Artists Of The Future (1) – Hoe__mies

Interview — Artists Of The Future (1)

Hoe__mies

Gizem Adiyaman und Lucia Luciano schmeißen fantastische Hip-Hop-Partys, bei denen vor allem Frauen, die queere Community und People of Color eine Plattform erhalten. Wir haben das Duo zum Interview getroffen.

30. Dezember 2018 — MYP N° 24 »Morgen« — Interview: Katharina Weiß, Fotografie: Lea Bräuer

Teil 1 der Serie »Artists Of The Future«:
Hoe__mies

Teil 1 der Serie
»Artists Of The Future«:
Hoe__mies

Wenn Aktivismus auf Kunst trifft: Für weibliche, trans- und nicht-binäre Künstler*innen kann die Chance, im Showgeschäft Karriere zu machen, wie ein besonders trickreiches Würfelspiel erscheinen. Das DICE Conference + Festival will die Machtstrukturen in der Unterhaltungsindustrie verschieben. Deshalb müssen männliche Künstler während der drei DICE-Tage im Publikum bleiben. MYP traf sich mit einigen internationalen Künstler*innen im Club Arkaoda in Berlin-Neukölln.

Zum Auftakt unserer fünfteiligen Serie präsentieren wir euch das Berliner Hip-Hop-Kollektiv Hoe__mies. Gizem Adiyaman und Lucia Luciano leisteten Pionierarbeit und installierten innerhalb der Hauptstadt-Szene das erste Hip-Hop-Partyevent für vorrangig weibliche Künstler*innen of Color.

»Ich gehöre Minderheiten an, denen ich durch meine Arbeit zu mehr Sichtbarkeit verhelfen will.«

Katharina:
In welcher Beziehung stehen die Begriffe „Künstler*in“ und „Aktivist*in“?

Lucia:
Beide eint das Verlangen, sich auszudrücken, um auf bestimmte Umstände und Realitäten aufmerksam zu machen. In meinem Fall heißt das: Ich bin schwarz und eine Frau, damit gehöre ich Minderheiten an, denen ich durch meine Arbeit zu mehr Sichtbarkeit verhelfen will.

Gizem:
Ich komme ursprünglich aus dem Aktivismus und habe mich erst später der Musik zugewandt. Die Kunst, die mich interessiert, ist immer subversiv oder systemkritisch. Da im Hip-Hop besonders oft marginalisierte Geschichten erzählt werden, arbeiten wir daran, diese Stimmen zu amplifizieren.

»Wir leben nun mal in einer sexistischen, rassistischen Gesellschaft.«

Katharina:
Hip-Hop und verbale Grenzüberschreitungen, etwa in die sexistische Richtung, gehen oft Hand in Hand. Welche Gedanken macht ihr euch über dieses Thema?

Lucia:
Hip-Hop ist ein gesellschaftliches Produkt. Und wir leben nun mal in einer sexistischen, rassistischen Gesellschaft. Diese Realitäten werden auch von manchen Künstler*innen aufgenommen und reproduziert. Oftmals auch, weil eine kapitalistische Kaufkraft dahintersteht, die die Objektifizierung von Frauen unterstützt.

Gizem:
Das kritisieren wir auch – und zeigen stattdessen alternative Künstler*innen auf, die auch mit viel Erfolg im Hip-Hop stattfinden, ohne sich an Klischees abarbeiten zu müssen.

Lucia:
Trotzdem haben wir auch unsere problematic favourites, auch guilty pleasure songs genannt: Das sind Songs, die inhaltlich zwar problematisch sind, aber die einem trotzdem gefallen.

»Wir versuchen bewusst, niemanden auszugrenzen, dem der Zugang zu akademischen Diskursen fehlt.«

Katharina:
Wie hat ein gewisser Kampf um Identität euren Lebensweg geprägt?

Lucia:
Der Kampf ist noch nicht zu Ende. Je mehr wir lernen, desto stärker wird der Wunsch, etwas zu verändern.

Gizem:
Ich habe auch durch mein Studium ein erweitertes Bewusstsein dafür entwickelt, wie sehr das Thema Identität meinen Alltag prägt. Die spannende Erfahrung: Sobald du ein Vokabular für diese Probleme kennst und Wörter hast, um genau die Dinge zu benennen, die schief laufen, fällt es einem einfacher, deren Komplexität zu durchdringen.

Lucia:
Auf der anderen Seite versuchen wir auch bewusst, niemanden auszugrenzen, dem der Zugang zu akademischen Diskursen fehlt. Die Musik kann da auch Brücken bauen.

»Ich bin so viel mehr als nur Türkin.«

Katharina:
Vervollständigt den Satz: Ich hasse es, als … gelabelt zu werden?

Lucia:
… als „süßes Girl“. Ich werde lieber als rauer wahrgenommen.

Gizem:
Schwierig. Erst hat es mich zum Beispiel geärgert, dass ich ungefragt als Türkin bezeichnet wurde. So würde ich mich nicht präsentieren, ich sehe mich als Berlinerin. Klar, meine Eltern stammen aus der Türkei und das ist Teil meiner Wurzeln – aber korrekt ist es nicht. Ich bin so viel mehr als nur Türkin.

»Oft denken sich Veranstalter: ›Die laden wir ein, das sind zwei süße Mädels, die kann man super vermarkten.‹«

Katharina:
Ich würde stattdessen gerne für … gewertschätzt werden?

Lucia:
… für die Community, die wir mittlerweile aufgebaut haben. Und dafür, dass wir uns trauen – auch wenn nicht immer alles perfekt läuft. Wir versuchen es wenigstens.

Gizem:
Oft denken sich Veranstalter: „Die laden wir ein, das sind zwei süße Mädels, die kann man super vermarkten.“ Ich würde mir aber wünschen, dass sich Menschen mehr mit den Inhalten beschäftigen, die wir vorantreiben. Wir laden zum Beispiel jede Woche eine neue Playlist auf Spotify hoch. Der Fokus liegt dabei auf Frauen, queren Künstler*innen und POC-Produzenten, die mehr Aufmerksamkeit verdient haben.

Katharina:
Wann können wir euch zum wieder mal live sehen?

Gizem:
An Silvester laden wir unsere Freunde und alle Interessierten zur Party in der Arena ein. Die Details geben wir rechtzeitig auf unseren Social-Media-Kanälen bekannt.


Sean Chancela Mongoza

Editorial — Sean Chancela Mongoza

Vortex Of Emotions

Tel Aviv-based actor Sean Mongoza can't keep still. To him, his own change is key to tomorrow. Sasha Prilutsky and Moran Moradi met him to capture some moments with the camera.

27. Dezember 2018 — MYP N° 24 »Tomorrow« — Text: Sean Chancela Mongoza, Creative Direction & Photography: Sasha Prilutsky (DVISION), Video: Moran Moradi (DVISION), Music: Mr. Bungle

Tomorrow is all I have. Tomorrow is what led me when we left Congo.
Tomorrow is what gave me faith to run away from home when I was 6.
I don’t know what’s behind this door.

My tomorrow is a mystery to me.

For me, thinking about tomorrow is a vortex of emotions.
It’s both happiness and sadness, stress and giving hope.

Tomorrow is the summary of all the outcomes of energy I spend in here and now in being alive.

My tomorrow doesn’t scare me. I know it’s gonna bring me beautiful things.

My change is key to my tomorrow.


Philipp Christopher

Interview — Philipp Christopher

Gefangen in der Zukunft

Überlebenskampf im All: Philipp Christopher brilliert in der internationalen YouTube-Produktion »Origin« in der Rolle eines gequälten Außenseiters und impulsiven Fieslings. Mit uns geht die Reise zurück zu den Anfängen des Schauspielers: in eine Bar.

20. Dezember 2018 — MYP N° 24 »Morgen« — Interview: Katharina Weiß, Fotos: Steven Lüdtke

Haben wir bald einen neuen deutschen Star in Hollywood? Für Philipp Christopher stehen die Chancen auf jeden Fall nicht schlecht. Der Schauspieler bekam eine Hauptrolle in der „YouTube Premium“-Produktion “Origin“ und konnte an der Seite von „Harry Potter“-Ikone Tom Felton und „Game of Thrones“-Darstellerin Natalia Tena zeigen, warum sich 13 Jahre New York samt einer „Method Acting“-Ausbildung an der „School of Visual Arts“ ausgezahlt haben. Der gebürtige Berliner spricht akzentfrei Englisch, sein Spiel steht dem der internationalen Kollegen in nichts nach. Im Gegenteil: In „Origin“ hat der 38-Jährige mit der Figur Baum Arndt eine Rolle übernommen, die dem Zuschauer sofort ins Auge sticht. Halb als gequälter Außenseiter, halb als impulsiver Fiesling manövriert er sich durch die ersten Episoden – und wächst einem dabei erst nach und nach ans Herz.

Philipp Christopher selbst hingegen braucht keinen Anlauf, um mit Situationen warm zu werden. Wir treffen den gebürtigen Berliner in der Vesper Bar. Die einzige Cocktailbar direkt auf dem Kurfürstendamm bietet Bartender-Kultur in elegantem Ambiente. Dort verbreitet der Gentleman mit seiner schicken Fliege und den markanten Wangenknochen ein prickelndes James-Bond-Feeling. Genau wie der berühmte Geheimagent genießt auch Philipp Christopher seinen Feierabend am liebsten mit einem Grey Goose Martini. Dass er sich mit Drinks auskennt, beweist er auch gerne mal hinter dem Tresen. Und so dauert es nicht lange, bis er auch hier in der „Vesper Bar“ plötzlich einen Cocktail-Mixer in der Hand hält.

Während des Schauspielstudiums in New York arbeitete Philipp Christopher als Barkeeper. Vor kurzem landete er wieder in dem Hotel, das ihn damals angeheuert hatte. Doch dieses Mal war er nicht zum Shaken da, sondern zur Vorstellung seiner neuen Serie. In „Origin“ befindet sich eine Gruppe Fremder auf dem Weg zu einem fremden Planeten. Doch mitten auf der Reise geht etwas schief und das Transportschiff wird zum dystopischen Dschungel, auf dem das Überleben eine Herausforderung ist.

»Mir ist wichtig, dass ich schnell den Überblick gewinne.«

Katharina:
Überwiegen Angst oder Faszination, wenn du an die Möglichkeit denkst, fünf Lichtjahre von der Erde entfernt eine Kolonie zu gründen?

Philipp:
Angst. Der Mensch hat das ja noch nie gemacht und wir wissen überhaupt nichts darüber. Alles wäre neu. Zuerst würde ich vermutlich ein Gefühl der Furcht empfinden – die Faszination kommt danach.

Katharina:
Diese Serie ist eine Art „Big Brother“ im Weltraum. Welche soziale Rolle würdest du einnehmen, wenn dir das gleiche Schicksal wie deinen Protagonisten widerfahren würde? Gehörst du zu den Neugierigen oder zu den Sicherheitsbedürftigen?

Philipp:
Erst mal zurücklehnen und die anderen beobachten (lacht). Meine Figur wirkt zwar in der ersten Folge recht führungsstark, er reagiert aber eher aus Furcht und Frustration. Später übernehmen andere Charaktere die Führungsrolle. Aber ich persönlich? Ich nehme im echten Leben schon mal das Zepter in die Hand. Ich fühle mich ungerne ohnmächtig und versuche immer zu verstehen, was abgeht. Mir ist wichtig, dass ich schnell den Überblick gewinne.

»Es ist spannend zu sehen, was Menschen mit dieser nahen Zukunft anstellen, die noch meine Gegenwart kannten.«

Katharina:
Welche Science-Fiction-Motive inspirieren dich am meisten?

Philipp:
Ich finde Welten, die in völlig entfernter Zukunft spielen, weniger interessant als Stoffe, in denen unsere Welt in ein paar Jahrzehnten entworfen wird – wie zum Beispiel in „Blade Runner“. Es ist spannend zu sehen, was Menschen mit dieser nahen Zukunft anstellen, die noch meine Gegenwart kannten.

Katharina:
Welche Gadgets, mit denen die Menschen in „Origin“ ihren Alltag bestreiten, würden dich reizen?

Philipp:
Es gibt ja jetzt schon VR-Brillen, aber in „Origin“ ist die Technik vollkommen ausgereift und man kann durch andere Welten reisen, sich darin bewegen und mit dieser virtuellen Realität interagieren. Und mit Space Ships zu reisen – also als normaler Mensch im Weltraum wirklich fliegen zu können – hat natürlich auch seinen Reiz.

Katharina:
Die in der Serie gezeigte Extremsituation lässt Raum für viele philosophische Gedankenspiele. Eine Frage, die man sich da stellen kann: Wie oft schafft man es, problematische Tatsachen durch positives Denken zu ändern?

Philipp:
Oft. Ich bin ein positiv denkender Mensch und versuche, aus allen Situationen einen Gewinn herauszukitzeln.

