 2023“ war in einem luftigen, modernen Gebäude beheimatet, das so wirkte, als hätte es sich zwischen zwei alte Betonklötze geschoben und dort seinen Platz beansprucht – ein schönes Symbolbild, das man auch auf die queere Community übertragen könnte. Muss man sich manchmal mit Nachdruck irgendwo dazwischen quetschen, um ein Teil des etablierten Straßenbilds zu werden?
Christian Ruess:
Ja, allerdings gilt das nicht nur für die queere Community, sondern für alle Menschen, die in irgendeiner Form marginalisiert werden. Und da ich kein großer Fan davon bin, immer alles gleich zu labeln, daher sage ich es etwas allgemeiner: Wenn man ein Anliegen hat, ist es wichtig, sich Gehör zu verschaffen und einen Platz zu erarbeiten. Es bringt in unserer Gesellschaft nichts, sich wegzuducken.
»Der Einzige, vor dem man sich outen muss, ist man selbst.«
MYP Magazine:
Einer der ausgestellten Fotokünstler, AdeY, sagt im Zusammenhang mit seinen Arbeiten Folgendes: „Sichtbarkeit heißt, sich um seine Mitmenschen zu kümmern – weil man weiß, dass diese Menschen einen genauso sehen, wie man ist, und sie sich in demselben Maße auch um einen selbst kümmern.“ Ist queere Sichtbarkeit für Dich ebenfalls ein Akt von Achtsamkeit? Und gibt es vielleicht sogar eine moralische Pflicht zum Aktivismus und zur Sichtbarmachung des eigenen Queerseins?
Christian Ruess:
Jein. Ich halte nichts von Outing. Ich persönlich habe mich in meinem Leben auch nie geoutet. Warum auch? Aus welchem Grund sollte ich mich vor irgendjemandem aufbauen und sagen, dass ich dieses oder jenes bin? Äh, nein, fickt euch! Das geht niemanden etwas an, das ist ganz allein meins. Der Einzige, vor dem man sich outen muss, ist man selbst. Man muss sich selbst erkennen und lernen, das mit Stolz nach außen zu tragen – ohne sich dafür zu erklären oder zu entschuldigen. Das ist das Allerwichtigste.
»In der Popkultur der DDR gab es niemanden, der mich hätte inspirieren können.«
MYP Magazine:
Wie ist Dir das in Deiner eigenen Kindheit und Jugend gelungen?
Christian Ruess:
Ich bin in den Achtzigern und Neunzigern in einem kleinen Kaff in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen. An diesem Ort hätte ich gar nicht die Möglichkeit gehabt, mich zu outen oder zu erklären – weil es dort weder die Worte gab für jemanden wie mich noch irgendwelche role models, zu denen ich hätte aufschauen können. In der Popkultur der DDR gab es niemanden, der mich hätte inspirieren können – nicht im Entferntesten! Meine einzige Inspiration war Madonna.
Von daher war es für mich immer schwierig, mich irgendwo einzusortieren und zu mir selbst zu finden. Als Teenager war ich erst Raver, dann Punk, dann habe ich Hip-Hop-Klamotten getragen und zum Schluss hatte ich bunte Haare. Ich habe geschneidert, Musik gemacht, Geschichten geschrieben. Ich wusste nicht, wohin mit dieser Kreativität. Und ebenso wenig wusste ich, wo all das herkam und was das sollte. Ich war immer auf der Suche nach einer Antwort, nach einer Erfüllung. Und diese Suche wurde schnell zu einem „ich gegen die anderen“. Erst als ich schon lange erwachsen war, habe ich herausgefunden, dass dieses Getriebensein seinen Ursprung darin hat, dass mir als Kind niemand sagen konnte, dass es okay ist, wie ich bin. Und dass es dafür einen Begriff gibt: queer.
»Die Millennials sind eine schwierige Generation.«
MYP Magazine:
Viele queere Millennials – also Menschen, die im Zeitraum der frühen 1980er bis zu den späten 1990er Jahren geboren wurden – haben Schwierigkeiten, ihre persönlichen Outing-Erfahrungen oder Diskriminierungserlebnisse mit anderen zu teilen. Die Generation Z zum Beispiel scheint da ganz anders zu ticken. Wie kann man queere Menschen dieser Altersgruppe dazu bringen, sich mehr zu öffnen und ihre wichtigen Geschichten zu teilen?
Christian Ruess:
Ich habe da ganz ähnliche Erfahrungen gemacht. Die Millennials sind eine schwierige Generation. Viele haben einen Schlussstrich unter ihre oft schwierige Vergangenheit gezogen, haben sich ein solides Leben aufgebaut und sind irgendwo angekommen. Und ganz ehrlich: Auch das ist vollkommen okay.
MYP Magazine:
Hast Du eine Erklärung, warum das so ist?
Christian Ruess:
Ich glaube, das liegt an der deutschen Kultur. Wir sind in unserem Land sehr angstgetrieben und fragen uns immer: Findet mich die Nachbarschaft gut? Findet mich die Familie gut? Finden mich die Arbeitskolleg*innen gut? Und wie muss ich mich verhalten, dass mich alle gut finden? Das macht einen doch wahnsinnig! Ich persönlich denke: Solange man nett ist und ein Herz hat, kannt man machen, was man will, und rumlaufen, wie man will. Doch in einer Kultur, in der es vor allem darum geht, nicht aufzufallen, ist das schwierig.
Gerade deshalb ist es wichtig, dass viel mehr Leute ihre Erfahrungen teilen und diese nach außen tragen. Ich zumindest versuche das mit „Container Love“, aber auch in meiner Arbeit als Creative Director. Agenturen geht es doch immer darum, eine Emotion zu verkaufen oder eine Geschichte zu erzählen. Dabei denke ich mir immer: Dann erzählt doch die Geschichten! Sie liegen auf der Straße, man muss nur hinschauen, zuhören und den Mut haben, sie weiterzutragen.
»Bitte genießt weiter eure Freiheit – aber schottet euch nicht ab!«
MYP Magazine:
Dazu gehören zum Beispiel die Geschichten queerer Menschen aus der Babyboomer-Generation, die in der AIDS-Krise der Achtziger und Neunziger fast ihren gesamten Freundeskreis verloren haben. Eine Katastrophe, von der viele jüngere Queers noch nie etwas gehört haben. Was können die Jungen tun, um das Leid der Alten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen?
Christian Ruess:
Auch da komme ich wieder nur zu der Lösung, einander zuzuhören. Selbstverständlich müssen solche Geschichten erzählt werden. Es ist wichtig, dass man darum weiß. Aber ganz ehrlich: Auch hier kann ich niemanden zwingen, sich dafür zu interessieren. Wenn ich etwa auf die queere Community in Berlin schaue, machen die Jungen im Prinzip auch nur das, was ich mit 18 gemacht habe. Sie schneidern sich ihre eigenen Klamotten zusammen, färben sich die Haare und kümmern sich einen Scheißdreck darum, was andere von ihnen halten. Ich finde das super und genau richtig. Bitte genießt weiter eure Freiheit! Ich habe dabei nur ein Anliegen: Schottet euch nicht ab!
»Es geht darum, unsere Unterschiedlichkeiten zu feiern – und nicht unsere Gemeinsamkeiten.«
MYP Magazine:
Wie meinst Du das?
