Maximilian Mundt

Interview — Maximilian Mundt

Neuland

Mit seiner Hauptrolle in der Netflix-Serie »How To Sell Drugs Online (Fast)« wurde Maximilian Mundt quasi über Nacht bekannt. Wir haben den jungen Schauspieler zum Gespräch getroffen und sind mit ihm, getrieben von der Sommerhitze, an einen Brandenburger See gefahren.

4. August 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

„Es gibt Länder, wo was los ist / Es gibt Länder, wo richtig was los ist / Und es gibt Brandenburg“

Als Liedermacher und Kabarettist Rainald Grebe im Jahr 2005 auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin sein neues Lied zum Besten gab, war das Gelächter im Publikum groß. Das Stück, das der gebürtige Kölner als traurige Hymne an das Bundesland Brandenburg geschrieben hatte, bündelte wirklich alle Klischees, die man – 15 Jahre nach der Wiedervereinigung – mit dieser dünn besiedelten Region im Osten Deutschlands in Verbindung bringen konnte: Alleenunfälle, Abwanderung, Nazis, Langeweile, Tristesse, Provinzialität. Bam! Ein Song wie ein Fingerzeig, der schnell zum Erfolg wurde, jedenfalls im Rest der Republik. Dabei war doch alles nur als Spaß gemeint.

Nun kommt es im Leben aber vor, dass sich die Zeiten ändern. Soll heißen: Was früher mal belächelt oder gar verachtet wurde, hat heute oft die Chance, mindestens den Mainstream-Geist zu treffen, wenn nicht sogar zum Kult zu werden. Man denke nur an Bio, Birkenstock, Die Grünen.

Was Brandenburg damit zu tun hat? Naja, als Rainald Grebe damals am Klavier saß und sein Lied gewordenes Stigma präsentierte, gab es noch kein Instagram. Und wer nur ansatzweise versteht, wie diese Plattform funktioniert, der weiß, dass man mit Abgeschiedenheit durchaus punkten kann, insbesondere wenn man wie Brandenburg unzählige Naturparks, Wälder und Seen zu bieten hat. Das digitale Volk von heute sucht eben Orte, an denen man sich perfekt in Szene setzen kann. Einsame Natur als Unique Selling Proposition. Am Pragser Wildsee gibt’s das schon lange nicht mehr.

An eine dieser Brandenburger Locations hat es auch uns heute verschlagen. Etwa eine Stunde südöstlich von Berlin stößt man auf den Pätzer Vordersee, gleich daneben liegt der kleinere Tonsee. Zwei Gewässer, an denen sich außer ein paar Nackten nicht wirklich viele Menschen tummeln. Im Gepäck haben wir Maximilian Mundt, den 23-jährigen Schauspieler, der seit etwa zwei Monaten als Hauptdarsteller in der Netflix-Produktion „How To Sell Drugs Online (Fast)“ zu sehen ist. Die Serie beruht auf der wahren Geschichte von Maximilian S. aus Leipzig, der aus seinem Kinderzimmer heraus im Darknet einen florierenden Online-Shop für Drogen aller Art betrieben hatte. Bereits im Frühjahr hatten wir einen der Regisseure, Lars Montag, zum Interview getroffen und ausführlich über die Serie und die Geschichte dahinter berichtet.

Wenn man es genau nimmt, ist Maximilian Mundt nicht zum ersten Mal in unserem Magazin vertreten. Im März 2015 veröffentlichte er in MYP einen selbst verfassten Artikel zum Thema „Mein Ritual“. Ein Ritual, so schrieb er damals, sei etwas, das ihm Ordnung und Halt gebe – Halt, den er brauche, um klar zu sein. Das Theater, so erzählte er, sei ein Ort, der ihm diesen Halt gebe. Denn er habe dort gelernt, wer er sei.

Illustriert war Maximilians Artikel damals mit einem seiner vielen künstlerischen Fotos, die er in den letzten Jahren veröffentlicht hat. Der junge Mann, der seit 2016 an der Hamburger Kunsthochschule Filmkunst studiert, scheint ohnehin ein kreativer Tausendsasser zu sein. Maximilian ist nicht nur Schauspieler und Fotograf, er führt auch Regie, ist Kameramann, Cutter oder kümmert sich, wenn’s sein muss, auch gerne mal um Ausstattung und Garderobe.