Katharina:
Wie viele Menschenleben müssten gerettet werden können, damit du bereit wärst, dein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen?

Philipp:
Das kommt vermutlich auf den Menschen an. Wenn es mein Sohn wäre, dann ganz klar: ein Leben. Krasse Frage! Wahnsinnig schwer zu sagen…

»Ganz besonders interessant ist es, wenn sich das Böse versteckt hält.«

Katharina:
Wann macht das Böse am meisten Spaß?

Philipp:
Immer. Aber ganz besonders interessant ist es, wenn es sich versteckt hält. Kein direktes „Ich bin das Böse!“, sondern ein Agieren aus dem Hintergrund, das sich erst nach langem Lauern zeigt.

Katharina:
Was ist die wahre Stärke: Macht über die Maschine oder Macht über den Menschen?

Philipp:
Macht über den Menschen!

Katharina:
In jeder Episode enthüllt die Serie die Vorgeschichte eines „Origin“-Charakters. Du spielst einen Hochstapler namens Baum Arndt, der sich irgendwann in einem Spiel wiederfindet, dass er nicht austricksen kann. Wann erfährt man mehr über dich?

Philipp:
Auf dem Schiff lernt man ihn zunächst als Außenseiter kennen, der gelegentlich fiese Kommentare einstreut. Die Hintergrundgeschichte in der sechsten Episode zeigt eine ganz andere Facette meiner Rolle. Hier wird erklärt, wieso Baum so ist wie er ist, und man bekommt seine emotionale Seite zu sehen.

Katharina:
Wie hoch schätzt du seine Überlebenschancen ein?

Philipp:
Hoch. Er wird sich so durchschlängeln.

»Wir haben die Einsamkeit schnell bekämpft.«

Katharina:
Nimm uns mal mit hinter die Kulissen: Wie war es, sechs Monate lang in Südafrika zu drehen?

Philipp:
Wir haben in den riesigen „Cape Town Filmstudios“ gedreht und ansonsten viele abgefahrene Locations in Kapstadt und Umgebung ausgesucht. Ein verlassenes Hotel direkt am Strand ist zum Beispiel dabei. In der Zeit haben wir uns alle ganz gut kennengelernt. Ich selbst hatte auch meine Frau und meinen dreijährigen Sohn dabei, der dort in eine englische Montessori-Kita ging. Deshalb hatte ich es wahrscheinlich etwas leichter als andere Kollegen, die sich alleine einfinden mussten. Wir Schauspieler und das gesamte Team haben aber viel miteinander unternommen – und so haben wir die Einsamkeit schnell bekämpft.

Katharina:
Welche soziale Rolle hast du am Set eingenommen?

Philipp:
Hm, vielleicht ein kleines bisschen den Klassenclown.

Katharina:
Wie kann man sich eure Freizeitaktivitäten so vorstellen? Bartouren mit Tom Felton und Safaris mit der ganzen Crew?

Philipp:
Mit meiner Familie habe ich eine Safari unternommen, mit Tom und weiteren Kollegen habe ich zum Beispiel einen Reitausflug am Strand gemacht. Da habe ich einen immensen Respekt vor dem Reiten bekommen. Ich habe lange nicht mehr so viel Schiss gehabt! Das Pferd fing irgendwann an zu galoppieren – ich sah mich schon stürzen und gelähmt wieder aufwachen. Wegen der laufenden Dreharbeiten durften wir keine gefährlichen Freizeitaktivitäten wie etwa Fallschirmspringen unternehmen. Es wäre einfach zu riskant gewesen, wenn sich da jemand verletzt hätte und so die ganze Produktion durcheinandergeraten wäre. Aber ganz im Ernst: Gegen diese Reiterfahrung wäre ein Sprung aus dem Flugzeug vielleicht fast entspannt gewesen.

Katharina:
Was habt ihr von dem Leben außerhalb der Arbeitsblase mitbekommen?

Philipp:
Über Bekannte bin ich zu einem Projekt namens „KidsPot“ herangeführt worden, bei dem ein Ehepaar in einem der sozial schwachen Townships einen Kindergarten organisiert. Dieser Kindergarten soll arbeitende oder arbeitssuchende Eltern entlasten, die sich sonst keine Betreuung leisten können. Davon habe ich auch all meinen Kollegen erzählt, denn wie die Menschen in den ärmeren Nachbarschaften leben müssen – das ist schon heftig! Das hat sich eingebrannt. Daher werde ich dieses Projekt auch weiterhin unterstützen. Außerdem ist es toll zu sehen, wenn Spenden direkt ankommen – und am nächsten Tag zum Beispiel eine neue Schaukel auf dem Spielplatz steht.


David Schermann

Editorial — David Schermann

Insomnia

In Hongkong haben Fotograf David Schermann und Sozialpsyschologin Katharina Dinhof Menschen in ihren Schlafzimmern besucht und mit ihnen Nachtspaziergänge unternommen. Dabei haben sie sie zu ihrer Schlafqualität und ihren Erfahrungen mit Lichtverschmutzung befragt.

14. Dezember 2018 — MYP N° 24 »Morgen« — Fotografie: David Schermann, Interviews: Katharina Dinhof

»Am Anfang dachte ich mir, dass mich die Lichter in Hong Kong nicht beeinträchtigen. Ich schlafe immer mit zugezogenen Vorhängen. Aber gestern vergaß ich, sie zu schließen. Plötzlich drehte mein Nachbar sein Licht auf und weckte mich dadurch auf. Im Allgemeinen hat man in Hongkong überhaupt keine Privatsphäre. Die Häuser sind so dicht aneinander gebaut, dass man jeden Schritt seines Nachbarn verfolgen kann. Aber auf der anderen Seite herrscht hier auch eine große Anonymität.«

— Ozzy

»Es scheint mir, als würden die Menschen in Hongkong bunte Neonlichter lieben. Geschäfte, Cafés und große Neonschilder überfluten die Straßen Hongkongs, besonders in den Gegenden wie Mong Kok. Die Beleuchtungen sind so hell, als wäre es Tag. Selbst der Himmel ist nie richtig dunkel in der Nacht. Dadurch leiden viele Menschen unter Schlafproblemen, das Gleiche galt für mich, als ich als Austauschstudent für ein halbes Jahr dort gelebt habe. Im Gegensatz zu Cafés in Europa, in denen man oft im Trüben, romantischen Kerzenlicht sitzt, sind die Cafés in Hongkong oft mit roten, blauen oder lila Lichtern angestrahlt. Geschäfte versuchen, mit bunten, hellen Beleuchtungen mehr Kunden anzulocken. Auf Dauer schädigt die anhaltende und intensive Beleuchtung die Sehkraft der Menschen. Das größte Problem war für mich persönlich das Einschlafen. Man hat Hongkong den Namen ›Stadt, die nie schläft‹ gegeben. Außerdem verpassen die Menschen durch die schlimme Lichtverschmutzung den schönen Sternenhimmel, was ich ja sehr schade finde.«

— Lulu

»Ich habe den Eindruck, dass sich viele nicht über den Schaden bewusst sind, den das Licht anrichtet. Menschen, die in Gegenden leben, in denen keine exzessive Lichtverschmutzung auftritt, werden die Neonlichter eher schön finden. Die zahlreichen Neonreklamen Hongkongs werden wohl als wichtiges Merkmal der Stadt gesehen. (…) Wenn ich Einschlafprobleme habe, dann meistens aus persönlichen Gründen, weil ich mir Sorgen über die Zukunft und meinen jetzigen Job mache.«

— Jessica

„Ich musste mein Wohnheim verlassen, da der benachbarte Fußballplatz mit seinen
Flutlichtern direkt in mein Zimmer schien. Trotz zugezogener Vorhänge war es immer noch störend hell.“

— Kathy


Fynn Kliemann

Portrait — Fynn Kliemann

Konservierte Kindheit

Fynn Kliemann führt uns durch die Rumpelkammer seines Do-it-yourself-Domizils „Kliemannsland“ und zeigt uns, warum es zu Hause einfach am schönsten ist.

8. Dezember 2018 — MYP N° 24 »Morgen« — Text: Katharina Weiß, Fotos: Steven Lüdtke

Fynn Kliemann ist einer, der sich gegen das Erwachsenwerden wehrt. Nichts Besonderes, könnte man meinen, vor allem nicht bei einem jungen Mann in seinen späten Zwanzigern. Doch bei Fynn Kliemann ist das etwas anders – denn die halbe Nation schaut ihm dabei zu. Mit wenig Trotz und viel Virtuosität lässt er uns auf YouTube von jenen Kindheitstagen träumen, an denen wir mit uns in Papas Garagenwerkstatt die Hände zusammenleimen durften. Oder an denen wir mit anderen kleinen Helden zu langen Eroberungstouren aufbrachen, die uns durch unsere Kindheit führten, querfeldein durch das moosbewachsene Hinterland der Republik. Bei manchen von uns liegt das vielleicht im Allgäu, bei anderen vielleicht im Sauerland. Oder eben, wie im Falle Kliemann, in der norddeutschen Provinz.

Die eierlegende Wollmilchsau – der gelernte Webdesigner ist Agenturchef, YouTube-Heimwerker, Autor und neuerdings ziemlich guter Musiker – hat hier inmitten seiner Heimatlandschaft ein Do-it-yourself-Domizil errichtet: Das „Kliemannsland“ liegt in einem Kaff namens Rüspel. Nach Bremen sind es 50 Kilometer, nach Hamburg 70. Heute empfängt uns der Hausherr bei schönstem Schmuddelwetter: Kein Flecken Blau am Himmel, dafür perlen die Tropfen schön vom goldenen Herbstlaub herab, das den braunen Boden vor den Backsteingebäuden des Hofs verdeckt.

Spaß am Dreck gehört zum Prinzip der Landliebe.

Kliemann hat neue Schuhe an, rot-weiß-karierte Vans, die nach dem Shooting im Matsch auch ordentlich Braun in ihrer Farbpalette haben. Aber ihn scheint das nicht zu stören. Spaß am Dreck gehört zum Prinzip der Landliebe. Sein Kliemannsland, ein mehr als drei Hektar umfassendes Gelände, dient seit dem Frühjahr 2016 als Spielwiese für Selbermacher: Wessen Idee von Fynn Kliemann und seinem Team abgenommen wurde, der kann die alten Scheunen und Ställe als Tüftelhütte, Atelier oder Drehort nutzen. Immer mit dabei: der Digitalkanal „Funk“, der das Treiben hier im Auftrag des NDR mit der Kamera einfängt.

Der Wahnsinn hält sich in Grenzen – das empfinden seine Fans als überraschend angenehm.

Wer Teil des Ganzen werden möchte, betätigt den „Fynnder“ auf der Kliemannsland-Website. Hier kann man sich als Helfer bewerben und eigene Vorschläge einreichen. Wer jedoch denkt, dass es Aussteiger und Aktivisten sind, die hier ihren Sehnsuchtsort gefunden haben, der irrt sich – nach Promiskuität und Hedonismus wird hier vergebens gesucht. Im Kliemannsland packen Graphikdesigner aus Köln-Rodenkirchen, Fitnesstrainer aus Hamburg-Eimsbüttel oder zahntechnische Assistenten aus Berlin-Neukölln mit an. Wer nach den Allerqueersten, den Vegansten oder Durchgekanlltesten sucht, für den hätte das Kliemannsland einen enttäuschenden Beigeschmack der Mittelmäßigkeit. Auch mit routinierten Gruppenorgien und Drogenexzessen kann Kliemann wenig anfangen: „Wir sind keine komische Hippie-Kommune.“ Der Wahnsinn hält sich in Grenzen – und das empfinden seine Fans als überraschend angenehm.

Was könnte man nicht alles schreiben, um in diesen Gutshof generationenspezifische Seelennöte hineinzuinterpretieren: Ein Märchenland für Millenials, ein Schutzgebiet der Smartphone-Jünger, denen jeden Tag aus einem anderen Grund die neu erwachte Spießigkeit nachgesagt wird: Es wird nicht mehr gesoffen und ordentlich randaliert, stattdessen wollen wir alle nur mit Avocados gefüttert werden und in unserer Instagram-Story das Ergebnis des letzten Yoga-Workshops festhalten. Wir lieben unsere Funktionsjacken und unsere langjährigen Lebenspartner, mit denen wir eher in den Schwarzwald als nach Sri Lanka fahren.

»Mann, wäre ich jetzt gerne zu Hause, da hätte ich was zu tun.«

Doch was soll all die Ironie, wenn man auch mal zugeben kann: Kuscheln ist toll, das Resultat eigener Hände Arbeit macht wahrhaftig stolz, ein Lagerfeuer wärmt am innigsten – und zu Hause ist es einfach am schönsten. Wenn Kliemann in der Stadt auf Events ist, denkt er sich oft: „Mann, wäre ich jetzt gerne zu Hause, da hätte ich was zu tun.“ Und seine Vorstellung von Glück findet viele Anhänger, die in ihm endlich ein Aushängeschild gefunden haben. Ein paar von ihnen arbeiten mittlerweile für die Marke Kliemannsland, sie sind dafür aufs Dorf gezogen. Rüspel und die ganze Zevener Umgebung profitieren von den neuen Bewohnern und den vielen Besuchern. Auch die FAZ bewundert das und schreibt: „Etwas pathetisch könnte man sagen: Fynn Kliemann holt die jungen Menschen, die es seit Jahren in die Metropolen zieht, zurück aufs Land.“

Fynn Kliemann hat das »Niemals-aus-dem-Dorf-gekommen-Sein« zum Lifestyle-Ziel erklärt.