Christian Ruess:
Wenn ich auf das queere Leben in Berlin blicke, habe ich das Gefühl, dass sich die Community eher aufsplittert als zusammenzuwachsen. Es gibt immer mehr Nischen-Communitys, in der alle ihren ganz eigenen safe space finden. Das führt dazu, dass die Leute außerhalb ihrer eigenen Bubble kaum mehr etwas miteinander zu tun haben. Ich weiß nicht, ob ich diese Entwicklung so gut finde. Am Ende sind wir doch eine Community, in der es darum geht, unsere Unterschiedlichkeiten zu feiern – und nicht unsere Gemeinsamkeiten. Wäre es nicht toll, wenn sich all diese kleinen Gruppen untereinander solidarisieren und ihre geschützten Räume zusammenlegen würden, um ihre Meinungen und Visionen miteinander zu teilen? Genau das ist übrigens der Anspruch und Nukleus von „Container Love“.
»Wir haben keine Ahnung, ob sie überhaupt noch leben.«
MYP Magazine:
In vielen Ländern der Welt ist es immer noch lebensgefährlich, sich als queerer Mensch sichtbar zu machen. Zum Beispiel wurde in Uganda vor Kurzem ein 20-Jähriger wegen „schwerer Homosexualität“ angeklagt. Nach dem neuen Anti-LGBTQ-Gesetz, das dort im Mai in Kraft getreten war, droht dem jungen Mann die Todesstrafe. Ist queere Sichtbarkeit ein westliches Privileg?
Christian Ruess:
Das Privileg ist vor allem ein demokratisches. Wir Queers hier in Deutschland sind es gewohnt, unsere Stimmen hörbar zu machen – auch wenn das lange genug gedauert hat. Doch viele andere Menschen haben diese Möglichkeit nicht. Es ist auch nicht absehbar, dass sich ihre Situation in naher Zeit wirklich verbessert. Ganz im Gegenteil: In vielen Ländern wird es immer schlimmer.
Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum „Container Love“ existiert: um den Leuten klarzumachen, dass wir in einer seligen Blase leben. Zwar ist auch hierzulande nicht alles rosig. Aber als queerer Mensch in Deutschland zu leben, ist in den allermeisten Fällen immer noch ein Privileg. Anderswo dagegen ist es oft ein Albtraum. Da spreche ich leider aus Erfahrung…
MYP Magazine:
Inwiefern?
Christian Ruess:
Vor einigen Jahren wollte uns eine Künstlergruppe aus Uganda eine Fotostrecke für unsere Plattform zur Verfügung stellen. Doch kurz nachdem die Gruppe per Mail an uns herangetreten war, brach der Kontakt ab. Erst Monate später hörten wir wieder etwas von ihnen. Die Künstler*innen baten uns, sofort alles zu löschen, was online war. Sie fürchteten um ihre Sicherheit. Wir wissen bis heute nicht, ob es ernsthafte Konsequenzen für sie gab. Wir haben keine Ahnung, ob es ihnen gut geht oder sie überhaupt noch leben.
»Die queere Community ist nicht dumm und sie ist nicht blind.«
MYP Magazine:
Wie Du gerade angemerkt hast, ist auch in Deutschland noch nicht alles rosig, wenn es um queere Sichtbarkeit und Akzeptanz geht. So wäre es noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen, dass ein DAX-Konzern sein Logo in Regenbogenfarben taucht. Mittlerweile ist das mehr oder weniger Standard, zumindest im Juni, dem pride month.
Christian Ruess:
Ja, aber auch nur hier im westlichen Teil der Welt. In Dubai zum Beispiel passiert das nicht. Dort findet man queere Menschen scheiße. Warum sollten man also mit ihnen Werbung machen? Das kann man gut finden oder nicht, aber Dubai ist da zumindest ehrlich – was man von vielen Konzernen nicht unbedingt behaupten kann.
MYP Magazine:
In Deinem Job als Creative Director hilfst Du großen Marken dabei, in ihrer Kommunikation diverser zu werden. Hast du nicht Sorge, dass Deine Arbeit am Ende nur dem Pinkwashing-Bestreben eines Unternehmens dient?
Christian Ruess:
Die queere Community ist nicht dumm und sie ist nicht blind. Queere Menschen haben ein sehr feines Gespür dafür, wer da draußen Pinkwashing betreibt. And let’s face it: Die meisten Unternehmen benutzen queere Sichtbarkeit hauptsächlich für ihre Werbe- und Marketingzwecke. Das tatsächliche gesellschaftliche Engagement kommt entweder lange danach oder gar nicht. Aus diesem Grund geht hier immer noch wahnsinnig viel in die falsche Richtung, das ist sehr schade.
Ich persönlich mache Marken da ein ganz klares Angebot. Ich sage: Redet mit uns, wir können helfen. Wir können euch sagen, wo ihr anfangen müsst, aus welchen Gründen ihr das machen müsst und wohin ihr damit wollt. Wir geben euch das alles an die Hand. Es gibt so viele queere Konsument*innen, die es gut finden würden, wenn Marken ihre Geschichten richtig und ausführlich erzählten; wenn die richtigen Pronomen benutzt würden; wenn richtig gegendert würde. Es gibt so viele Möglichkeiten, uns zu repräsentieren und uns in die Markenwelt mitzunehmen.
»In mir steckt ein kleiner Aktivist, der die Welt verändern will.«
MYP Magazine:
Wie bist Du überhaupt dazu gekommen, Marken in Sachen Diversität zu beraten?
Christian Ruess:
Ich piesacke gerne Leute und akzeptiere den Status quo nicht. Außerdem steckt in mir ein kleiner Aktivist, der die Welt verändern will – und der es gleichzeitig liebt, kreativ zu arbeiten, Menschen vor die Kamera zu bringen und gute Geschichten zu erzählen.
Darüber hinaus habe ich im Laufe meines Berufslebens genug Mist erlebt. Ich hatte zum Beispiel mal einen Kunden aus dem Automobilsektor, für den ich Photoshoots für den asiatischen Markt konzipieren sollte. Mir wurde verboten, für die Kampagne nichtweiße Models zu buchen. Die Begründung: Der asiatische Markt mag die nicht. Aus solchen unnötigen Situationen ist eine Wut entstanden, die ich benutzen wollte, um tatsächlich etwas zu verändern.
»Manchmal braucht es ein kleines Kompliment, vor allem an sich selbst.«
MYP Magazine:
In einem der Filme, die ihr auf der „Visible Love“-Ausstellung gezeigt habt, wird folgende Frage gestellt: „Wenn ich mein Teenager-Ich treffen könnte, was würde ich ihm sagen?“ Welche Botschaft hättest Du für Dein jüngeres Ich?
Christian Ruess:
Es fällt mir schwer, das auszusprechen. Aber ich glaube, ich würde meinem teenage self sagen, dass es sich selbst lieben solle. Weil das etwas ist, das mir nie beigebracht wurde. Punkt.
MYP Magazine:
Ist das auch der Grund, warum bei der Ausstellung überall Sticker mit der Aufschrift „You look good“ herumlagen?