Und so wirkt es heute auch, als seien wir nicht hier, um ihn, den Protagonisten, in die Mitte des Geschehens zu stellen. Vielmehr haben wir den ganzen Tag lang das Gefühl, als seien wir gemeinsam als lustiges, dreiköpfiges Fototeam in der Brandenburger Natur unterwegs, um dort nach geeigneten Motiven zu suchen – und von allen anderen schief angeschaut zu werden. Wir sind scheinbar die Einzigen, die hier Klamotten tragen. Maximilian sogar im Wasser.

Bevor wir ins Gespräch eintauchen, sei das Wichtigste vermerkt: Netflix hat vor wenigen Tagen verkündet, dass es eine zweite Staffel von HTSDO(F) geben wird. Die Dreharbeiten dazu starten im Herbst, mit der Veröffentlichung kann man wohl im nächsten Frühjahr rechnen. Wir sind gespannt, wie’s weitergeht. Aber schauen wir erst mal auf die aktuelle Staffel 1 – und auf denjenigen, der darin die Hauptrolle spielt.

»In Deutschland gab es bislang keine Jugendserie, bei der nicht die Dialoge von irgendwelchen 50-Jährigen geschrieben wurden.«

Jonas:
Wenn man deine persönlichen Social-Media-Aktivitäten verfolgt, hat man den Eindruck, dass du selbst ein großer Serien-Junkie zu sein scheinst. Ist „How To Sell Drugs Online (Fast)“ ein Format, das dir als Zuschauer noch gefehlt hat?

Maximilian:
Schwierig zu sagen. Auf der einen Seite ist es so, dass ich unsere Serie mit keiner anderen vergleichen kann. Klar, es gibt gewisse Anklänge an „13 Reasons Why“ oder „Sex Education“, aber dieses Drogen-Ding von Jugendlichen habe ich – jedenfalls in Verbindung mit so viel Comedy – noch nirgendwo gesehen. Auf der anderen Seite ist HTSDO(F) gar nicht so mein Genre. Ich finde Comedy zwar grundsätzlich super, aber ich stehe vielmehr auf Fantasy und weniger auf das ganze Crime-Zeug. Ich mag beispielsweise „The OA“, „Dark“ oder „Stranger Things“ total. Allerdings finde ich „Haus des Geldes“ auch ziemlich gut und habe mir insgeheim gewünscht, dass sich unsere Serie über die nächste Staffel – oder Staffeln, wer weiß – etwas in diese Richtung entwickeln wird. In den ersten Folgen unserer aktuellen ersten Staffel ist der Plot ja noch recht sweet und teeniemäßig. Aber mit jeder Episode wird es ernster und man hat das Gefühl, dass bald der crazy shit losgehen könnte.
Ganz allgemein würde ich sagen, dass so eine Serie definitiv für Deutschland gefehlt hat. Hier gab es bislang keine Jugendserie, die wirklich realistisch dargestellt wurde – und bei der nicht die Dialoge von irgendwelchen 50-Jährigen geschrieben wurden. Bei HTSDO(F) ist der jüngste Drehbuchautor, Stefan Titze, gerade einmal 24. Ich hatte immer das Gefühl, dass das Autorenteam total am Puls der Zeit ist. Als beispielsweise die App „Musicall.y“ in „TikTok“ umbenannt wurde, wussten das die Autoren sofort und haben es ins Drehbuch eingearbeitet.

»Als ich zum ersten Mal zum Casting gegangen bin, stand ich plötzlich vor einer Teppichreinigung.«

Jonas:
Die Bildundtonfabrik wurde in den letzten Jahren hauptsächlich durch ihre vielen unorthodoxen Produktionen rund um Jan Böhmermann bekannt. Ist die Arbeit mit einer solchen Truppe anders als mit einer „herkömmlichen“ Produktionsfirma?

Maximilian:
Für mich hat es sich angefühlt, als wäre man dort sehr auf schnelle Improvisationskünste aus. Klar, alles ist auch immer gut durchdacht, hat einen gewissen Pfiff und man weiß, wie man am besten provozieren kann. Aber die Leute bei der Bildundtonfabrik machen auch viel aus dem Impuls heraus und probieren Dinge gerne aus. Auf jeden Fall ist es eine krasse Firma, von der ich allerdings vorher noch nie etwas gehört hatte. Als ich zum ersten Mal zum Casting gegangen bin, stand ich plötzlich vor einer Teppichreinigung, die unter derselben Adresse zu finden ist wie die BTF. Das hat mich ziemlich verwirrt und ich dachte, diese Teppichreinigung hätte ihre Räume fürs Casting zur Verfügung gestellt. Erst danach habe ich mal gegoogelt – und bin fast vom Stuhl gefallen, als ich gesehen habe, was die BTF so alles gemacht hat.