So hat er einfach mal so im Alleingang ein Konzept zur erfolgreichen Bekämpfung der Landflucht aufgestellt. Er hat aus der Not eine Tugend gemacht und das „Niemals-aus-dem-Dorf-gekommen-Sein“ zum Lifestyle-Ziel erklärt. Absehbar war das lange nicht: „Hier zu leben war damals eher eine ‚Aus-Versehen-Entscheidung‘ – ich bin nicht rausgekommen. Früher fand ich das sehr doof. Ich wollte ja auch unbedingt weg. Es war immer der ganz feste Plan, hier abzuhauen“, erzählt Kliemann, der nach dem Abitur eine Ausbildung zum Webdesigner in Bremen anfing und sich noch in den ersten Ausbildungsmonaten selbstständig machte. Die Umzugsfinanzierung wurde immer weiter verschoben, er pendelte.

Dass Kliemann abseits davon sein Schicksal von Anfang an selbst in die Hand nahm, wird auch durch eine kleine Schummelei in seinem Lebenslauf deutlich: Auf Wikipedia stehen zwei verschiedene Geburtsjahre zur Option, 1990 und 1988. Der Grund? „Ich habe die ersten Jobs mit 18 gemacht. Und wenn du zu einem Konzern hingehst, der viel Geld hat, dann geben die das ungern jemandem, der die Cap schrägt trägt, dort mit kaputten Skateboard-Schuhen reinläuft, augenscheinlich überhaupt kein Geld hat und zudem noch keine zwanzig ist“, erklärt Kliemann, warum er sich für kurze Zeit zwei Jahre älter machte. Auch sonst nimmt er es mit genauen Jahresdaten nicht so ernst, die kann er sich einfach nicht gut merken. „Die Mutter meiner Freundin weiß zu jedem Ereignis immer das Datum, die müsst ihr fragen, ich selbst weiß gar nix“, scherzt er. Mit seiner Partnerin Franzi ist Kliemann zusammen, seitdem er 15 Jahre alt ist.

»Wo ich schlafe und was ich esse, ist mir egal. Geld brauchst du nur, um Ideen zu realisieren.«

Wer die vielen Karrierestationen des heute 28-Jährigen betrachtet, fragt sich schnell: Wurde er mit der goldenen Spiegelreflexkamera in der Hand geboren? Gehören seine Eltern zum deutschen Kreativadel? Aber nein. Zu markigen Sätzen wie „Bei Geld fühle ich absolut gar nichts!“ kam Kliemann nicht, weil dieses immer im Überfluss vorhanden war. „Reichtum hat keine Rolle in unserer Erziehung gespielt“, sagt der älteste von drei Brüdern. „Wir waren Mittelschicht, aber unterste. Es ging immer so, aber viel war nie da.“ Er betont, dass er keine Leidensgeschichte zu erzählen hätte, weil ihm und seinem Umfeld das immer ziemlich egal gewesen sei. Fehlendes Kapital wurde erst dann zum Störfaktor, wenn ihm das Werkzeug fehlte, um Dinge umzusetzen, und er sich keine Kamera leisten konnte, um ein Video zu drehen, oder eine Gitarre fehlte, um Musik zu machen. „Wo ich schlafe und was ich esse, ist mir egal. Geld brauchst du nur, um Ideen zu realisieren. Wenn es deshalb scheitert, dann nervt das so kolossal, dass ich irgendwann angefangen habe, so viel zu arbeiten und mich so vorzubereiten, dass es diese Einschränkungen nicht mehr gibt.“

»Du musst lernen, wie du denen deine Ideen so verkaufst, dass sie diese genauso gut finden wie du.«

Auf der Metaebene hat Kliemann hier ein Morgenland neuer Arbeitsweisen erschaffen, das die Kreativität befreien soll. Für seine vielen Geistesblitze war ein einziger Job nie genug. Schnell merkte er: „Ich brauche vier, damit ich das machen kann.“ Was übrig blieb, investierte er in ein neues Projekt, bis sich die verschiedensten Perspektiven langsam aufbauten. Doch dann lernte er, dass es Baustellen gibt, die so teuer und groß sind, dass auch sechs Jobs nichts helfen. Hier begann das Netzwerken: „Dann brauchst du Kontakte zu Menschen, die genug Kapital haben. Und du musst lernen, wie du denen deine Ideen so verkaufst, dass sie diese genauso gut finden wie du. Wofür du wiederum eine Referenzliste mit Sachen brauchst, die schon funktioniert haben.“ Nur so können Herzensprojekte wie das Kliemannsland realisiert werden. Eine ganze Maschinerie darum herum macht es möglich, dass dieses Landstück zum Ort kleiner und großer Visionen wird. Und auch wenn der NDR die Sendung „Kliemannsland“ bezuschusst: Für die Haltungskosten des Hofs zahlen nur Kliemann und sein Geschäftspartner. Zudem leben mittlerweile fünf Angestellte hier, die teilweise gleichzeitig Redakteur und Gärtner sind. Bei so viel kreativer und personeller Verantwortung kann man kein Trödler sein: „Wenn du viel schaffen willst, brauchst du eine Struktur im Hintergrund, damit das halbwegs glücklich abläuft“, sagt Kliemann, der während des Gesprächs flink in seinen Laptop hämmert oder mit schnellen Strichen kleine Häuser oder dekorative Ornamente auf einen Notizzettel kritzelt. Bis er zum ersten Mal Augenkontakt hält, dauert es etwas, aber er verströmt so eine lässige Energie, dass er einem trotzdem schnell ans Herz wächst. Er selbst kann nie still sitzen, aber sein Umgang mit Menschen ist sehr unaufgeregt.

»Mach deinen Saft selber oder stell mich ein!«

Auch seine neue Assistentin Antje scheint glücklich mit ihrem Arbeitsplatz zu sein: Via Instagram suchte er nach jemandem, der sein „halbes Gehirn“ wird. Neben einem Lebenslauf schickte sie ihm eine Überraschungsbox. Kliemann testete zu jenem Zeitpunkt, ob der übermäßige Genuss von Karottensaft auf Dauer die Haut wirklich orange macht. Antje packte eine Reibe, ein Kilo Karotten und eine Zitrone in die Kiste und schrieb: „Mach deinen Saft selber oder stell mich ein!“ Dem Maestro ein Getränk zu reichen ist allerdings eher ein seltenes Vergnügen. Meistens kämpft sich Antje durch Presseanfragen und kümmert sich um den Webshop sowie seine Agentur-Termine.

Wenn zusammen gefeiert wird, dann immer mit Schaulustigen und Kliemann-Fans. Bekannt sind mittlerweile die Hoffeste mit klingenden Namen wie „Schnabulier und Trödel ma!-Tage“ oder der „WuWiZaKliLa“ (Wunderlicher Winterzauber Kliemannsland), der dieses Jahr wieder am dritten Advent Besucher nach Rüspel lockt. Mit dabei: jede Menge Überraschungen und oft auch ganz spezielle Gäste, die für die musikalische Untermalung sorgen. So waren zum Beispiel schon Clueso oder Casper vor Ort.

»Ich habe keinen Bock darauf, in irgendwelchen Containern eingepfercht zu sein.«

Doch selbst die konnten Kliemann, der im Oktober das Album „Nie“ veröffentlichte, das Tourleben bisher nicht schmackhaft machen: „Ich habe das bei Bekannten und Freunden mitbekommen, das sah immer scheiße aus: Ich habe keinen Bock darauf, in irgendwelchen Containern eingepfercht zu sein und abgeschottet hinter Sicherheitsabsperrungen zu sitzen, um dann wieder in den total verfurzten Tourbus zu steigen und zum nächsten Stop zu fahren. Alle haben schlechte Laune, sind schlecht bezahlt, überarbeitet und übermüdet. Dann habe ich auch noch Schiss vor den Auftritten. Ich sehe da nix Positives dran“, sagt Kliemann. Er klimpert lieber auf dem alten „Gustav Lutze“-Klavier im Festsaal des Anwesens vor sich hin, das sich das Kliemannsland mit der Gemeinde teilt. Wenn nicht gerade ein Dorfbewohner getauft, getraut oder beerdigt wird, dann feiern hier die Stadtbesucher und Kliemann-Jünger. Und vielleicht hält sich auch ein Pärchen an den Händen und singt leise mit, wenn mal wieder jemand den robust-romantischen Song „Zuhause“ anstimmt: „Mein Zuhause ist kein Ort, das bist du.“


Kaplan Weichlein

Portrait — Kaplan Weichlein

Wie fühlt sich spiritueller Instinkt an?

Wir sprechen mit einem katholischen Kaplan über das Mysterium der inneren Berufung, geistige Intimität und die Einsamkeit im Priesteramt.

24. November 2018 — MYP N° 23 »Instinkt« — Text: Katharina Weiß, Fotos: Maximilian König

Es ist Samstag, genauer gesagt der 25. August 2018. In Berlin findet gerade der „Zug der Liebe“ statt, eine öffentliche Tanzparade, auf der viele freizügige Technojünger den Slogans diverser NGOs und Initiativen huldigen – wie etwa „Reporter ohne Grenzen“, „Mission Lifeline“ oder „Moabit hilft“. Wir nehmen einen ähnlichen Weg wie die Feierdemonstranten, biegen jedoch kurz vor deren Ziellinie ab – zusammen mit unserem Fotografen Maximilian König zieht es mich heute an einen Ort, der für Prozessionen anderer Art bestimmt ist. Unweit der S-Bahn-Station Frankfurter Allee steht die katholische Pfarrkirche St. Mauritius. Hier – im Einzugsgebiet des „Berghain“, des „Polygon Club“ oder der „Rummels Bucht“ – predigt seit 2015 der junge Kaplan Raphael Weichlein. Ein Kaplan ist ein Hilfspriester, der nach seiner Priesterweihe noch keine Alleinverantwortung für eine Kirchengemeinde trägt. Ich habe den Theologen um ein Gespräch gebeten, in dem es um eines der größten privaten Mysterien gehen soll: die innere Berufung.

Wie ein spiritueller Instinkt drängt sie den, der sich angesprochen fühlt, zu einer bestimmten Lebensaufgabe. Während die katholische Kirche diese innere Berufung zum Priestertum als besondere Gnade Gottes betrachtet, kann sich der durchschnittliche Hauptstädter das entsagungsreiche Leben im Dienst einer Gemeinde kaum mehr vorstellen. Selbst ich – mit meiner bayerischen Kleinstadtsozialisation und den zehn Jahren als Messdienerin und Chorsängerin einer katholischen Mädchenschule – frage mich: Was bewegt einen Menschen dazu, sich für einen so vermeintlich unzeitgemäßen Lebensweg zu entscheiden?

»Mein Gemeindepfarrer sagte zu mir, dass es sich lohnen würde, auf die Stimme Gottes zu hören.«

Im Fall von Kaplan Weichlein begann die Identifikation mit dem Christentum durch die Taufe. In seinem Heimatort Herxheim in der Südpfalz wurde er auch Ministrant, sein Gemeindepfarrer war dabei eine prägende Figur seiner Kindheit. „Später sagte er zu mir, dass es sich lohnen würde, auf die Stimme Gottes zu hören“, erzählt Kaplan Weichlein. Bereits als Schüler verspürte der Lehrersohn „innere Impulse“, die ihn öfter zur Bibel trieben, als es bei Gleichaltrigen der Fall war. Ansonsten beschreibt sich Kaplan Weichlein damals als „unspektakulären Teenager“: Ein Gymnasiast, der einigermaßen gerne lernte und in einem Kinder- und Jugendchor sang. Er erinnert sich aber auch noch an die aufwühlende Fußballsaison 1998, während der er mit Kumpels den Aufstieg des 1. FC Kaiserslautern zum Deutschen Meister verfolgte.

Schon mit 15 begann er, die Interviewbücher von Kardinal Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., zu lesen. „Ich kann nicht rational erklären, was mich da geritten hat, so ein Interesse zu entwickeln. Vielleicht bedeutet Berufung in meinem ganz persönlichen Fall, dass Gottes Geist mir eine Offenheit ins Herz gelegt hat, mich früh solchen Themen zu stellen.“ Das Priesteramt war immer eine Option, die manchmal vage war – und manchmal ersehnt. Doch direkt nach dem Abitur merkte er: „Ich bin noch nicht bereit, ich bin noch nicht reif.“ Da kam der Einberufungsbescheid der Bundeswehr gerade recht. Weichlein entschied sich gegen die zivile Alternative und für den normalen Wehrdienst, da ihm ein befreundeter Priester dazu geraten hatte. „Ich bin in einem sehr behüteten, dörflich-bürgerlichen Milieu großgeworden und war neugierig auf die Herausforderung, Menschen mal in einem ganz anderen Ambiente zu begegnen“, erklärt der junge Kaplan.