Christian Ruess:
Klar! Manchmal braucht es ein kleines Kompliment, vor allem an sich selbst. Das ist wichtig. Außerdem sind so viele Os grafisch einfach hübsch. Kommunikation ist das A und O. Und ein Kompliment ist ein guter Einstieg.
Mehr von und über Christian Ruess:
Mehr von und über »Container Love«:
Interview & Text: Jonas Meyer
Portraits Christian Ruess: Sven Serkis
Fotografie »Visible Love 2023«: Milena Zara
Mit besonderem Dank an Javier Zamora-Kalazich.
Monica Conesa
Portrait — Monica Conesa
Diese Opfer muss man bringen, um ein Opernstar zu werden
Die aktuellen Top-Opernstars der Welt sind in ihren Fünfzigern, daher wagt sich so langsam die nächste Generation aus der Deckung: Das kubanisch-amerikanische Nachwuchstalent Monica Conesa hat die Stimme, die Eleganz und das Durchhaltevermögen für die Position der Primadonna. Außerdem trällerte sie bereits als Netrebko-Vertretung in Verona. Ein Portrait.
4. November 2023 — Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten
Aktuell schwebt Monica Conesa in den Fußstapfen von Anna Netrebko über die Bühne.
Monica Conesa singt Opern, wie Tennisspielerinnen sich auf die US Open vorbereiten: Alle Emotionen sind auf das Ziel gerichtet, der Körper wird athletisch optimiert und die Technik wird stets perfektioniert. Und ähnlich wie viele Sportstars reist die kubanisch-amerikanische Sängerin auch mit ihrem Trainer um die Welt.
Wir treffen die beiden im Berliner Precise Hotel, das mit seinem spanischen Vintage-Charme die perfekte Kulisse für die katzenhafte Künstlerin und ihren Gesangslehrer ist. Der in Mexico geborene Mauricio Trejo ist für den 27-Jährigen Nachwuchsstar das, was Giovanni Battista Meneghini für die Jahrhundertsängerin Maria Callas war: Mentor, Coach und Gefährte auf einem Weg zur globalen Megakarriere.
Denn aktuell schwebt Monica Conesa bereits in den Fußstapfen von Anna Netrebko über die Bühne, der derzeit bekanntesten Opernsängerin der Welt: Letztes Jahr debütierte sie als anmutige Aida in der gleichnamigen Verdi-Oper, und zwar in der legendären Arena di Verona, Italiens spektakulärster Kulisse für klassische Musik.
Und auch im Sommer 2023 wurde sie erneut eingeladen, um sich mit Anna Netrebko die Hauptrolle der äthiopischen Prinzessin mit einem atemberaubenden Programm zu teilen, das die beliebtesten und meistaufgeführten Werke des legendären Amphitheaters in ein neues Zeitalter führen sollte – eine ganz besondere Ehre, denn die Opernfestspiele in der Arena feierten ihr 100-jähriges Jubiläum.
Die Aufführungen in der malerischen Kulisse sind stets spektakulär, was zu einem ungewöhnlich jungen Publikum führt: Von allen Theatern Italiens beansprucht das Opernhaus den größten Anteil an Besucher*innen unter 30 Jahren für sich.
»Diese Geschichte zeigt, wie unsere Hände zärtlich streicheln oder brutal zerstören können.«
Für dieses Publikum ist Monica Conesa ein Magnet: Ihr gesanglicher Ausdruck ist klar, ihre Bewegungen sind leidenschaftlich und in ihrem unverbrauchten Blick lodert das Feuer ebenso explosiv wie in ihrer einzigartigen Stimme. Diese reizvolle Verkörperung von unbändigem Willen und erdbebenhafter Energie passte perfekt in die Inszenierung von Regisseur Stefano Poda, der seine Eröffnungsoper bei einem Berlin-Besuch im Frühjahr als „ein breit hingepinseltes Fresko der Menschheitsgeschichte“ bezeichnete.
„Diese Geschichte zeigt, wie unsere Hände zärtlich streicheln oder brutal zerstören können“, äußerte sich Poda außerdem. Seine „Aida“ sei futuristisch und technologisch und habe ästhetische Ähnlichkeiten zur Renaissance-Tour von Beyoncé. Ein Vergleich, der Monica Conesa zum Schmunzeln bringt. „Bei ihm verschmelzen Epochen, Welten und Dimensionen. Seine Produktionen bringen das Unterbewusste als körperliche Choreografie auf die Bühne“, erklärt Conesa.
So erdachte sich Poda beispielsweise Szenen, in denen Aidas Erinnerungen an ihre Kindheit in Äthiopien als Tanzformationen versinnbildlicht werden. So ein Bühnenbild regierte zwischen antiken Ruinen und Raumschiffen. Ein Experiment, dass unter dem Sternenhimmel der offenen Arena di Verona ein bildgewaltiges Statement setzte – und bei dem sich die Opernsängerin einmal mehr bewusst wurde, warum ihr dieser Lebensweg all die Opfer wert ist.
»Früher habe ich mich für eine Karriere als Tierärztin interessiert.«
Monica Conesa wuchs auf der Insel Venice in Florida auf, unweit von Disney World. Sie erinnert sich an eine glückliche Kindheit. Die schillernden Fantasie-Welten hätten ihre Ambition, selbst ein Märchen zu erleben, stark geprägt, erzählt sie. „Durch die ganzen Zoos in der Umgebung, die die Besucherscharen mit exotischen Tieren locken, habe ich mich früher für eine Karriere als Tierärztin interessiert.“ Ihre Eltern haben kubanische Wurzeln und sind Ärzte, ihre ganze Familie hat starken beruflichen Bezug zum medizinischen Sektor.
Doch dann entdeckte sie als 14-Jährige eine DVD in der Sammlung ihres Großvaters. Es war das mittlerweile legendäre „The Berlin Concert“ von Plácido Domingo, Anna Netrebko und Rolando Villazon aus dem Jahr 2006. Dass der Dirigent der Aufführung, Maestro Marco Armiliato, ebenjener war, unter dem sie Jahre später auch ihr Debüt als Opernstar in Verona feiern sollte, ist nur eines von vielen Beispielen, wie sich in der Karriere von Monica Conesa immer wieder magische Kreise schließen.
»Meine Lungen sollen sich mit Luft gefüllt haben, anscheinend waren mir die Anstrengung und der Wille anzusehen.«
„Und so verliebte ich mich in die Oper. Ich verbrachte den ganzen Sommer damit, jede Opern-Aufzeichnung in die Finger zu bekommen, die irgendwie in Reichweite war.“ Wenn sie von diesem Augenblick berichtet, schwingt in ihrer schönen Erzählstimme die Obsession mit, die sie seitdem begleitet.
Sie ist ihren Eltern dankbar, dass die ihre Leidenschaft von Anfang an unterstützten, und den Teeanger zu einem Opernkurs für Jugendliche anmeldeten. „Meine Mutter erzählt immer von der Anekdote, als ich ein kleines Baby war. Ich lag nackt auf der Couch und beobachtete sie. Plötzlich fing sie an zu singen. Meine Augen wurden ganz groß und fixierten ihr Gesicht. Danach sollen sich meine Lungen mit Luft gefüllt haben, anscheinend waren mir die Anstrengung und der Wille anzusehen. Plötzlich kam ein lautes ‚Ahhh‘ heraus – mein erster langer Ton.“ Es sollten noch viele lange und dann immer längere Töne folgen.