»Viele Menschen denken, ich selbst sei dieser Maximilian S. aus Leipzig, auf dessen wahrer Geschichte die Serie beruht.«

Jonas:
Du hast im Vorgespräch erklärt, dass du nach dem Serienstart den Fehler gemacht hättest, auf Instagram in die Konversation mit Fans einzusteigen. Du sagtest, es koste unendlich viel Zeit, alle Nachrichten zu beantworten. Wie schaut man insbesondere aus dem Ausland auf die Serie?

Maximilian:
Insgesamt ist das Feedback megapositiv, ich habe bis jetzt noch keine einzige negative Nachricht erhalten. Die Leute sind einfach begeistert. Viele sagen auch, dass sie gar nicht vermutet hätten, dass es sich um eine deutsche Serie handelt, sondern eher um eine amerikanische Produktion oder eine aus ihrem eigenen Land. Erst später haben sie dann gemerkt, dass es sich tatsächlich um deutsche Schauspieler in einer fiktiven deutschen Stadt handelt.
Was mich am meisten beeindruckt – und gleichzeitig auch schockiert –, ist, dass viele Menschen denken, ich selbst sei dieser Maximilian S. aus Leipzig, auf dessen wahrer Geschichte die Serie beruht. Ich werde etwa gefragt, wie ich es geschafft hätte, mit Netflix einen solchen Deal abzuschließen, und wie es dabei sein könnte, dass ich momentan nicht hinter Gittern sitze. Dieser Eindruck ist wahrscheinlich deshalb entstanden, weil die allererste Folge mit einer Art Interview mit Moritz startet, das so authentisch wirkt, als sei es ein reales Hintergrundgespräch zur Serie.

»Dieser Dreh hat mich körperlich wie mental herausgefordert.«

Jonas:
Mit dem Start der Serie gab es quasi von jetzt auf gleich ein enormes Interesse an deiner Person. Hast du damit gerechnet?

Maximilian:
Als im Oktober 2018 die Dreharbeiten losgingen, habe ich noch überhaupt nicht einschätzen können, wo das am Ende hingeht – auch weil die die Bildundtonfabrik wie so eine süße, kleine Produktionsfirma wirkt, die wie bereits erwähnt sehr viel ausprobiert und improvisiert. Daher ist es für mich auch absolut überwältigend, wie viele Leute die Serie schauen und wie gut das Ganze ankommt. Ich freue mich auch über jeden, der mich auf der Straße anspricht. Das ist eine schöne Bestätigung dafür, dass sich die große Mühe gelohnt hat, denn dieser Dreh war für mich auch ziemlich anstrengend und hat mich körperlich wie mental herausgefordert.

Jonas:
Das heißt, du bist danach erst mal für ein paar Tage ins Bett gefallen?

Maximilian:
Für einen ganzen Monat!

»Bis zum ersten Drehtag dachte ich, dass für die Rolle vielleicht doch noch ein anderer Schauspieler rangeholt würde – irgendein deutscher Shooting Star, der mehr Erfahrung und Bekanntheit hat als ich.«

Jonas:
Warum hat dich der Dreh so mitgenommen?

Maximilian:
Ich hatte mir vorher unendlich viel Druck gemacht. In mir gab es eine riesige Angst, auf ganzer Linie zu versagen. Denn eigentlich war meine Rolle schon besetzt, es wurden nur noch Schauspieler für die Figur Lenny gecastet. Ich selbst habe auch erst für diese Rolle vorgesprochen. Aber am selben Tag noch wurde ich auf dem Weg zum Bahnhof darum gebeten, nochmal zurückzukommen und mir die Texte für Moritz anzuschauen. Bis zum ersten Drehtag dachte ich, dass für diese Rolle vielleicht doch noch ein anderer Schauspieler rangeholt würde – irgendein deutscher Shooting Star, der mehr Erfahrung und Bekanntheit hat als ich.

»Mittlerweile könnte ich es mir gar nicht mehr anders vorstellen, als an der Seite von Danilo zu spielen.«

Jonas:
Dabei hast du mit deiner Besetzung als Moritz selbst jemand anderen „verdrängt“.