»Ist es mir wichtig, mich als Christ zu definieren? Ist es mir wichtig, weiterhin in die Kirche zu gehen?«

Die Monate beim Bund wurden zu einer wichtigen Erfahrung, er tauchte in vollkommen fremde Welten ein. Unterschiede in puncto Bildungshintergrund und Wertvorstellungen ließen ihn seine eigene Haltung nochmal überdenken: „Ich fragte mich: Ist es mir wichtig, mich als Christ zu definieren? Ist es mir wichtig, weiterhin in die Kirche zu gehen?“ Zu den eigenen Interessen zu stehen, auch wenn die anderen jungen Männer in der Einheit teilweise wenig Verständnis dafür hatten, formte den Willen von Raphael Weichlein. „Ich wurde innerhalb der Gruppe schon als einer wahrgenommen, der ein bisschen anders ist – auch wenn ich meinen Glauben niemandem auf die Nase gebunden hatte. Als wir mal darüber ins Gespräch kamen und ich mich mit meinem Gedanken, nach der Bundeswehr Priester zu werden, einem Kameraden anvertraute, war die erste Reaktion: ‚Waaaaas? Kriegst du keinen hoch, oder wie?‘ Da habe ich auch gelernt, mit solchen Fragen umzugehen“, erzählt der heute 35-Jährige mit versöhnlichem Ton.

»Evangelisch zu werden, nur um als Pfarrer heiraten zu dürfen, kam mir wie eine Mogelpackung vor.«

Die größte Prüfung sollte ihn allerdings am Ende seiner Wehrpflicht erwarten: Kaplan Weichlein, der damals 19 Jahre alt und einfach nur Raphael war, verliebte sich. Die junge Frau kannte er aus einer anderen Kirchengemeinde, in einer Bar kam er mit ihr zusammen. Schnell war es um die beiden geschehen – der Bezug zum Glauben verband das junge Paar: „Sie war nur ein paar Wochen zuvor auf dem Weltjugendtag in Toronto gewesen und erzählte mit viel Begeisterung von ihren Erlebnissen – das hatte sie sehr angerührt“, sagt Kaplan Weichlein. Er erinnert sich gerne daran, dass er mit ihr offen über viele persönliche Themen reden konnte. „Das war auch nicht nur eine kleine Romanze oder Affäre, sondern eine tiefergehende Beziehung, die über zwei Jahre hielt. Salopp gesagt: Alles war schick. Aber irgendetwas wollte mir keine Ruhe lassen. Die Berufung war wie ein inneres Ziehen. Irgendwann konnte ich nicht mehr leugnen, dass mich die Lebensform des Priesters stärker beschäftigt, als ich mir während der ersten Verliebtheit eingestehen wollte“, erzählt er mit nostalgischer, aber nicht wehmütiger Stimme.

Trotzdem merkt man ihm an, dass es ihm wehtat, die Verbindung zu lösen und der jungen Frau damit Liebeskummer zu bereiten. Einfach zu den Protestanten zu konvertieren, hätte sich für ihn nicht stimmig angefühlt. „Evangelisch zu werden, nur um als Pfarrer heiraten zu dürfen, kam mir wie eine Mogelpackung vor. Das wäre nicht redlich gewesen. Aber natürlich habe ich sehr mit mir darum gerungen, ob es nicht möglich ist, beide Wege zu gehen. Die Kirche sagt selbst: Beide Berufungen, die zur Ehe und die zum priesterlichen Dienst, ergänzen sich wechselseitig und sind gleich wertvoll.“

In der darauffolgenden Zeit konzentrierte er sich ganz auf dieses innere Ziehen. Und nach dem Weltjugendtag im Sommer 2005 entschied er sich endgültig, den Schritt ins Priesterseminar zu wagen. Dafür kam er nach Berlin. Schon bald stellte sich ein Gefühl der Ruhe ein: „Ich war angenommen und wusste: Es ist richtig.“

»Ich muss mir immer wieder der Frage stellen: Wie lebe ich meine Männlichkeit?«

Dennoch bleibt die Balance zwischen Geistig-Religiösem und dem Sinnlich-Lusterfüllten weiterhin ein Thema für Kaplan Weichlein. Vor zwei Jahren initiierte er in der Gemeinde St. Antonius in Friedrichshain, die neben der Gemeinde St. Mauritius in Lichtenberg der zweite pastorale Wirkungsraum von Kaplan Weichlein ist, einen „Kreis Junger Erwachsener“. Auch hier wurde bereits die Vereinbarkeit von Körperlichem und Geistigem diskutiert. „Ich als zölibatär lebender Priester darf mich da nicht ausnehmen. Ich muss mir immer wieder der Frage stellen: Wie lebe ich meine Männlichkeit?“ Es sei wichtig, dass auch Priester nicht vergäßen, sich als körperliche Wesen wahrzunehmen. Partnerschaften seien zudem nie nur eine Frage der Erotik, sondern vor allem des geistigen Austauschs. „Und hier müssen wir alle an unserer Reife arbeiten. Für die genitale Ebene findet man in jedem Lifestyle-Magazin viele Tipps und Tricks. Aber die geistig-personelle Ebene bedarf viel mehr Arbeit, für die uns oft das Know-how fehlt. Meine Kompetenz als Seelsorger kann es sein, hier geistige Stimuli anzubieten“, sagt er.

»Wer sich heute noch dazu entscheidet, katholisch in einer Kirche zu heiraten, dem bedeutet das auch etwas.«

Jetzt sitze ich hier und frage einen Priester nach den Grundsätzen für gelungene Partnerschaften. Doch im Gegensatz zu Schauspielern, mit denen ich über ihre Film-Ehen spreche, oder Rockstars, die ich nach ihren besten Flirt-Tipps frage, fühle ich mich in diesem Gespräch mit Kaplan Weichlein viel aufgehobener. Dass es den Leuten durchaus Spaß bereitet, Gespräche über Sex und Liebe auf einer theoretischen und manchmal abstrakteren Ebene als gewöhnlich zu führen, kennt er schon. Gerade in Paargesprächen zur Ehevorbereitung spreche er gerne über die beiden Dimensionen der Begegnung, die durch Christus, der mit in den Ehebund genommen wird, vielleicht sogar dreidimensional werden kann. Von den über 20 Paaren, die er bisher traute, sei noch keines geschieden worden.

„Wer sich heute noch dazu entscheidet, katholisch in einer Kirche zu heiraten, dem bedeutet das auch etwas.“ Miteinander beten, so sagt der Gottesmann, sei die beste Versicherung für eine lange Ehe. Das finde ich etwas kitschig. Romantisch hingegen finde ich seinen nächsten Satz: „So schön die Intimität zum Anfassen auch ist, eine starke Partnerschaft zeichnet sich auch durch eine geistige Intimität aus, die das ganze Zusammenleben erfüllt.“ Auch wenn ihm durch sein Gelöbnis der Ehelosigkeit die Mainstream-Erotik versagt bleibt, sieht sich Kaplan Weichlein durchaus mit Beziehungen gesegnet, die ihn durch geistige Nähe erfüllen: „Klar, jeder Mensch braucht Intimität. Aber die Frage ist, welcher Art.“

»Jeder Mensch braucht Intimität. Aber die Frage ist, welcher Art.«

Darüber will ich viel von ihm wissen – und Kaplan Weichlein antwortet auch geduldig und persönlich. Immer wieder webt er Stellen aus dem Alten Testament ein, in denen über die Liebe gedichtet wird. Doch so gut wir uns auch verstehen: An einem gewissen Punkt geraten wir unvermeidlicherweise an Inhalte, die uns an zwei Ufern eines reißenden Flusses positionieren, über den noch keine starke Brücke führt: Der Missbrauch-Skandal, die fehlenden Frauen im Priesteramt, die Ehe für alle. Es scheint unmöglich, ohne diese Totschlagthemen auszukommen – zumindest wenn man sich dabei nicht einfach so von einer journalistischen Beobachterin aktueller Kirchendebatten zur Gläubigen umetikettieren lassen will. Doch es muss auch reflektiert werden, dass die Fragen, mit denen ich Kaplan Weichlein auf die Pelle rücke, durchaus aktivistischer Natur sind. Objektivität ist im Hinblick auf die emotionale und zutiefst private Natur dieser Debattenfelder ein unerreichbares Gut.

Bevor wir unseren höflichen Streit vertiefen, stellt Kaplan Weichlein ein paar grundlegende Worte voran: Nur wer Schüler Gottes sei, könne sich daran beteiligen, das Reich Gottes zu verwirklichen. Dass ein Schüler eben auch lebenslang Korrekturen in Kauf nehmen müsse, unterstreicht Weichleins Wille zur Wandlungsfähigkeit. „Den christlichen Glauben zu leben heißt, sich gerade nicht in einem festen Lehrgebäude zu verschanzen und gegen alle möglichen Formen der Kritik zu immunisieren. An seinem Glauben zu wachsen bedeutet auch, ein Umdenken zuzulassen.“ Als Beispiel, wo dies der katholischen Kirche als solche gelungen sei, nennt er die Religionsfreiheit. Im 19. Jahrhundert gehörte der Vatikan zu den eifrigsten Gegnern des Konzepts der säkularen Religionsfreiheit. Mitte des 20. Jahrhunderts würdigte er es schließlich als grundlegendes Menschenrecht. Dass hier auch ein klerikaler Machtverlust das Umdenken erleichtert haben mag, sei meinerseits hinzugefügt.

»Christ zu sein ist in Berlin spannender als anderswo.«

Schwer tut sich die katholische Kirche auch immer noch damit, was Frauen im Priesteramt und gleichgeschlechtliche Ehebündnisse angeht. Kaplan Weichlein fällt da nicht aus der Reihe. Mit sexistischem oder homophonem Vokabular macht er sich aber nicht gemein, in diese Ecke kann ich ihn nicht stellen – auch wenn das einfacher wäre, als den Versuch zu unternehmen, ihn in seinem philosophisch durchdrungenen Glaubenssystem zu begreifen.

Generell ist ein Priester in Berlin auch nicht unbedingt die richtige Ansprechperson, um den Katholizismus von hinten aufzurollen. Denn die Schäfchen des Vatikans befinden sich hier schon seit Jahrhunderten in der Minderheit. Unsere Hauptstadt war eine der frühesten säkularen Städte, von manchen Schreibern wird sie sogar als „Hauptstadt des Atheismus“ bezeichnet. „Christ zu sein ist hier spannender als anderswo“, sagt Kaplan Weichlein. Dass der Priestermangel in Berlin weniger spürbar als in anderen Städten sei, läge nicht nur an dem herausfordernden Charme der Metropole, sondern vor allem an der großen „neokatechumenalen Szene“: Seit Anfang der 1990er Jahre ziehe das Priesterseminar „Redemptoris Mater“ junge Männer aus aller Welt nach Berlin, die sich diesem besonderen Glaubensweg besonders verpflichtet fühlten, der auf der ganzen Welt verbreitet ist.

Der „Neokatechumenale Weg“ entstand in Spanien zeitgleich zum Zweiten Vatikanischen Konzil und betrachtet sich als innerkirchliche Erneuerung. „Der Gründer, ein bekannter Kunstmaler, ließ sich in den Barackenvierteln von Madrid nieder, um in den armen Menschen Christus zu begegnen“, erzählt Kaplan Weichlein. Und er fährt fort: „Viele von uns wurden bereits als Baby oder Kleinkind getauft. Die neokatechumenalen Gemeinschaften bieten einen Glaubensweg an, der zu einer Bewusstwerdung und Erneuerung der eigenen Taufe führt – eine Art ‚Update‘ der eigenen Taufe für Erwachsene.“ In dieser jungen und dynamischen Gemeinschaft wird die Sehnsucht kommuniziert, Dimensionen der Wirklichkeit zu entdecken, die über das rein Profane hinausgehen. „Es gibt mehr als ‚business as usual'“, sagt Weichlein.

»Es ist wichtig, seine Zeit alleine mit Gott zu haben, aber manchmal braucht man auch den menschlichen Austausch.«

Doch natürlich gibt es auch für Gottesmänner einen Alltag. Im Pfarrhaus von St. Mauritius wohnt er mit dem Gemeindepfarrer unter einem gemeinsamen Dach, aber in seiner eigenen Wohnung. „Es wäre gefährlich, als Priester immer alleine zu leben und von morgens bis abends nur mit sich selbst beschäftigt zu sein. Es ist wichtig, seine Zeit alleine mit Gott zu haben, aber manchmal braucht man auch den menschlichen Austausch.“ Mittwoch- und Sonntagmittag essen die beiden Priester von St. Mauritius zusammen, manchmal schauen sie gemeinsam einen Film an – und zwar in den seltensten Fällen „fromme“ Filme. Im Kino war er zuletzt im Roadmovie „303“: „Tolle und interessante Dialoge, die wichtige Fragen unserer Generation gut wiedergeben!“, ist seine Meinung zu dem deutschen Liebesfilm.