»Meine Lehrerin hat mir von Anfang an sehr ehrlich beschrieben, wie schwierig dieses Leben ist.«
Ihre erste Lehrerin an der Opernschule in Sarasota war eine berühmte Mezzosopranistin, die über weite Teile ihrer Laufbahn in München gesungen hatte. „Sie bestärkt mich in dem Traum, bereits zu Beginn meiner Karriere Engagements in Europa anzustreben. Sie war auch diejenige, die mir von Anfang an sehr ehrlich beschrieben hat, wie schwierig dieses Leben ist und warum es so voller Entbehrungen steckt.“
Um auf dem Niveau singen zu können, wie es Monica Conesa tut, muss der Körper mit einer Disziplin geformt werden, die der von Hochleistungssportler*innen ähnelt. Neben Alkohol und sehr salzhaltigen Gerichten müssen auch Nüsse vermieden werden, da sie Allergien auslösen können. Und auch Lebensmittel, die das Aufstoßen von Magensäure begünstigen, sollten vom Speiseplan gestrichen werden. Zudem gibt es viele Nächte, in denen man als Sängerin stumm zu Hause sitzen muss, um die Stimme für den großen Auftritt zu schonen.
»Am Ende hängt alles an dem Körper – und an den Muskeln, die den Sound supporten.«
Monica Conesa ging direkt nach der High School auf die Manhattan School of Music. Während sich andere in New York die Nächte um die Ohren schlugen, trank Conesa zu Hause Tee und lernte Opernsprachen wie Deutsch und Italienisch. „Mir wurde früh gesagt, wie viel Druck diese Karriere bedeutet. Aber ich habe meine Entscheidung nie hinterfragt, diese Opfer fielen mir leicht. Außerdem stellte ich schnell fest, dass ich nicht nur auf der Bühne in Topform sein will, sondern auch mit der Stimme trainieren will, die ja irgendwann in einem Opernhaus zu hören ist. Und am Ende hängt eben alles an dem Körper – und an den Muskeln, die den Sound supporten. Mein Klang ist zu 100 Prozent ein Produkt dieser Region hier“, sagt Conesa und streicht sich dabei über die Körpermitte.
Um zu verdeutlichen, wie stark sich ihre Konstitution durch das Gesangstraining verändert, erzählt sie, dass ihr Brustkorb um eine BH-Größe angewachsen sei. Gerade in Zeiten, in denen sie jeden Tag für Vorstellungen übt oder vor Publikum singt, müsse sie sich zudem sehr proteinreich ernähren, um die nötige Energie aufzubringen.
»Deine Freunde sind dir nur voraus, du wirst ihnen später begegnen.«
Über lange Jahre machte sie das zu einer Außenseiterin. „Aber ich war schon immer okay damit, eher eine Einzelgängerin und vielleicht manchmal auch etwas einsam zu sein.“ Denn es habe nie viele Gleichaltrige gegeben, die Conesas Faszination für die Opernkultur, in die sie sich so vertiefen wollte, teilen konnten.
„Meine Mutter sagte dann immer: ‚Mach dir keine Sorgen, deine Freunde sind dir nur voraus, du wirst ihnen später begegnen‘. Ich folgte ihren Rat und bildete mich stetig weiter. Nun bin ich in einer Situation, in der mir viele Menschen begegnen, die meine Leidenschaften teilen und mein Leben mit Glück erfüllen.“
»Ich habe immer gesagt, Monica hat einen Hals wie ein Mann.«
Zu diesem Menschen gehören auch ihr Mentor Mauricio Trejo und seine Frau Elisabeth. Als Monica Conesa noch in New York lebte, kämpfte sie mit der Tatsache, dass ihre ausdrucksstarke und laute Stimme nicht ganz den Zeitgeist traf. Sie wanderte von Gesangslehrerin zu Gesangslehrer und wurde letztlich an Elisabeth de Trejo verweisen. Sie gilt als Expertin auf dem Gebiet der starken Stimmen. Vielleicht auch, weil ihr Ehemann Mauricio selbst so ein Organ besitzt.
De Trejo half ihrer Schülerin dabei, Körper, Arbeitsethos und Geisteshaltung in eine Linie zu bringen – und übergab den Staffelstab dann an ihren Gatten. „Ich habe immer gesagt, Monica hat einen Hals wie ein Mann“, sagt der Stimmcoach, als er seinen Zögling einen Espresso vorbeibringt.
Das Ausufern ihrer Stimme ist nun kein Hindernis mehr – sondern ein wertvolles Alleinstellungsmerkmal.
Während in der Pandemie viele talentierte Künstler*innen den Operngesang an den Nagel hingen, zog Monica Conesa bei dem Mentoren-Ehepaar ein. Sie half den de Trejos beim Homeschooling der beiden Kinder und erhielt im Gegenzug intensives Gesangstraining. Zusammen haben sie die Technik der Nachwuchs-Sopranistin so verfeinert, dass das Ausufern ihrer Stimme nun kein Hindernis mehr ist – sondern ein wertvolles Alleinstellungsmerkmal.
Das erkannte auch Maestro José Carreras. Der Klassikstar war Juryvorsitzender des Premio Fausto Ricci Wettbewerbs und verlieh 2021 die Trophäe an Monica Conesa. In diesem Zuge bescheinigte er ihr „eine außergewöhnliche, theatralische und sichere Stimme“.
Besonders wundervoll kommt diese im Zusammenspiel mit ihren männlichen Kollegen zum Ausdruck. Wenn Conesa auf der Bühne steht und einen ebenbürtigen Tenor zur Seite hat, schaukelt sich die Melodie hoch, wie bei einem spannenden Tennismatch. Obwohl sich die Opernsängerin in ihren Rollen für die Liebe umbringen lässt oder vor Leidenschaft zergeht, versucht sie sich im Privaten von zu viel Drama fernzuhalten.
»Für einen Termin wie heute schicke ich meine Bühnenpersona oder mein kreatives Ich ins Rennen.«
Sie erzählt von einer Methode, bei der Künstler*innen ihre Bühnenpersona, ihr kreatives Ich und ihr privates Ich voneinander trennen. „Zwei davon können sich vermischen, aber für die dritte ist kein Platz mehr. Für einen Interview-Termin wie heute – oder für einen Auftritt vor Publikum – schicke ich meine Bühnenpersona oder mein kreatives Ich ins Rennen. Und mein privates Ich, das eher schüchtern ist, bekommt dann Pause und kann sich entspannen. Das ist tatsächlich weniger schizophren, als es jetzt klingt“, sagt sie lachend.