Moritz:
Ja, das tat mir total leid, auch weil ich denjenigen bereits aus dem Casting kannte. Wir haben mal gemeinsam eine Probeszene gespielt – ich als Lenny, er als Moritz. Das hat eigentlich ziemlich gut funktioniert und war irgendwie cool. Ich dachte, dass diese Konstellation wirklich funktionieren könnte und ich am Ende die Rolle des Lenny bekomme. Aus diesem Grund hatte es mich auch so gewundert, dass ich nochmal zum Vorsprechen gebeten wurde. Die Figur des Lenny hatte ich ja komplett anders angelegt als die des Moritz. Am Ende bin ich natürlich trotzdem megaglücklich. Mittlerweile könnte ich es mir auch gar nicht mehr anders vorstellen, als an der Seite von Danilo zu spielen, den ich während des Drehs sehr liebgewonnen habe.

»Ich bewundere das Feuer, mit dem Moritz die Dinge angeht. Das ist aber gleichzeitig auch das, was ich nicht an ihm mag.«

Jonas:
Nach deiner Besetzung hast du mit diesem Moritz letztendlich sehr viel Zeit verbracht. Was magst du an der Rolle am meisten – und was nicht?

Maximilian:
Am meisten mag ich diese Awkwardness, die er hat, und seine Angewohnheit, diese in den unangenehmsten Situationen auszuspielen – ohne sich selbst dabei bewusst zu sein, wie unangenehm es gerade ist. Als wäre es einfach selbstverständlich. Außerdem bewundere ich seinen Willen, etwas umzusetzen, und das Feuer, mit dem er die Dinge angeht. Das ist aber gleichzeitig auch das, was ich nicht an ihm mag. Ich finde es wirklich schwierig, dass er so wenig nachdenkt, vieles aus dem Bauch heraus entscheidet und damit fast automatisch große Scheiße baut. Wenn es also etwas gibt, das man aus der Serie lernen kann, ist es „Macht genau das Gegenteil von dem, was Moritz und Lenny tun!“ Soll heißen: Bleibt euch treu und denkt erstmal nach, bevor ihr irgendeinen Mist fabriziert. Man merkt meiner Meinung nach recht deutlich, dass es den beiden Jungs noch gar nicht wirklich bewusst ist, was sie da tun, zumindest Moritz nicht. Der will eigentlich nur seine Freundin zurückgewinnen und hat das, was sich im Hintergrund abspielt, noch nicht realisiert.

»Hinter dem Bildschirm kann man sich verstecken und jemand völlig anderes sein.«

Jonas:
Diese Awkwardness findet einen ihrer vielen Höhepunkte unter anderem in einer Szene, in der sich Moritz bei Lenny persönlich entschuldigen will. Das tut er, indem er Lenny sein Smartphone vor die Nase legt und von einem Sprachassistenten einen selbst verfassten Entschuldigungstext vorlesen lässt. Wie hast du diese und andere Schlüsselszenen empfunden, als du sie zum ersten Mal im Drehbuch gelesen hast?

Maximilian:
Solche Momente sind ja keine Standardsituationen, sondern stellen überzogene Charakterzüge von Moritz dar. Die Drehbücher wirkten dementsprechend auch an vielen Stellen total grotesk und bescheuert, aber gerade deshalb auch so genial. Beim Lesen musste ich oft laut loslachen – meistens saß ich dabei übrigens im Zug nach Köln. Man kann sich vorstellen, wie mich die Leute angeschaut haben.

Jonas:
Auch wenn es sich dabei um überzogene Charakterzüge handelt, ist gerade eine solche Szene ein bezeichnendes Bild für die Art und Weise, wie Menschen heute kommunizieren: unpersönlich und indirekt, mit Hilfe diverser Devices und Plattformen.

Maximilian:
Ja, weil es einfach ist. Hinter dem Bildschirm kann man sich verstecken und jemand völlig anderes sein. Für die Person auf der anderen Seite wird nicht mehr ersichtlich, wer wirklich hinter einer Nachricht steckt. Auch für mich persönlich sind solche Technologien wie ein kleiner Schutz – wie eine Mauer, die man um sich herum aufbauen kann. Wenn ich beispielsweise verabredet bin und kurzfristig absagen muss, fällt es mir viel leichter, eine Textnachricht zu schicken statt anzurufen. Wenn ich das gemacht habe, kann ich das Handy einfach weglegen und sehe nicht, ob die entsprechende Person angepisst ist oder irgendwie darauf reagiert. Ich kann eine einzige Ansage machen, die Sache von mir wegschieben und muss mich nicht weiter erklären. Traurig, oder?

»Lenny ist für Moritz das, was Steve Wozniak für Steve Jobs ist.«

Jonas:
Obwohl sich Moritz so grotesk entschuldigt, steht Lenny weiter zu ihm und unterstützt ihn. Welche Bedeutung hat Lenny für Moritz in der Serie? Und welche Bedeutung hat Danilo Kamperidis für dich persönlich?