Ansonsten halten Gemeindeveranstaltungen und Privateinladungen den Kaplan ausreichend auf Trab – er würde sich wünschen, in seiner Freizeit ein paar Mal öfter laufen zu gehen, am Ende fesselt ihn aber doch eher ein gutes Buch an die Couch. Momentan liest er ‚Christusmord‘ von Wilhelm Reich sowie ein Buch über den Priester und Evolutionswissenschaftler Teilhard de Chardin. Dass hinter der Amtsperson immer auch ein Normalsterblicher steht, stellt ihn und seine Kollegen manchmal vor Identitätskonflikte. „Es gibt einen Respekt vor dem Amt, der automatisch eine Distanz schafft. Trotzdem musst du dich als Priester auch darum kümmern, persönliche Kontakte zu pflegen. Wenn aus einem falschen Berufungsverständnis eine übergroße Vorsicht erwächst und man zu jedem auf Abstand geht, dann läuft man Gefahr, zum Eigenbrötler zu werden.“

Während ich mir unser Gespräch ein paar Wochen lang durch den Kopf gehen lasse, Weichleins Beitrag im Kunstband „Sein. Antlitz. Körper“ lese und mir seine Gedanken zum Osterfest im Podcast „Gott bewahre!“ anhöre, hat der junge Kaplan seine Zelte in Berlin wieder abgebrochen: Vorerst wird er in Innsbruck weitere Studien der Philosophie aufnehmen, um später vielleicht einmal als Dozent tätig zu sein.

Unerwarteterweise schreibt mir Kaplan Weichlein eine Mail, die eine kleine Überraschung enthält: Während des Fotoshootings im Kirchengebäude von St. Mauritius hatte ich ihm von „Narziß und Goldmund“, meinem liebsten Hesse-Werk, erzählt, das gerade mit Jannis Niewöhner und Sabin Tambrea in den Hauptrollen verfilmt wird. Ich fragte den Kaplan, wie sich das spirituelle Werk in seine Systematik von körperlicher und geistiger Intimität und Lebenslust einfügt. Er konnte sich an den Text nicht mehr erinnern, versprach aber, dies nachzuholen. Ich führe seit acht Jahren journalistische Interviews. Damit, dass er seine Floskel einlöst und mir die Frage später in einer Mail beantwortet, macht er sich zum Präzedenzfall. Weil die Art, wie er schreibt, viel über ihn aussagt, will ich ihm in diesem Text das letzte Wort geben:

»Ich möchte anderen Menschen einen Weg aufzeigen, dass es möglich ist, das Körperliche vom Spirituellen wirklich erfüllt werden zu lassen, ohne das eine gegen das andere auszuspielen.«

„Die Spannung zwischen dem Geistig-Religiösen und dem Sinnlich-Lusterfüllten, wofür Narziß und Goldmund ja exemplarisch stehen, ist in der Erzählung schön und plastisch beschrieben. Das eigentlich Interessante ist meines Erachtens jedoch, dass beide nach und nach voneinander lernen, dadurch welchselseitig die ‚blinden Flecken‘ der jeweils eigenen Seite aufdecken und in ihren Haltungen transformiert werden. ‚Ich habe auch das Glück gehabt zu erleben, dass die Sinnlichkeit beseelt werden kann‘, sagt Goldmund gegen Ende der Erzählung. Und Narziß erkennt durch Goldmund die Enge und Einseitigkeit seiner allzufromm-vergeistigten Weltsicht.

Ich denke, es ist lohnend, hierauf noch näher einzugehen. Vordergründig scheint in der Erzählung ja Narziß der Christ zu sein; doch ist seine Religiosität durch weite Strecken hindurch viel zu wenig geerdet. Im Durchdingen beider Pole, wozu es in Hesses Erzählung nach und nach kommt, liegt auch aus meiner Sicht der eigentliche Kern eines gelebten christlichen Glaubens: Gottes Sohn nimmt Fleisch an (Weihnachten), auf dass der Leib des Menschen geisterfüllt und transformiert wird (Ostern und Pfingsten).

Das Verhältnis von geistiger und körperliche Liebe (Agape und Eros) hat Papst Benedikt XVI. in einem Lehrschreiben einmal so formuliert: ‚Der zum Sex degradierte Eros wird zu Ware, zur bloßen Sache; man kann ihn kaufen und verkaufen, ja der Mensch wird dabei selbst zur Ware. […] Demgegenüber hat der christliche Glaube immer den Menschen als das zweieinige Wesen angesehen, in dem Geist und Materie ineinandergreifen und beide gerade so einen neuen Adel erfahren. Ja, der Eros will uns zum Göttlichen hinreißen, uns über uns selbst hinausführen, aber gerade darum verlangt er einen Weg des Aufstiegs, der Verzichte, der Reinigungen und Heilungen.‘

Dieser Text sowie auch die von Papst Johannes Paul II. inspirierte „Theologie des Leibes“ war und ist mir persönlich sehr wichtig geworden. Durch die zölibatäre Lebensform, zu der ich mich gerufen fühle, möchte ich anderen Menschen einen Weg aufzeigen, dass es möglich ist, das Körperliche vom Spirituellen wirklich erfüllt werden zu lassen, ohne das eine gegen das andere auszuspielen.“


Michelle Barthel

Portrait — Michelle Barthel

Jagdinstinkt

Im neuen Tatort wird Michelle Barthel von der Gejagten zur Jägerin. Im Neuköllner Café Rix haben wir die Schauspielerin, die im wahren Leben vor allem den großen Gefühlen auf der Fährte ist, zum Interview getroffen. Ein Gespräch über Scheitern, eine Jugend am Set und die pure Lebenslust.

16. November 2018 — MYP N° 23 »Instinkt« — Interview: Katharina Weiß, Fotos: Steven Lüdtke

So unschuldig, ja fast zerbrechlich Michelle Barthel dem Betrachter auch erscheinen mag: In der Schauspielerin brodelt es ständig. 16 Berufsjahre voller Höhen und Tiefen haben die 25-Jährige in so viele Rollen schlüpfen lassen, dass von jeder cineastischen Heldentat und jedem Seelenabgrund etwas an ihrer eigenen Persönlichkeit hängen geblieben ist. „Dieser Beruf gibt mir die Möglichkeit, mich in andere Leben hineinzustürzen“, beschreibt sie ihre Leidenschaft. Wie eine Kulturanthropologin studiere sie dabei stets das Wesen des Menschen, mit Forschungsfragen wie: Was bringt uns dazu, so heftig zu lieben, so heftig zu hassen, so heftig glücklich zu sein oder so heftig zu streiten? Und worin begründen sich unsere Entscheidungen? Ich darf – in der geschützten Blase des Films – so viele Leben leben, wie ich möchte.“

»Ich darf – in der geschützten Blase des Films – so viele Leben leben, wie ich möchte.«

Im Falle des Tatorts „Treibjagd“, der am 18. November um 20:15 Uhr in der ARD ausgestrahlt wird, durchlebt sie einen Albtraum: Ihre Figur, eine Räuberin, muss mit ansehen wie ihr Liebster erschossen wird. Ohne ihren Clyde muss diese Bonnie, selbst schwer verwundet, vor zwei Mächten fliehen: zum einen vor den Mördern ihres Freundes, die ihre Zeugenaussage verhindern wollen. Und zum anderen vor Kommissar Thorsten Falke, gespielt von Wotan Wilke Möhring, der die Gesetzesbrecherin dingfest machen möchte.

Im Film trägt Michelle Barthel nur ein einziges Kostüm, deshalb bitten wir sie für das MYP Magazine zum Glamour-Shooting. Als Location hat sich die gebürtige Nordrhein-Westfälin ihre Lieblingsbar ausgesucht: das Café Rix in Berlin-Neukölln. Wie der berühmte Heimathafen liegt das Café im sogenannten Neuköllner Saalbau, einem traditionsreichen Veranstaltungsort mit knapp 140-jähriger Geschichte: Schon in den 1920ern kamen im Saalbau viele Theater-, Varieté- und Konzertkünstler in ausgelassener Runde zusammen. Auch Barthel, die von der Barchefin bereits geduzt wird, besucht hier gerne die Kostümparty „Bohème Sauvage“, trifft sich mit Freundinnen auf ein Glas Crémant oder lädt Journalisten zum Plausch ein.

Zum Film kam Barthel mehr oder weniger aus Versehen: Als sie acht Jahre alt war, hörte sie von einer Freundin, dass in ihrer Stadt gerade nach Kindern für ein Mode-Shooting gesucht wurde. Als beide Mädels vor Ort einen Steckbrief mit biografischen Angaben und Hobbys ausfüllen mussten und Barthel darauf unter anderem „Kindertheater“ kritzelte, wurde sie kurzerhand zum ersten Casting ihres Lebens eingeladen. Denn die Firma, die das Fotokatalog-Shooting betreute, hatte auch eine Kinderkino-Agentur unter ihrem Dach. „Ich musste bei meinen Eltern ganz doll darum betteln, dass ich da hingehen durfte“, sagt Barthel, die gerne vom engen Verhältnis zu ihrer Mama erzählt. Diese sei übrigens vom Klischee einer Eiskunstlaufmutter so weit entfernt wie der durchschnittliche GZSZ-Darsteller von einem Oscar.

»Ich war die einzige, die sich getraut hat, den Jungen zu küssen.«

Letztlich durfte klein Barthel aber doch zum Vorsprechen. Und wurde sofort besetzt. „Der simple Grund: Ich war die einzige, die sich getraut hat, den Jungen zu küssen“, sagt sie und lacht bescheiden. Wer sich das Provinzmärchen „Der zehnte Sommer“ aus dem Jahr 2003 heute nochmal anschaut, der fühlt sich beim Anblick des neunjährigen Mädels mit den geflochtenen Zöpfen, dem Dirndl und der weichen, süßen Stimme an die ersten Filmversuche von Romy Schneider erinnert.

Das Talent wurde in der Branche nicht übersehen: Ab diesem Zeitpunkt stand Barthel eigentlich ständig vor der Kamera. Als besonders herausragend wurde ihr Film „Keine Angst“ aus dem Jahr 2009 ausgezeichnet – dafür erhielt sie unter anderem den Deutschen Fernsehpreis und den Grimme-Preis.

»Der Vermieter hatte einen Kammerjäger bestellen müssen, da die weißen Mäuse fleißig an den Kabeln der Wohnung geknabbert.«

Während der Dreharbeiten wohnte sie mit den Kollegen Carolyn Genzkow und Max Hegewald in einer betreuten WG. „In einer Drehpause waren Caro und ich in der Shopping Mall. Dort sahen wir diese Box mit Lebendfutter für Schlangen. Die Mäuse taten uns so leid, dass wir dachten: Wenigstens zwei davon müssen wir retten“, erzählt Barthel. Doch die Tiere büchsten den Jugendlichen sehr schnell aus, alle Lockversuche schlugen fehl. Am Ende der Dreharbeiten, als Barthel und Genzkow wieder auszogen, bekam die Produktion einen bösen Brief und eine saftige Rechnung vom Vermieter: Der hatte einen Kammerjäger bestellen müssen, da die weißen Mäuse fleißig an den Kabeln der Wohnung geknabbert hatten. Barthel schämt sich bis heute dafür, kann die Geschichte aber irre komisch erzählen.

Neben den Abenteuern am Set ging sie natürlich noch zur Schule. Noch am Nachmittag ihrer letzten Abiturprüfung, Deutsch mündlich, wurde sie nach München zur Kostümprobe von „Spieltrieb“ eingeflogen – ihrer ersten großen Kinoproduktion an der Seite von Jannik Schümann.

Aber wo Licht ist, ist bekanntlich immer auch Schatten: Die Castingkultur und die ständige Beurteilung gehen an einer Kinderseele nicht spurlos vorbei. Ablehnung und Zweifel gehören ebenso zum Berufsbild wie kreative Freiheit und rote Teppiche. Besonders hart wurde es, als Barthel sich nach der Schule in den Kopf setzte, das Handwerk an einer Schauspielschule zu erlernen: „Ich war bei mehreren Vorsprechen, aber keiner wollte mich. An diesem Vorhaben bin ich ganz kläglich gescheitert“, gesteht sie sich heute ein. Kurz dachte sie darüber nach, doch etwas ganz anderes zu tun.