»Niemand will Monica aus Florida sehen, die nach einer Probennacht um zwei Uhr tot ins Bett fällt.«
Das schenkt ihr die Möglichkeit, alle Facetten ihres Berufs zu genießen. Für unser Shooting zum Beispiel bereitete sie sich dadurch vor, dass sie ein exquisites Schmuckset beim italienischen Designer Giovanni Raspini erwarb. „Niemand will Monica aus Florida sehen, die nach einer Probennacht um zwei Uhr tot ins Bett fällt. Die Menschen kommen für Monica Conesa.“
Mit ihrem Stil unterstreicht sie diese Vision. Sie ist inspiriert von den vierziger und fünfziger Jahren – und paart den zeitlosen Diven-Look mit kontemporären Accessoires. Statt in Leggins probt sie stets in High-Waste-Hosen und Audrey-Hepburn-Bodys. Doch das hat nicht nur Fashion-Gründe: „Zum einen kann Mauricio dann ständig meine Atmung sehen und mich korrigieren. Und an der Taille spüre ich, ob mein Bauch den richtigen Druck nach außen ausübt.“
»Die Deutschen sind verrückt nach Opern.«
Trotz ihres hinreißenden Temperaments scheint alles an Monica Conesa sehr überlegt zu sein. Auch ihre nächsten Schritte in Europa wird sie mit wachem Geist machen. In der Hauptstadt geistert das Gerücht um, dass Berlin als „Hollywood für Opernsänger“ gelte.
Darauf angesprochen überlegt Conesa kurz und bestätigt dann: „Die Deutschen sind verrückt nach Opern, auch in Italien ist der Großteil des Publikums aus Deutschland. Zusammen mit der Schweiz und Österreich ist der Markt sehr groß – und die Opernhäuser in Berlin oder Wien sind ein Traum.“
Ihr Mentor könnte sich seinen Schützling auch in einer Wagner-Oper vorstellen. Doch letztlich ist es egal, ob es die Künstlerin nach Bayreuth oder an das Sydney Opera House ziehen wird: Die großen Opernstars unserer Zeit, wie Anna Netrebko oder Jonas Kaufmann, sind in ihren Fünfzigern, die neue Generation wurde noch nicht identifiziert. Nur „Die Conesa“ bringt sich jetzt schon in Aufstellung für die Aufnahme in den Olymp.
Mehr von und über Monica Conesa:
Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß
Fotografie: Frederike van der Straeten
JEREMIAS
Interview — JEREMIAS
»Songschreiben ist eine ziemlich egozentrische Sache«
Mit ihrem zweiten Album, liebevoll »Von Wind und Anonymität« genannt, ermöglichen uns JEREMIAS einen tiefen Einblick in ihr Seelenleben. Dabei ist es der Hannoveraner Band gelungen, eine musikalische Grundsätzlichkeit zu schaffen, mit der sie das Gesagte millimetergenau auf den Punkt bringt. Kurz gesagt: ein Album mit Geist und Groove – chapeau! Wir treffen Frontmann Jeremias Heimbach zu einem sehr persönlichen Interview: ein Gespräch über die Vorzüge der Anonymität, die Anziehungskraft von Hermann Hesse, doofe Memes und eine windige Insel, auf der man hin und wieder auf die Fresse fällt.
27. Oktober 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König
Man stelle sich kurz folgende Situation vor: Man sitzt abends allein in einer kleinen Bar, sinniert so vor sich hin und plötzlich fragt ein Unbekannter, ob er sich dazusetzen dürfe. In einer Mischung aus Höflichkeit und Neugier bietet man ihm einen Platz an und lässt sich auf ein Glas Vino Bianco einladen.
Kaum hat man sich zugeprostet, fängt der Unbekannte an, aus seinem Leben zu erzählen. Mal berichtet er vom Tod eines geliebten Menschen, mal vom Umzug in eine neue Stadt, mal von der Sorge um einen engen Freund. Ohne Berührungsängste und mit beeindruckender Eloquenz teilt seine tiefsten Gefühle und privateste Gedanken. Dabei wirkt er überraschend unverzagt und ganz bei sich. Mehr noch: Seine Gier nach Leben ist geradezu ansteckend.
Nach einer knappen Dreiviertelstunde steht der Unbekannte auf und verabschiedet sich mit einer herzlichen Umarmung. Plötzlich ist da nichts als Stille – und das Gefühl, gerade eine Form emotionaler Verbundenheit erlebt zu haben, mit der man zu Beginn des Abends nicht gerechnet hätte.
So oder so ähnlich fühlt es sich an, wenn man zum ersten Mal „Von Wind und Anonymität“ hört, das neue Album von JEREMIAS. Die vierköpfige Band, die sich 2018 in Hannover gründete und drei Jahre später mit „Golden Hour“ ihr erstes Studioalbum präsentierte, hat nun mit ihrer zweiten Platte ein Werk geschaffen, das einen auf vielfältige Art und Weise berührt. Ein Album mit Geist und Groove, das von Anfang bis Ende großen Spaß macht – auch wenn Ben Hoffmann, Jeremias Heimbach, Jonas Hermann und Oliver Sparkuhle damit ihre Hörer*innen tief in ihr Seelenleben blicken lassen. Oder gerade deshalb.
Hatte sich der 23-jährige Sänger und Bandgründer Jeremias vor einiger Zeit noch unbekleidet auf einem EP-Cover abbilden lassen, macht sich auf dem zweiten Album nun die gesamte Band nackt – allerdings aus rein emotionaler Perspektive. Und wenn man ehrlich ist, ist das bei Menschen auch der deutlich interessantere Aspekt.
Verpackt sind diese überaus persönlichen Gefühle und Gedanken in eine textliche Poesie, die sich erfrischend klar und wortgewandt von eingetretenen Deutschpop-Pfaden absetzt. Und in einen Sound, der das Gesagte musikalisch auf den Punkt bringt, und zwar millimetergenau. Der Sound des neuen Albums kommt im Vergleich zu „Golden Hour“ zwar weniger fulminant daher, wirkt dafür aber wesentlich grundsätzlicher und selbstbewusster. Man könnte auch erwachsener sagen, aber mit diesem Begriff, so wird uns Frontmann Jeremias im Interview erzählen, hat er so seine Probleme.
Alles in allem ist „Von Wind und Anonymität“ ein Plädoyer dafür, dass die Welt der Musik eine schlechtere wäre, wenn sie nur noch aus hastig veröffentlichten Singles bestünde – ohne reichhaltige, sorgfältig kuratierte Alben wie dieses, deren Reiz gerade darin besteht, dass man sich einfach mal 45 Minuten auf sie einlassen muss. Wie auf einen Unbekannten, der sich abends in einer kleinen Bar zu einem an den Tisch setzt und von seinem Leben erzählt.
Im Moabiter Studio von Fotograf Maximilian König treffen wir Jeremias Heimbach zu einem sehr persönlichen Gespräch.
»Wir freuen uns, dass mit diesem Album wirklich alles einmal gesagt wurde.«
MYP Magazine:
Mit Eurem neuem Album gestattet Ihr uns, den Hörer*innen, einen tiefen Blick in Euer Seelenleben. Wie geht es Dir und den anderen drei damit, ein so intimes Stück Musik in die Welt geworfen zu haben?
Jeremias:
Uns geht‘s definitiv gut damit. Wir haben ja im Vorfeld schon sieben Singles rausgehauen und sind dabei auf sehr viel positive Resonanz gestoßen. Außerdem ist es mittlerweile fast ein Jahr her, dass wir die Platte aufgenommen haben. Dadurch haben wir alle auch einen gewissen Abstand dazu. Aber ich will das jetzt gar nicht kleinreden, ganz im Gegenteil: Wir freuen uns, dass mit diesem Album jetzt, zum 22. September 2023, wirklich alles einmal gesagt wurde.