»Es gibt tausend Wege, dem nahezukommen, was man wirklich liebt.«

Bereits mit 15 wurde sie von Sandra Maischberger im Rahmen einer Preisverleihung gefragt, was sie denn mal werden wolle. Ihre Antwort damals: „Mama. Oder Grundschullehrerin, das könnte ich mir auch gut vorstellen.“ Plötzlich, mit 20, schien die Abkehr vom Schauspielbusiness wieder ebenso wahrscheinlich. „Ich fragte mich, wie es für mich weitergehen kann, wenn ich keine professionelleren Techniken erlernen kann“, sagt Barthel. Nach einem inneren Ringkampf mit sich selbst entschied sie sich aber durchzuhalten – und sich selbst zu helfen: „Ich habe mich auf die Suche nach Kollegen und Coaches gemacht, die mir in privaten Nachhilfestunden oder Schauspiel-Workshops mit all den Fragen weiterhelfen konnten, die ich an meine Arbeit hatte“, erzählt sie und erinnert sich dabei gerne an die wertvollen Tipps von Schauspiel-Mentorin Teresa Harder und vielen weiteren.

Die ungewöhnliche Eigeninitiative zahlte sich aus. „Ich habe dadurch gelernt: Es gibt tausend Wege, dem nahezukommen, was man wirklich liebt.“ Mittlerweile gehört sie zum Stammpersonal der deutschen TV-Landschaft. Und 2019 warten mit der österreichischen Produktion „Der Boden unter den Füßen“ und dem Drama „Relativity“ an der Seite von Edin Hasanović außerdem zwei Kinofilme auf ihre Fans.

»Ich verliebe mich am Set jedes Mal.«

In den letzten Jahren ist Michelle Barthel in viele Rollen hineingewachsen: „Es ist eine großartige Reise in die Seele des Menschen. Die kann tief, böse, verletzt, wütend verlaufen. Oder schüchtern, lieblich, zerbrechlich.“ Ihr gehe es immer um den inneren Kampf der Figuren. Dabei machte sie eine erstaunliche Erfahrung: „Die Rollen passen immer wie die Faust aufs Auge zu meiner tatsächlichen Lebenssituation.“ Sie beschreibt dieses Phänomen wie eine Art self-fulfilling prophecy: „Die zentrale Frage einer Figur war häufig eine Frage, die ich mir auch gerade gestellt habe.“

Der Hunger nach den Wundern dieser Welt ist Michelle Barthel, die in ihren Drehpausen auch noch „Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften“ und „Französische Philologie“ an der Freien Universität Berlin studiert, in jede Pore eingeschrieben. Passend dazu verrät sie am Ende unseres Gesprächs mit einem Augenzwinkern: „Ich will die Erfahrung immer so nahe am echten Leben spüren wie nur möglich. Deshalb verliebe ich mich am Set auch jedes Mal.“


Jannis Niewöhner

Interview — Jannis Niewöhner

Der Beat des Bösen

Auf Amazon Prime startet mit »Beat« das nächste deutsche Serien-Spektakel, das Jannis Niewöhner durch die Klänge der Berliner Technowelt und dicht an den Herzschlag der Finsternis treibt.

8. November 2018 — MYP N° 23 »Instinkt« — Interview: Katharina Weiß, Fotos: Steven Lüdtke

Organhandel mit Flüchtlingen, Techno-Hedonismus, Dan Brown-Grusel: Bei der neuen Amazon Prime-Serie „Beat“, die am 9. November online geht, hätte einiges schief gehen können – ist es aber nicht. Dass dieses wahnwitzige Projekt zwischen Geheimdienst-Thriller, Partyexzess und organisierter Kriminalität so brutal spannend geworden ist, liegt vor allem an den brillanten Schauspielerinnen und Schauspielern, die mal bitterböse, mal schmachvoll und mal sexy ihren ungewöhnlichen Rollen den Seelengeist einhauchen. Im Zentrum steht die herausragende Arbeit von Jannis Niewöhner: Er spielt Beat, einen vom Schicksal gebeutelten Club-Promoter, der nicht viel kann außer tanzen, ballern und vögeln. Doch sein Szeneparadies wird von zwei schauerhaften Morden zerstört, die den Anfang eines düsteren Abenteuers einläuten…

Katharina:
Was hat für dich den Ausschlag gegeben, dieses wilde Drehbuch anzunehmen?

Jannis:
Das Besondere an der Rolle ist, dass Beat so wahnsinnig passiv ist. Es gibt nur wenige Hauptcharaktere, die so sehr auf Reaktion statt auf Aktion ausgelegt sind. Meine Figur ist eigentlich gar nicht imstande, mit all dem umzugehen, was ihr da widerfährt. Beat kann selten wirklich Herr der Lage werden. Und das fand ich spannend – weil es einem im echten Leben oft genauso geht.

»Ich habe auch nicht 30 beste Freunde, sondern vielleicht fünf.«

Katharina:
Trotz des Kontrollverlusts ist Beat der Beschützer: Er beschützt die Wünsche der Gäste, er verspricht seinem Mitbewohner „Ich pass auf dich auf!“ und auch seinem Businesspartner und bestem Freund gegenüber hat er eine beschützende Funktion. Wer beschützt eigentlich Beat?

Jannis:
Er hat sich mit diesen Leuten eine eigene Familie geschaffen. Und ich glaube, die beschützt ihn auch. Außerdem hat er eine sture Attitüde – nach dem Motto: Wenn ich Drogen nehmen will, dann nehme ich die eben. Aber sein Umfeld hält das aus und bleibt trotzdem bei ihm, auch wenn die Hilfe mal abgelehnt wurde.

Katharina:
Besonders groß ist sein Freundeskreis aber nicht…

Jannis:
Ja, er hat nicht viele Leute. Aber ich habe auch nicht 30 beste Freunde, sondern vielleicht fünf.

Katharina:
Deine Figur ist ständig unter Strom, entweder voll auf Droge oder in emotional hochanstrengenden zwischenmenschlichen Situationen. Mit welchen Techniken spielt man diese angespannte Energie?

Jannis:
Das sind alles Instinkte. Man muss sich zwar Gedanken über die Rolle machen und sich bestimmte Szenen erarbeiten, aber letztendlich wartet man nur auf ein Gefühl für die Figur. Das setzt während der Vorbereitung und des Drehs ein: Man begreift einen Charakter instinktiv, man spürt ihn richtig und reagiert so wie er. Die Clubszenen haben wir zum Beispiel mit 400 Komparsen in einem Kraftwerk gedreht. Über eine Woche lang waren da ständig Leute und dauernd Musik – es sah aus wie eine Technoparty und hat sich auch irgendwann so angefühlt.

»Alle menschlichen Bedürfnisse nach Nähe und Toleranz sind gut so.«

Katharina:
Nach „Sommersturm“ (2004) und „Coming In“ (2014) führt Marco Kreuzpaintner mit „Beat“ einen cineastischen Stil fort, der queeres Leben facettenreich und mainstreamig nachzeichnet. Was glaubst du, wie wird die queere Community in Berlin, Deutschland und Europa die Serie aufnehmen?

Jannis:
Wir wollen diese Berliner Partyszene als eine zeigen, die viele Gefahren, aber auch wirkliche Freiheiten bereithält. Es gibt zum einen die Möglichkeit, sich von der normalen Welt abzuschotten. Auf der anderen Seite schafft sie Räume voller sozialer Wärme und Respekt. Alles ist möglich! Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass Menschen das genießen. Die Serie nimmt sich diese Szene nicht zum Hauptthema, verhandelt aber in Ansätzen: Das muss alles erlaubt sein, alle menschlichen Bedürfnisse nach Nähe und Toleranz sind gut so.

Katharina:
Hat dir Kostja Ullmann als Schlager hörender Vollpsycho auch nach Drehschluss noch Albträume bereitet?

Jannis:
Ich hatte ihn noch nicht in einem Albtraum, aber ich bin immer noch verblüfft, wie realistisch er den Wahnsinn dargestellt hat.

»Es ist wichtig, sich nicht dem Gefühl zu entziehen, als Einzelner etwas bewirken zu können.«

Katharina:
Dein Charakter Beat reibt sich an seiner Umwelt. Er glaubt an nichts, wie viele klassische Szene-Berliner auch: an keinen Gott, an keine Politik – seine Ideale sind vom Außenseitertum geprägt, von vielem will er gar nichts wissen. Kannst du seine Unangepasstheit verstehen?

Jannis:
Ich kenne durchaus die Faulheit, mich nicht so sehr mit den Dingen zu beschäftigen, wie ich es eigentlich müsste. Mein politisches Verständnis entwickelt sich mit der Zeit, aber ich habe immer das Gefühl, es ist noch viel zu wenig. Im Fall von Beat sind es Personen wie Emilia, die Agentin, die ein gesellschaftliches Verständnis in ihm wecken. Es ist wichtig, eine moralische Verantwortung zu erkennen und sich nicht dem Gefühl zu entziehen, als Einzelner etwas bewirken zu können.

Katharina:
Beat ist ein Gentrifizierungsgegner im trotzigsten Sinne. Über den stillen Teilhaber sagt er: „Solche Leute kommen nach Berlin, weil es ist, wie es ist – und dann machen sie daraus Stuttgart.“ Wenn man ständig wie du auf fancy Events in Mitte herumspringt, inwiefern kann man diese Haltung überhaupt nachvollziehen?

Jannis:
Ich darf mir als Zugezogener und Teil dieser Zusammenhänge nicht erlauben, mich darüber abzufucken. Klar finde ich es schade, wenn dem Charakter einer Stadt etwas genommen wird. Gentrifizierung bedeutet ja auch, dass der Kapitalismus an einen Ort kommt, der vorher für sich war und den erst mal zerstört. Andererseits ergibt sich aus Weiterentwicklung immer Neues, das ist unaufhaltsam und auch manchmal positiv. Ich wohne in Lichtenberg und empfinde das Leben dort als immer noch sehr normal, fast kleinstädtisch. Ich bin nicht Teil dieses Szene-Overkills, der in Mitte oder im Prenzlauer Berg stattfindet.

Katharina:
Du kommst also nicht wie Beat nach Hause in eine Chaos-WG, in der noch drei fremde Menschen vom Vorabend herumliegen?

Jannis:
So eine WG hatte ich. Ich zog mit zwei Leuten zusammen, daraus wurden dann mit der Zeit vier Mitbewohner. Da waren immer mindestens zehn Leute in der Bude. Mittlerweile lebe ich aber alleine.

Katharina:
Emilia sagt zu Beat: „Du bist 28 und lebst, als ob du zehn Jahre jünger wärst.“ Wie ist das in deiner Branche, gibt es da überhaupt so etwas wie altersgemäßes Verhalten?

Jannis:
Anders gesagt: Ich habe beim Film immer schon sehr genossen, wie wenig Bedeutung Altersunterschiede dort hatten. Ich konnte als 13-Jähriger tolle Gespräche mit 35-jährigen Kollegen führen. In meinem Beruf baut man weniger Distanz zu anderen Menschen auf, sondern begegnet sich auf gleicher Ebene. Das finde ich total schön.

»Die Welt des Nachtlebens ist erschaffen worden, um der alltäglichen Welt zu entfliehen.«

Katharina:
Auch in der Serie „Beat“ werden ungewöhnliche Distanzen aufgebrochen. Welche Welten prallen da zusammen?

Jannis:
Es wird schnell deutlich: Es gibt nicht nur die große Party, sondern vor allem die Welt, in der wir alle leben und von deren wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen wir jeden Tag betroffen sind. Und eigentlich ist die Welt des Nachtlebens erschaffen worden, um dieser alltäglichen Welt zu entfliehen. Aber der Feierkosmos stagniert, es bleibt immer das Gleiche. Ich finde gut, dass wir in der Serie aus dem Club herausgehen müssen, um weiterzukommen. Zu Vorbereitung habe ich mir die YouTube-Doku „Don’t forget to go home“ angesehen. Darin wird gut beschrieben, was passiert, wenn die Euphorie verschwindet. Diese exzessiven Höhepunkte sind immer nur ein Moment. Für manche Menschen kann der fünf Jahre andauern – aber irgendwann geht es nicht mehr weiter, es entwickelt sich nicht.

Katharina:
Obwohl durchaus anklingt, welche Erfüllung Beats Clubgäste in der Technowelt finden: Die Berliner Feierszene wird auch hier von einer Trope der inneren Leere, des ‚Ausgehöhlt-Seins‘ unter Einfluss eines Gin-Tonic-Ketamin-Cocktails verfolgt. Einen ganz anderen Stellenwert haben Lust und Körperlichkeit in deinem nächsten Projekt, du spielst die Figur des Goldmund in der Hesse-Verfilmung „Narziß und Goldmund“. Goldmund sagt am Ende: „Ich habe auch das Glück gehabt zu erleben, dass die Sinnlichkeit beseelt werden kann.“ Hat auch Beat eine Chance darauf?

Jannis:
Noch nicht in dieser Staffel. Aber er fängt an, sich den Ungerechtigkeiten des Lebens zu stellen und sich seiner Sehnsüchte bewusst zu werden. Anders als Goldmund, der am Anfang das Kloster verlässt, um das Leben aufzusaugen, lernen wir Beat zunächst in einer Welt kennen, die schon mit Sinneseindrücken überfrachtet ist. Wirklich verbinden lassen sich die Charaktere aber dadurch, dass sie beide total gefühlsgesteuert sind und nach etwas suchen, von dem sie noch nicht genau wissen, was es ist. Bei Goldmund ist es die Suche nach der Urmutter und bei Beat nach den Eltern. Beide vermissen bedingungslose Liebe und Vertrauen – das macht sie so unglaublich intensiv.


Jacob Banks

Interview — Jacob Banks

The Greatness Of A Village

With his debut record “Village”, British-Nigerian singer-songwriter Jacob Banks delivers an impressive musical performance full of different genres. And as if that wasn’t enough, he adorns each of his music videos with a high-quality visual language that makes it look like a sequence of a Hollywood movie.

2. November 2018 — MYP N° 23 »Instinct« — Interview: Jonas Meyer, Photography: Steven Lüdtke

“This guy would make a great song for a James Bond film”—what a YouTube user posted four years ago under Jacob Banks‘ music video „Worthy“ would probably, in most cases, sound like some flattering fan-talk that can’t be taken too seriously. But referring to the 27-year-old singer and songwriter from Birmingham this wish is more than justified. Jacob Banks is an exceptional musical talent: his deep voice is so powerful and absolute that it could awaken a whole British village.

Speaking of “Village”—that’s also the title of Banks’ debut record that enriches the musical world from November 2018. Last year, after he had played some songs from his EP “The Boy Who Cried Freedom” at the 40th annual gala of New York’s New Museum, Vogue called him an artist who “reintroduces soul music to today’s young generation”.

But is Jacob Banks just a modern ambassador of soul? His debut album sounds rather as if the most diverse music genres have united to speak with a strong common voice. We met the thoughtful British artist for an interview at Universal Music’s headquarters in Berlin—and found out why it’s important to tell music through film, why no one is born a racist, and why it takes a whole village to raise a child.

Jonas:
A couple of weeks ago you released the music video for your song “Be Good To Me”. This video was written and directed by yourself. How did you create the idea for it? Did you already have some specific pictures in your head when you were writing the song—and you just had to fall back on these visuals? Or did you have to experience your song from scratch to get visually inspired?

Jacob:
I think being someone who is creative feels like a job around the clock, it doesn’t stop, it doesn’t just happen when I’m in a studio. I’m always looking for stuff that inspires me or looks weird, looks different. Long story short: I follow NFL on Instagram and I saw a short video of a football training session. What they do is when two players are running for one position, they make the two of them have a tug of war. And whoever wins, gets the play, gets to be the star in that position. I liked that a lot, so I built the story of my video on the back of that.

»I try not to be a selfish musician.«

Jonas:
The video’s scene of two men bound by a red rope and fighting each other in a tug of war is a very strong key visual. Is there an analogy to your own life? Are you torn sometimes by different ways to go, by different decisions to make?

Jacob:
It always is, it always pulls on past and experience. But I try not to be a selfish musician. Once you have given your work to the people, they take from you what they need anyway. At that point, it doesn’t matter what I think. So, what I do is the following: I would place enough evidence in front of you and have you make up your own mind. It’s important to me that, whoever is watching, has to become the main character—I want you to be the lead character of my music video. If I’m too descriptive, if I take everything away, if I leave you only one option, it doesn’t make it much of an interesting journey. I just put enough pieces in it where any viewer can take from the video whatever they need—because whatever you see lets me know that you know there’s a problem in the world and we should all be fixing it. If I spell out for you, you can pretend that you don’t know: that racism doesn’t exist, for example. That women don’t get paid the same as men. But if that’s what you see, it means that you’re aware and that you should be working to estrange from that.

Jonas:
Most of your videos are defined by a very strong visual language, they kind of look like sequences of remarkable Hollywood movies—in terms of the arrangement, color grading, costumes, or location. Where does your obvious love for film and cinematography come from?

Jacob:
It comes from nobody wanting to work with me, man! It sort of is, I’m cheaper than most directors. I work for free, for myself. I have to pay me nothing. But not only is it cheaper, it’s also a lot of fun. I do these videos with my best friends, the people that you see in it are my homies. It’s so much fun to work with people you care about and love, it’s a story to be told by itself. I’m very much a creative, my whole thing is expression. The journey of figuring out what it means to create a good visual is fun to me. It’s stimulating, I enjoy the process, and on the back of that, it’s giving me a love that I have for the rest of my life. When I watch films or TV shows now, it’s like there’s a new layer in it. I’m not just watching it for the action scenes, I also like the camera work, the grading or the way the music builds the tension. It’s giving me a new level of love for something that I admire and I’m so grateful for that. I have to think about all these things I just used to watch and didn’t give a shit about. And now it’s like “Wow, that’s a nice yellow!” or “The light is great here!” I’m so thankful to have that, it’s like unlocking a tiny percentage of your brain that you never used before. I feel like I stand up and always find more and more doors to unlock.

»If you’re more of a storyteller, music videos are an avenue to change how you hear music.«

Jonas:
When TV channel MTV was launched in August 1981, it presented something very new to the world: music videos. We’re both too young to have witnessed it, but when you look at the music industry today, do you think that music videos have to meet a different standard compared to the early 80’s? Or is there a general, timeless recipe that makes a music video a good music video?

Jacob:
I think it depends on what type of artist you are. If you’re living more in the pop world—and pop just means popular music—, I don’t see a specific recipe for music videos. But when you’re a hip-hop or R&B artist, it has always been about branding. You can rarely watch a hip-hop video where the artist isn’t in it. You can see the artist’s face in every scene because they’re selling a product. The video says: “This is him or this is she. Love them! Love them! Love them!” They want you to consider them the center of the world.
If you’re more of a storyteller, for me anyway, music videos are an avenue to change how you hear music. I could write a song and you might think this is about love. And when I show you the video, I’m like: “What if it isn’t?” That’s how I see it: I get to allow the song to live in more than one space, I get to show you a different perspective on how to take in a story. I feel like that’s important. The more ways you can hear music, the better.
By the way, today’s music industry, for visuals, isn’t as nice as it used to be: any director who was working 40 years ago would hate the new generation—because they don’t get paid as much. But in my opinion, it’s better now: it’s not about being popular anymore, it’s about creating good content. I’ve seen so many incredible videos, there’s so much good stuff! Everyone’s making very good, strong visuals. I think these people are saving the music video thing: today it’s not about TV anymore, it’s about YouTube. And when you’re good at making music videos, people come to watch. It’s a platform where you can show your audience a different way to hear music.

Jonas:
Speaking of YouTube: Not only do you create films for songs. You also create songs for films—like you did for “Equalizer 2” or “Black Lightning”, for example. On YouTube, I found a user comment related to your music video “Worthy”. He says: “This guy would make a great song for a James Bond film.” Would you do if you could?

Jacob:
I would love to! I wish! I keep checking my emails every day (laughs). It’s not that I’m working on one, I haven’t gotten the email yet. But I’m not holding my breath. It always takes the biggest artist of the year to create a Bond soundtrack, like Adele, Sam Smith, Alicia Keys. You have to match the Bond brand with your sound, so the filmmakers don’t really take a risk. It’s very much like they go for what they know is going to work—which is dope because they’ve always realized great soundtracks. But I don’t know—if it happens, I would love to have the opportunity. But I already had some incredible opportunities doing great things for other great things. And that’s something I’m very proud of.

Jonas:
Our colleagues from Vogue magazine describe you as an artist “that reintroduces soul music to today’s young generation”. What do you think, is there a lack of sense for soul music in today’s young generation—or in today’s audience in general?

Jacob:
I just think people can’t relate to it—how could you? We can’t relate to something like “I’m sittin‘ on the dock of the bay / Watchin‘ the tide roll away” that was written by Otis Redding in 1967. We just don’t talk like that anymore. In soul music, everything was like “My baby don’t leave me” and “Bottle of whiskey”. I think people can’t relate to music when they can’t relate to its language.
The issue is: there’s nothing wrong with soul music, there’s nothing wrong with the people, there are just two completely different times and two completely different languages—and they just don’t relate to each other. You can attest to the fact that, in soul music, there are incredible pieces of work that will live forever, but as a 27-year-old singer, that’s just too much. I can’t sing about that type of stuff, it’s too heavy—and it’s not my truth, it’s just not my real life.
The issue of finding a way to relate to people is: you can keep the language, but maybe you have to change the production and find a way to invite people in and make sure you’re speaking your truth. And my truth is that I love soul music. But I also love Skrillex. I love both worlds and I want to find a way to bring all my loves together to make sense and exist on one song.

»Soul music will live forever, but to create a song that is going to live from now, you just have to relate to the times.«

Jonas:
Would you say that, in your music, you try to create a wormhole that connects two far away universes that don’t have a connection?

Jacob:
Yeah, I definitely planned this kind of connection, that’s something what I really wanted. I think “Worthy” was the first song where I tried to bring different worlds together, “Unholy War” was another one. I really love soul music, but I knew that I didn’t want to be a young Marvin Gaye. I love Marvin Gaye, but I also love drum ‘n’ bass, I love jungle, I love drops in tracks. The challenge is: How do I make both happen without sounding like a DJ featuring Jacob Banks? How do I create some authentic stuff…

Jonas:
… that’s just being you.

Jacob:
Exactly. I think soul music will live forever, but to create a song that is going to live from now, you just have to relate to the times.

Jonas:
You will soon be releasing your new record titled “Village”—a word that is pretty interesting. When you’re born and raised in a small village in the southwest of Germany and you fled to a big city, like I did, the word “village” is loaded with so many memories and emotions, good and bad ones. What connotation comes to your own mind when you think of the word “village”?

Jacob:
There’s an old African saying: it takes a village to raise a child. So, people who grow up in a village are usually raised by a community, not just by your mom and your dad. It’s also Jeff from down the road, for example. Everyone helps each other raise the kids. In a village, it’s a team effort, it’s not like in a city where people just ignore you, and I think that’s what I wanted to do with the album: to create something that celebrates all my loves and brings them together, on an emotional and a musical level. I love jazz, reggae, hip-hop, blues—I love all these genres. And I was wondering how I could find a space for all of them for exist in. Because that’s my truth, that’s what I actually listen to on a day-to-day: I listen to a mix of all these things. And I think “Village” is everything all at once.

Jonas:
The cover artwork of the record is based on an extraordinary blue painting that shows people kind of interacting with each other—it’s another strong key visual. How and where did you find it? How did it come to you?

Jacob:
The artist is called Alex Gardner, he’s from Los Angeles. I’ve been kind of a very unprofessional art collector for some years now. Or let’s not say art collector, I just invest in creative people I like. If I see that a young person is doing some interesting artwork, I buy a piece and so I can let them know that they’re doing well because I never had that when I was doing my shit. I found Alex Gardner on Instagram…

Jonas:
Instagram again.

Jacob:
Yeah, Instagram is how everything happens. Two and a half years ago I asked him to buy that piece, but we couldn’t make it happen for some reasons back then. When I was designing the album artwork, we were trying to do a photo shoot, but I felt like it would have been o.k., but it didn’t tell the story of this album. It’s a compilation of songs, it’s bold. And it’s about interaction, almost like a Rubik’s Cube. I wanted to find something that at least could get close to having that same energy. I was looking to all the picture files that I had saved and I came across Alex Gardner’s painting again. I hit him off and said: “Let’s make this happen, man! This is the one, this is perfect.”

»I don’t think anyone is born a racist. They just grow up in an environment that fortifies the idea that one is superior to the other.«

Jonas:
I found a sentence that you said in connection with your new record: “We’re all striving for the same things—love, acceptance and an understanding of who we are.” When you look at what’s going on in the world—the rise of right-wing politics, nationalism, protectionism—, would you really say that everyone in our society strives for these values?

Jacob:
Yeah, even them! You know, everyone thinks they are right, everyone thinks that they are a superhero. That’s such a weird thing. Everybody, through the history of time, believes that they are the good guy. And that’s it. Regardless of whether being right or wrong, nobody goes to bed thinking “I was an evil bastard today.” They use to think “I did well, I had to kill him.”
We’re all struggling for the same things. But somewhere down the line, some people are grown up on a wrong side of advice. I don’t think anyone is born a racist. They just grow up in an environment that fortifies the idea that one is superior to the other. If you grow up in an environment that teaches you to be sexist, you will be sexist—until someone comes and changes that. If you grow up with someone who tells you an apple is called an orange, you’re going to be calling it orange for the rest of your life. So, in the end, it’s all about the village where you’re born and raised.


Instinkt und Psyche – Teil 3

Interview — Instinkt und Psyche (Teil 3)

»Verletzlichkeit berührt mich«

Therapeutin Lisa Sundermeyer streichelt in ihrer Berliner Praxis jeden Tag Körper und tastet Seelen ab. Ihre Erkenntnis: Wir alle hören viel zu wenig auf unser Bauchgefühl.