»Wir machen das alles einfach nur aus einer puren Freude, Liebe und inneren Dringlichkeit heraus.«
MYP Magazine:
Wenn man „Von Wind und Anonymität“ zum allerersten Mal hört, kann es passieren, dass man sich emotional ziemlich überrollt fühlt: Die Tatsache, dass einem vier fremde Menschen so private Gedanken und Gefühle anvertrauen, scheint eine besondere Verbindlichkeit zu schaffen, der man als Hörer*in auch irgendwie gerecht werden will. Wie gehst Du persönlich mit der Verantwortung um, die entsteht, wenn man mit seiner Musik für andere Menschen einen so großen emotionalen Resonanzraum schafft?
Jeremias:
Dass unser neues Album derartige Gefühle auslösen kann, höre ich gerade zum ersten Mal – und berührt mich. Aber diese krasse Verantwortung, von der Du sprichst, spüre ich persönlich überhaupt nicht, zumindest nicht im Moment. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir das alles einfach nur aus einer puren Freude, Liebe und inneren Dringlichkeit heraus machen. Das allein ist der Kern unserer Musik. Vielleicht entspringt daraus dieses Nichtverantwortungsgefühl.
»Mist! Wir singen davon, dass wir den Winter überlebt haben? Leute überleben den scheiß Krieg nicht!«
MYP Magazine:
Öffentlich über seine Gefühle zu sprechen, ist etwas, das immer noch nicht selbstverständlich ist in unserer Gesellschaft – insbesondere für Männer. Viele argumentieren, dass ihre Probleme im Vergleich zu anderen eher unbedeutend seien, vor allem mit Blick auf das Elend dieser Welt. Gab es bei Euch ähnliche Gedanken bei der Entwicklung der neuen Platte? Hattest Du persönlich Zweifel, dass Deine Gefühle nicht „wichtig genug“ seien, um sie zu äußern?
Jeremias:
Ja, absolut. Ich kann Dir dazu sogar einen konkreten Moment nennen. Als ich im März 2022 in Barcelona war und den Song „Wir haben den Winter überlebt“ geschrieben habe, hatte Putin wenige Wochen zuvor die Ukraine überfallen. Ich dachte nur: Mist! Wir singen davon, dass wir den Winter überlebt haben? Leute überleben den scheiß Krieg nicht! Als ich darüber mit unserem A&R-Manager Maxi gesprochen habe, hat er mir einen wichtigen Satz mitgegeben. Er sagte, dass man menschliches Leid nicht vergleichen und Gefühle nicht gegeneinander aufwiegen solle. Und das habe ich seitdem auch nicht mehr getan…
MYP Magazine:
… weil alles Menschliche seine Berechtigung hat.
Jeremias:
Genau. Und dennoch glaube ich, dass man sich als Musiker in so einem Moment nur gutfühlen kann, wenn man ganz genau weiß, wofür man das alles macht. Natürlich wollen wir, dass die Leute unsere Songs hören; natürlich wollen wir, dass sie zu den Konzerten kommen und unsere Texte mitbrüllen. Aber absolut vorrangig ist für uns, in der Musik Ausdruck zu finden. Nur darum geht es, das ist unser Antrieb.
»Mit zunehmendem Erfolg haben wir festgestellt, dass jeder von uns auf einmal etwas anderes wollte.«
MYP Magazine:
Diese Einstimmigkeit innerhalb der Band gab es in den letzten Jahren aber nicht immer. Im Pressetext zum neuen Album heißt es: „Die Synchronisation untereinander und füreinander ging verloren, die Beziehungen gerieten aus dem Takt. Irgendwann die Frage aller Fragen: scheitern oder weiter?“ Was genau war passiert?
Jeremias:
Ich glaube, dass ein gewisser Erfolg für alle erst mal komisch ist – und sich auch auf jeden Einzelnen anders auswirkt: privat, in der Beziehung zueinander sowie in den Beziehungen zu anderen Menschen. Zwar befinden wir uns als Band immer noch auf einem entspannten Level, was den Hype angeht. Dennoch haben wir mit zunehmendem Erfolg festgestellt, dass jeder von uns etwas anderes wollte. Und diese Situation war für alle erst mal verwirrend.
»Plötzlich steht man an einem Punkt, an dem die Leute diverse Dinge auf einen projizieren.«
MYP Magazine:
Kannst Du beschreiben, warum?
Jeremias:
Als wir vor fünf Jahren mit der Band gestartet sind, waren wir einfach nur vier Freunde, die gemeinsam Mucke machen wollten. Dann haben wir gemerkt, dass das etwas Längerfristiges werden könnte – etwas, das man beruflich machen will. In unserem Fall hieß das: Man gründet eine fucking GbR und plötzlich steht man an einem Punkt, an dem einen die Leute auf der Straße erkennen und diverse Dinge auf einen projizieren. Man wird zu einer Person der Öffentlichkeit, hat diverse Geschäftspartner und es gibt erwachsene Menschen, die mit einem ihren Lebensunterhalt verdienen. All das war nicht nur super neu für uns, sondern gleich auf mehreren Ebenen anstrengend. So kam es, dass jeder von uns für sich und sein Leben etwas anderes wollte. Das war auch okay so, wir haben sehr viel daraus gelernt. Und letztendlich ist das bei vier Individuen auch normal.
»Die drei sind die einzigen, die wirklich nachvollziehen können, wie es ist, sich klein zu fühlen und riesig.«
MYP Magazine:
Was bedeuten Ben, Jonas und Olli für Dich?
Jeremias:
Diese drei Jungs sind mein Lebenselixier.
MYP Magazine:
Es gibt Menschen, die wählen hierfür den Begriff „chosen family“.
Jeremias: (lächelt)
Ich mag meine Familie sehr, daher würde ich das Wort auch nur exklusiv für sie verwenden. Aber wir vier sind genauso eng. Und ich bin sehr froh, mit diesen drei Jungs das große Abenteuer teilen zu können, das wir 2018 gemeinsam begonnen haben. Sie sind die einzigen, die wirklich nachvollziehen können, wie es ist, 70 Konzerte zu spielen; sich sicher zu fühlen mit der Öffentlichkeit und unsicher; sich geil zu fühlen und schrecklich; sich klein zu fühlen und riesig. Außenstehende werden das in der Form nie wirklich nachvollziehen können – weder das Management, noch das Label, noch das Booking. Auch nicht ein bester Kumpel. Ich bin sehr dankbar, dass wir vier diese gemeinsame Erzählung haben.
»In dem Moment, in dem es Olli nicht gut ging, war das Grund genug für mich zu sagen: Ich bin da für dich.«
MYP Magazine:
Du hast Olli den Song „Da für Dich“ gewidmet. In Deiner Stimme scheint hier eine ganz besondere Dringlichkeit und Betroffenheit zu stecken. Was hat Dich dazu gebracht, diesen Song zu schreiben?