23. Oktober 2018 — MYP N° 23 »Instinkt« — Interview & Text: Katharina Weiß

Teil 3 der Serie über Instinkt und Psyche:
Die Therapeutin

Katharina:
“Someone’s therapist knows everything about you”. Der Spruch geistert derzeit als Meme durchs Internet. Bist du manchmal neugierig darauf, die Freunde oder den Partner von Patienten kennenzulernen?

Lisa:
Kennenlernen? Weniger! Aber manche Leute, die ich über ein Jahr wöchentlich sehe, sind wie eine Serie. Da will ich natürlich wissen, wie es weitergeht. Wenn ein Patient die Therapie beendet hat, ist es manchmal auch komisch, dass diese Geschichte, die ich so lange begleitet habe, für mich nun auserzählt ist. Neben meinem eigenen Leben stecke ich meistens in 25 weiteren Parallelgeschichten.

Katharina:
Du bist ja quasi eine „Allmächtige Erzählerin“, die dank Schweigepflicht alles wissen und erfragen kann.

Lisa:
Darin steckt eine große Motivation, in diesem Beruf zu arbeiten: Mich hat schon als Kind die Wahrheit hinter der Fassade beschäftigt. Das ist für mich eine ganz tiefe Befriedigung: Wenn das, was in der Sitzung besprochen wird, nichts Verstecktes mehr enthält. Man kommt mit dem Patienten an eine Art Nullpunkt. Von dort aus kann er nochmal ganz von vorne anfangen.

»Ich hatte mal einen Mann in der Praxis, der mit fünf Frauen parallel eine Beziehung führte.«

Katharina:
Wie sieht so eine Problemlage aus?

Lisa:
Ich gebe dir ein Beispiel: Ich hatte mal einen Mann in der Praxis, der mit fünf Frauen parallel eine Beziehung führte. Die eine Frau sähe gut aus, die andere sei so nett und wieder eine andere habe dieselben Hobbys wie er und so weiter. Er sagte zu mir: „Mein Problem ist, dass ich mich nicht entscheiden kann.“ Ich habe festgestellt: Wenn man sich entspannt und sich nicht in Logik verzettelt, wird der Instinkt in uns laut, der ja oder nein sagt – und zwar ganz schnell. Weil er nicht so stark überformt ist wie unser Verstand. Ich habe ihm in den Sitzungen gezeigt, wie er sein Bauchgefühl stärker spüren kann. Am Ende fand er heraus: Keine von den fünf Frauen war die richtige. Wenig später hat er sich zum ersten Mal richtig verliebt.

»Der Intellekt ist ein tolles Werkzeug, aber als alleiniger Kompass leitet er oft in die Irre.«

Katharina:
Haben viele von uns verlernt, auf ihren Instinkt zu hören?

Lisa:
Ja. Eine große Zahl meiner Patienten leidet unter Problemen, die daraus entstanden sind. Ein anderer Fall ist ganz klassisch: Eine Frau kommt zu mir, weil sie den falschen Mann geheiratet und mit ihm ein Haus gebaut hat. Jetzt braucht sie Begleitung während der Trennung. Wenn ich solche Menschen frage, zu welchem Zeitpunkt sie zum ersten Mal gespürt haben, dass es nicht passt, dann sagen 90 Prozent zu mir: Das wusste ich schon ganz am Anfang, aber dann kamen die Gedanken, mit denen ich mich von etwas anderem überzeugt habe. Der Intellekt ist ein tolles Werkzeug, aber als alleiniger Kompass leitet er oft in die Irre. Ich bringe Menschen bei, ein störendes Verhaltensmuster zu erkennen und zugunsten ihres Instinkts aufzulösen.

Katharina:
Aber Panik ist doch beispielsweise auch ein Instinkt – und Menschen kommen wegen Panikattacken zu dir.

Lisa:
Falsche Panik entsteht dann, wenn du auf den Alarmknopf in deinem Inneren gedrückt hast, obwohl keine unmittelbare Bedrohung besteht. Wenn ich Menschen beibringe, nicht mehr so viel Angst zu haben, dann zeige ich ihnen, wie sie Stressreaktionen durch Entspannung vermeiden. Anstatt alles als Gefahr zu empfinden, lernen sie, stärker auf das Feintuning ihres Instinkts zu hören: Hier kann ich mich sicher fühlen, diesem Menschen kann ich vertrauen. Diese Fähigkeit wird mit ein bisschen Übung sehr schnell sehr viel besser.

»Verhaltensmuster sind Autobahnen, die wir uns im Laufe der Zeit zurechtlegen, um schneller ans Ziel zu kommen.«

Katharina:
Was bedeutet Übung in diesem Zusammenhang?

Lisa:
Menschen sind total schnell im Kopf: Wir können leicht einen Automatismus erkennen und begreifen, dass er stört. Aber die Bahnen im Gehirn verändern sich erst durch Training. Verhaltensmuster sind Autobahnen, die wir uns im Laufe der Zeit zurechtlegen, um schneller ans Ziel zu kommen. Je öfter wir darauf fahren, desto breiter werden sie. Deshalb sind sie natürlich bequem zu befahren. Ein neuer Weg beginnt immer erst als Trampelpfad. Da müssen wir uns immer wieder überwinden, um unser Gehirn umzugewöhnen.

Katharina:
Wer ist bei dir gut aufgehoben?

Lisa:
Menschen, die unter verschiedensten Schwierigkeiten leiden, die sie nicht mehr frei handeln lassen. Gründe dafür sind Ängste, Stress, der sich im Körper niederschlägt, andere psychosomatische Beschwerden, wenn jemand nicht nein sagen kann oder immer wieder denselben Beziehungskonflikt hat. Auch mit Traumapatienten habe ich viele Erfahrungen gesammelt, weniger dagegen mit Depressionen.

Katharina:
Mit wem kannst du nicht arbeiten?

Lisa:
Menschen mit schweren psychischen Krankheiten fallen nicht in mein Gebiet. Meine Methode ist eine Lernmethode. In dem Moment, in dem ein Patient nicht mehr in der Lage ist umzusetzen, was ich ihm mitgebe, weil er zu depressiv ist oder zu zwanghaft, muss ich ihn an spezialisierte Psychotherapeuten oder den sozialpsychiatrischen Dienst verweisen.

Katharina:
Was kannst du für deine Klienten tun?

Lisa:
Mit der Grinberg-Methode können Klienten dabei angeleitet werden, selbständig Verhaltensmuster über Körperaufmerksamkeit, Berührung und Entspannungstechniken zu verändern. Ich gebe den Menschen, die zu mir kommen, das Werkzeug mit, neu auf Situationen zu reagieren.

Katharina:
Wie arbeitest du konkret mit „Angstpatienten“?

Lisa:
Zusammen mit Menschen, die diesbezüglich etwas verändern wollen, arbeite ich ihre Angstreaktion heraus und zeige ihnen, wie diese sich körperlich ausdrückt: Wie man zum Beispiel die Schultern hochzieht, den Bauch verkrampft und welche Befürchtungen, Überzeugungen und Glaubenssätze einem dann so durch den Kopf gehen und das Handeln maßgeblich beeinflussen. Wie man abwehrt, fliehen oder verschwinden will. Und dann, und das ist ein ganz wichtiger Teil, bringe ich den Menschen bei, wieder loszulassen und – wenn das Adrenalin, also die Aufregung, kommt – sich zu entspannen und zu atmen, anstatt in die Stressreaktion zu gehen. Wenn man das Adrenalin weniger blockiert, fühlt man sich nicht mehr so verkrampft und blockiert. Sondern eher energetisiert, wie bei einer Achterbahnfahrt. Natürlich reflektiere ich im Gespräch auch die erwähnten Überzeugungen und Glaubenssätze, wo man sie gelernt hat und wo sie heute eigentlich hinführen, wenn wir automatisch nach ihnen handeln. Dann kann man daraus neue, passendere Einschätzungen der Situation entwickeln und einüben.

»Ich bin nicht für die Klienten und ihre Probleme verantwortlich, das sind sie immer noch selbst.«

Katharina:
Ist die Methode in einer Weise religiös angehaucht?

Lisa:
Nein, einen spirituellen Überbau gibt es nicht. Ich will einen Raum bieten, in dem der Mensch sich selber finden kann, anstatt ihm zu sagen, was für ihn richtig ist. Ich bin auch nicht für die Klienten und ihre Probleme verantwortlich, das sind sie immer noch selbst.

Katharina:
Was müssen die Klienten mitbringen, um erfolgreich ihre Therapieziele zu erreichen?

Lisa:
Die Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Sie müssen bereit sein sich zu öffnen, sich selbst ehrlich zu reflektieren und neue Perspektiven einzunehmen. Und natürlich die Veränderung in ihrem Alltag umzusetzen – das passiert nicht von alleine, das ist schon Arbeit.

Katharina:
Du arbeitest seit 13 Jahren mit der Grinberg-Methode und hast beim Gründer persönlich gelernt. Was hast du von ihm mitgenommen?

Lisa:
Avi Grinberg ist schon ein anstrengender Mensch. Das scheinen Visionäre ja oft zu sein. Deswegen habe ich nur Anteile aus seiner Methode übernommen, mit denen ich arbeiten kann. Anderes habe ich verworfen oder durch passendere Methodiken ersetzt. Ich habe viele verschiedene therapeutische Ansätze zu meinem eigenen Stil verschmolzen. Aber gelernt habe ich damals in der Ausbildung trotzdem wahnsinnig viel. Er sagte immer: „Du musst 10.000 Stunden gearbeitet haben und 30 Patienten in der Woche haben, bis du wirklich exzellent bist.“ Er forderte von uns, wirklich meisterhaft darin zu werden, unser Gegenüber wahrzunehmen und es individuell zu begleiten.

Katharina:
Das klingt unfassbar anstrengend. Ich selbst durfte dich ja bei einer Probesitzung erleben: Du musst emotional voll da sein, sehr aufmerksam zuhören und dann auch noch mit viel Kraft massieren. Wie viele Leute kommen täglich zu dir?

Lisa:
Ich habe über zehn Jahre lang sehr viel gearbeitet. Jetzt bin ich 40 geworden und liebe es immer noch, Neues zu lernen. Aber ich nehme mir mehr Zeit, alles zu verarbeiten.

»Wenn sich ein Mensch Verletzlichkeit erlaubt, dann sehe ich ihn mit anderen Augen: Er berührt mich.«

Katharina:
Wenn du dich selbst hinterfragst: Wie hat dich diese spezielle Tätigkeit verändert?

Lisa:
Ich habe ganz viel von der Wertung verloren, die ich früher gegenüber Menschen hatte. Früher sah ich jemandem im Wartezimmer und dachte: Uh, der wirkt verkniffen oder arrogant. Aber innerhalb der ersten Sitzung hat sich so gut wie immer ein ganz neues Bild ergeben. Einerseits über seine Erzählungen, aber vor allem auch über die körperliche Arbeit, bei der ich spüre, wo jemand tiefsitzende Probleme hat. Die Menschen öffnen sich unter der Berührung. Und auf einmal weint die Person und du findest heraus, das die verkniffene oder arrogante Fassade nur ganz viel Angst versteckt hat. Wenn sich ein Mensch Verletzlichkeit erlaubt, dann sehe ich ihn mit anderen Augen: Er berührt mich.

Katharina:
Du glaubst also auch an die „Kraft der Verletzlichkeit“, eine These, die die Amerikanerin Brené Brown geprägt hat.

Lisa:
Unbedingt. Ich habe im Laufe der Zeit Folgendes erkannt: Dass ein Mensch Schwierigkeiten hat, sagt über den Einzelnen selbst nichts aus – weil wir alle ganz viele Schwierigkeiten haben. Wir alle sind sehr komplexe Universen. Und das Besondere, dass sich bei jedem freilegen lässt, ist viel stärker und schöner als die Verhaltensmuster, die wir entwickelt haben.

Katharina:
Bekommst du das mit jedem Klienten hin? Du musst die Leute ja entkleidet anfassen…

Lisa:
Wenn ich zu einer Person ein unangenehmes Gefühl habe, das sich auch während der ersten Sitzung nicht verändert, dann arbeite ich nicht mit der Person. Ich darf keine grundsätzliche Abneigung gegen die Person empfinden. Das würde der Klient unbewusst spüren und er kann sich dann nicht mehr wirklich öffnen. Diese Situation kommt aber sehr selten vor. Wenn Menschen wüssten, wie liebenswürdig sie sich machen, wenn sie sich verletzlich zeigen, würden sie das viel öfter zulassen.

Was hinter der Therapiemethode steckt und wie eine Patientin ihre Erlebnisse schildert, erfahrt Ihr in den anderen beiden Teilen der Serie über Instinkt und Psyche:

Teil 1: Die Therapie

Teil 2: Die Patientin