Jeremias:
Auslöser war eine Show in Linz am 18. Mai 2022. Nach dem Auftritt kam Olli zu uns hinter die Bühne und sagte, dass er gerade eine Panikattacke gehabt habe – und dass er nicht wisse, ob er das alles noch könne und wolle. Damit meinte er nicht nur die Live-Shows, sondern auch die Band als solche. Als wir einen Tag später in Wien gespielt haben, kam mir im Backstage die Idee für den Song. Und später im Hotel habe ich angefangen, daran zu schreiben.
MYP Magazine:
„Da für Dich“ erzählt davon, dass Ollis Seele nicht nachkam in den letzten Jahren. Wie erging es Deiner eigenen Seele in dieser Zeit?
Jeremias: (zögert einen Moment)
Gut, denke ich… nein, eigentlich nicht gut, weil es meinem Bruder nicht gut ging. Aber irgendwie war ich okay damit. Oder besser gesagt: Mir selbst ging es okay. Aber weißt Du, das mit dem Songschreiben ist eine ziemlich egozentrische Sache. Ich kann am Ende immer nur über das schreiben, was mich persönlich triggert und in irgendeiner Form berührt. Alles andere ist mir egal, zumindest aus musikalischer Sicht. Soll heißen: In dem Moment, in dem es Olli nicht gut ging, war das Grund genug für mich zu sagen: Ich bin da für dich. Und das wollte ich in einem Song ausdrücken.
»Tobias? Elias? Wie heißt Du?«
MYP Magazine:
Im Song „Egoist“ erzählst Du davon, wie sich Dein eigenes Leben in den letzten Jahren verändert hat. Was hat Dich hier getriggert, dass Du des in einem Song verarbeiten wolltest?
Jeremias:
In „Egoist“ behandele ich meinen Umzug nach Berlin. In Hannover wurde ich in letzter Zeit immer öfter auf der Straße erkannt und angesprochen, das wurde mir irgendwann zu viel. In Berlin habe ich das absolute Gegenteil erlebt – und das ist heute immer noch so. Wenn ich mich hier jemandem vorstelle, gibt’s oft die Antwort: „Tobias? Elias? Wie heißt Du?“ Das fand ich vor allem am Anfang richtig geil. Ich dachte: Wie krass ist es, dass niemand etwas von mir will? Dieses Gefühl wollte ich in der Songzeile „Dann bin ich lieber nichts“ zum Ausdruck bringen.
MYP Magazine:
Wie gelingt es Ben, Jonas und Olli, sich ein Privatleben zu bewahren?
Jeremias:
Ich würde behaupten, dass es uns allen enorm hilft, jeweils einen festen Freundeskreis zu haben, der um das Gut Privatsphäre weiß. Daher funktioniert es auch für die drei noch ganz gut, so etwas wie ein Privatleben zu haben.
»Wer bin ich, dass ich den Leuten sage, was sie zu denken haben?«
MYP Magazine:
Als Ihr vor einigen Jahren in der Sendung „Inas Nacht“ aufgetreten seid, begrüßte Euch Moderatorin Ina Müller mit den Worten: „Ihr seht sooo gut aus.“ Wie geht Ihr damit um, wenn Euer Aussehen so explizit thematisiert und vielleicht sogar vor die Musik gesetzt wird? Ärgern Euch solche Momente?
Jeremias:
Ärgern ist ein viel zu großes Wort dafür. Wir haben uns damals riesig über Inas Einladung in die Sendung gefreut, daher läge mir nichts ferner, als ihr daraus einen Strick zu drehen. Sie hat in dem Augenblick nur das in Worte gepackt, was sie gedacht hat, und wollte uns ein schönes Kompliment machen. Wir jedenfalls haben uns in dem Moment sehr geschmeichelt geführt.
MYP Magazine:
Trotzdem gibt es Menschen, die Bands in erster Linie wegen ihres Aussehens gut finden – diesen Umstand beschreibt Ihr selbst auch im Song „Clown zum Freak“.
Jeremias:
Ja, safe. So etwas ist super einseitig und oberflächlich. Aber wer bin ich, dass ich den Leuten sage, was sie zu denken haben? Letztendlich hinterlässt jeder Mensch einen Eindruck. Wir können nichts dafür, wenn uns Leute aus optischen Gründen gut finden. Aber auch das ist natürlich okay… (lacht)
Es gibt übrigens eine deutsche Meme-Seite, die immer wieder ein Foto von uns nimmt und „Elevator Boys“ darunter schreibt. Ich denke mir dabei regelmäßig: Hä, warum? Aber es ist, wie es ist. Mittlerweile sind wir‘s gewohnt und ich habe aufgehört, dem nachzugehen. Man kann ohnehin nicht allen Leuten gefallen. Unmöglich. Entweder erkennen die Menschen das, was du tust, und lieben dich dafür. Oder eben nicht. Beides ist okay. Ich werde hier niemanden verurteilen. Und ich werde auch nicht versuchen, irgendwen zu überzeugen.
»Für mich ist es immer wieder faszinierend, wie aus einem einzelnen Wort eine physische, haptische Sache wird.«
MYP Magazine:
Eure jüngste Single-Auskopplung, der Song „Goldmund“, ist eine kleine Hommage an den berühmten Roman „Narziss und Goldmund“ von Herman Hesse. Welche Rolle spielt Literatur in Deinem Leben?
Jeremias:
Ich finde die Kunstform richtig geil! Das mag vielleicht ein bisschen altbacken klingen, aber für mich ist es immer wieder faszinierend, wie aus einem einzelnen Wort eine physische, haptische Sache wird; wenn so ein Wort auf ein weißes Blatt Papier gedruckt wird und dann in deinem Kopf Bilder auslöst, sobald du es gelesen hast. Ich habe zwar schon als Kind und Jugendlicher viel gelesen, zu Hause und in der Schule, aber erst vor Kurzem einige Klassiker für mich entdeckt. Die Werke von Hermann Hesse mag ich wirklich sehr, aber auch Bücher wie „Schachnovelle“ von Stefan Zweig oder „Das Parfum“ von Patrick Süskind. Ich bin einfach ein Freund guter Geschichten. „Schachnovelle“ zum Beispiel ist dramaturgisch so aufgebaut ist, dass du mit dem letzten Satz abgeholzt wirst – das erschüttert dich, weil‘s so gut ist.
»Goldmund gehört niemandem. Diesen Gedanken fand ich schön.«
MYP Magazine:
Und warum hat es Dir die Figur Goldmund so angetan?
Jeremias:
Ich habe „Narziss und Goldmund“ gelesen, als wir alle im zweiten Corona-Frühjahr steckten und jede*r ganz allein für sich war, im stillen Kämmerlein. Dieser Goldmund aber, der war draußen in der Welt unterwegs und konnte machen, was er wollte. Erst war er mit Narziss im Kloster, dann ist er dort ausgebrochen und im Anschluss durch die Dörfer getingelt. Das fand ich in dem Moment wahnsinnig schön und hoffnungsvoll.
MYP Magazine:
In den ersten Zeilen des Songs heißt es: „Goldmund, du erinnerst mich an mich“. Hermann Hesse beschreibt Goldmund in seinem Roman als jemanden, der „zu den Menschen gehöre, welchen ein Stück aus ihrem Leben verloren gegangen ist, welche unter dem Druck irgendeiner Not oder Bezauberung sich dazu verstehen mussten, einen Teil ihrer Vergangenheit zu vergessen.“ Ist dieser Aspekt ebenfalls einer, in dem Du dich widerfindest?
Jeremias:
Nein, überhaupt nicht. Meine Vergangenheit war super, ich bin dankbar für alles. Ich mochte einfach nur Goldmunds Art zu denken – damit kann ich mich persönlich absolut identifizieren. Goldmund lebt nach Lust und Laune in den Tag hinein, ist heute hier und morgen da, ist im einen Moment überschwänglich und happy und im nächsten Moment wieder bittertraurig. Dennoch macht er am Ende immer, was er will. Er gehört niemandem. Diesen Gedanken fand ich schön. Man muss aber auch aufpassen, dass es nicht zu pathetisch wird. (grinst)
MYP Magazine:
Pathos hat das Album an anderen Stellen ja auch im Überfluss.
Jeremias lacht laut.
»Ich habe den Knabenchor in Hannover gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, das einzusingen.«
MYP Magazine:
Ist der sakrale Charakter des Songs „97“ auch von „Narziss und Goldmund“ und der mittelalterlichen Klosterschule inspiriert, in der der Roman spielt?
Jeremias:
Das mag man denken. Aber tatsächlich geht das auf die Entscheidung zurück, keine weitere Klavierballade machen zu wollen. Trotzdem wollten wir mit diesem Song irgendwie musikalisch umgehen. Die Option, das Ganze mit unseren Instrumenten neu zu arrangieren, kam für uns aber nicht infrage. Also habe ich den Knabenchor in Hannover angerufen, in dem ich selbst 16 Jahre lang gesungen habe, und gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, das einzusingen. Nach ihrer Zusage habe ich ihnen kongruent zum Klavier ein Arrangement geschrieben. Deswegen klingt es so, wie es klingt. Ein sehr sakraler Vibe, aber auch richtig nice.
»Wir haben alles Mögliche ausprobiert, um am Ende doch noch zusammenzukommen.«
MYP Magazine:
Im Vergleich zu Eurem ersten Album wirkt die Musik jetzt zwar zurückhaltender, dennoch hat die neue Platte einen ganz eigenen, grundsätzlich und erwachsen wirkenden Sound. Wie ist der musikalische Charakter dieses zweiten Albums entstanden?
Jeremias:
Wie ich eben bereits angedeutet habe: In den letzten Jahren wollten alle vier zunehmend etwas anderes. Das bezog sich auch auf die Musik. Der eine wollte sich vor den PC hocken und produzieren, der andere wollte nur Klavierballaden schreiben und wieder ein anderer wollte einfach ein Mikrofon in den Raum stehen und acht Minuten lang jammen. Aus diesen vielen Gelüsten hat sich langsam und über Monate das Album entwickelt. „Von Wind und Anonymität“ ist das Ergebnis eines langen Prozesses, in dem wir alles Mögliche ausprobiert haben, um am Ende doch noch zusammenzukommen und unsere Wünsche zu vereinen.
»Wenn man da den Berg hochgeht, rutscht man tausendmal ab und fällt auch hin und wieder auf die Fresse.«
MYP Magazine:
Im März habt Ihr euch für ein paar Wochen aus dem deutschen Noch-Winter ausgeklinkt und seid nach Fuerteventura geflogen. Dort sind diverse Fotos, Videos und Visualizer für das neue Album entstanden. Warum habt Ihr euch ausgerechnet für die Kanareninsel entschieden?
Jeremias:
Wir hatten einen Ort gesucht, der das Album visuell gut zusammenfasst. Das klingt vielleicht ein bisschen platt, aber Fuerteventura heißt übersetzt so viel wie „starker Wind“. Wir empfanden das als eine schöne Analogie zum Albumtitel. Außerdem hatten wir das Gefühl, dass die Insel mit ihren steinigen und weitläufigen Hügellandschaften gut zur Musik passt. Aber dass es am Ende so perfekt aufgehen würde, war für uns alle dann doch überraschend.
MYP Magazine:
Inwiefern?
Jeremias:
Unsere erste Platte, „Golden Hour“, wirkt aus heutiger Perspektive sehr weichzeichnerisch und jugendhaft. Die Musik war zwar nicht irrelevant, aber im Vergleich zu „Von Wind und Anonymität“ ein bisschen nichtssagend. Daher wollten wir versuchen, die Essenz des neuen Albums – dieses deutliche, teilweise abgefuckte und stark kontrastierte Wesen – auch visuell adäquat darzubringen. Und dafür war Fuerteventura perfekt. Wenn man da den Berg hochgeht, rutscht man tausendmal ab und fällt auch hin und wieder auf die Fresse.
»Für mich ist das Kindsein viel faszinierender als das Erwachsensein.«
MYP Magazine:
In Eurer Musik finden sich immer wieder Referenzen auf Eure Kindheit, etwa im Song „Wir haben den Winter überlebt“ oder im Musikvideo zu „Sommer“. Wie bemerkst Du an dir persönlich das Erwachsenwerden – und welchen Aspekte schätzt Du daran?
Jeremias:
Am meisten schätze ich die Unabhängigkeit und die Freiheit, die dieses Erwachsensein mit sich bringt. Aber ganz ehrlich? Eigentlich verteufele ich das auch. Oder besser gesagt: Ich mag es nicht so gerne. Sobald ich merke, dass ich irgendwo einen erwachsenen Eindruck mache, macht mich das ein bisschen traurig. Für mich ist das Kindsein viel faszinierender als das Erwachsensein. Als Kind ist man so losgelöst und einfach für sich, daran denke ich immer wieder gerne zurück. Aber unabhängig zu sein und für sich selbst entscheiden zu können, was man machen will, ist natürlich auch nicht uncool. (lächelt)
»Am liebsten genieße ich gerade die Stille.«
MYP Magazine:
Zu Beginn unseres Gesprächs haben wir über die emotionale Verbundenheit gesprochen, die Hörer*innen in Eurer neuen Platte finden können. Gibt es für Dich persönlich ein Album, das Dich in den letzten Jahren begleitet hat und Dir besonders am Herzen liegt?
Jeremias:
Mich hat „Am Wahn“ von Tristan Brusch sehr mitgenommen – das habe ich sogar eben noch im Taxi gehört. Dieses Album mag ich sehr. Und vor kurzem bin ich auf den Song „Die Freiheit“ von Georg Danzer gestoßen, den mag ich ebenso… (schweigt einen Moment) Mann, sorry! Eigentlich würde ich Dir gerne sehr viel konkretere Sachen nennen.
MYP Magazine:
Vielleicht ist das etwas so Privates und Intimes, dass man es in einem Interview nicht preisgeben sollte: Musik, bei der man seine Seele öffnet.
Jeremias:
Das stimmt. Es ist aber auch so, dass ich vor allem in den letzten beiden Jahren wenig Musik gehört habe. Am liebsten genieße ich gerade die Stille. Aus diesem Gefühl heraus habe ich auch den letzten Song des Albums geschrieben. Ist schon strange, oder? Ich bin erst 23 und suche jetzt schon die Stille. Ich weiß nicht, wie das mit 80 werden soll.
Mehr von und über JEREMIAS:
Interview & Text: Jonas Meyer
Fotografie: Maximilian König
Mit besonderem Dank an Franziska Kokocinski.