Maximilian:
Lenny ist für Moritz das, was Steve Wozniak für Steve Jobs ist: der Typ, der über das technische Know-How verfügt, um die Ideen des anderen, des Visionärs, umzusetzen. Lenny ist der einzige Freund, den Moritz hat. Und er ist auch der Einzige, der dessen Vorhaben Realität werden lassen kann.
Was Danilo angeht, ist er für mich jemand, der mir beim Dreh ganz viel Gelassenheit gegeben hat. Während ich immer krass aufgeregt war, unter Druck stand und abends im Hotelzimmer in Gedanken an den nächsten Drehtag fast hyperventiliert habe, war er supercool und entspannt. Er hat immer versucht, etwas davon auf mich zu übertragen.

»Ich habe versucht, Moritz viel von meinen eigenen unangenehmen Momenten im Leben und von meiner eigenen schlaksigen Körperlichkeit mitzugeben.«

Jonas:
Würdest du sagen, dass es gewisse Überschneidungen zwischen dir und deiner Rolle gibt? Wieviel Moritz steckt in dir – und umgekehrt?

Maximilian:
Beim Lesen der Drehbücher war es für mich sehr schwierig nachzuvollziehen, wie die Rolle den Zuschauer mitziehen wollte. So, wie sie anfangs geschrieben war, war sie erkennbar unemotional, unempathisch, kühl und karriereorientiert. Zeitweise stand sogar im Raum, den Charakter in etwa so anzulegen, wie Marc Zukerberg von Jesse Eisenberg in „The Social Network“ gespielt wurde. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie man so eine Persönlichkeit über eine ganze Serie und dann noch mit einer Off-Stimme erzählen kann. Das hat mir ein wenig Bauchschmerzen bereitet. Ich wusste quasi bis zum ersten Drehtag nicht, was wir mit diesem Moritz anstellen werden und in welche Richtung sich das Ganze bewegen soll.
Mein Gefühl hat mir gesagt, dass ich ihn irgendwie etwas liebenswerter und nahbarer machen muss. Also habe ich sehr stark in mich selbst geschaut und versucht, Moritz viel von meinen eigenen unangenehmen Momenten im Leben und von meiner eigenen schlaksigen Körperlichkeit mitzugeben. Ich wollte zeigen, dass er kein kompletter Creep ist und sogar eine verletzliche Seite hat. Dass Moritz beispielsweise in manchen Momenten ziemlich leidet und sogar Tränen in den Augen hat, stand vorher so nicht im Drehbuch. Darüber hinaus stammen auch die vielen Zeichnungen von mir, das war in der Figur ebenfalls nicht angelegt.

»Für mich fühlt sich diese erste Staffel fast wie ein Teaser auf etwas noch viel Größeres an.«

Jonas:
Euer Regisseur Lars Montag hat uns im Interview verraten, dass Maximilian S. mal am Set in Bonn vorbeigeschaut hat, als er auf Freigang war und in der Gegend einen Gerichtstermin hatte. Hast du davon etwas mitbekommen?

Maximilian:
Ja – und ich war froh, dass ich ihn nicht getroffen habe. Mir war es wichtig, durch diese reale Person nicht darin beeinflusst zu werden, wie ich meine Rolle anlege. Außerdem ist er ein Krimineller und ich hatte keine Lust, mit ihm zusammen womöglich noch auf irgendwelchen Pressefotos zu landen. Wagner Moura, der in der Serie „Narcos“ die Rolle des Pablo Escobar spielt, hätte sich mit der realen Person wohl auch nicht mal eben auf einen Plausch getroffen. Davon abgesehen hatte ich die Befürchtung, dass Maximilian S. sich persönlich angegriffen fühlt, wenn er sieht, wer ihn da portraitiert – und dass er denkt, man wolle sich über ihn lustig machen. Gott sei Dank haben wir zu den realen Ereignissen immer einen gewissen Abstand gewahrt. Und so, wie ich das mitbekommen habe, muss er es letztendlich ziemlich lustig gefunden, was wir aus dem Ganzen gemacht haben.

Jonas:
Neben der Tatsache, dass Maximilian S. einen illegalen Drogen-Shop im Darknet betrieben hat und dafür verurteilt und inhaftiert wurde, hat er wohl noch ein viel größeres Problem: Es scheint eine Menge Leute zu geben, denen er noch Geld schuldet und die nur darauf warten, dass er aus dem Knast kommt. Oder anders gesagt: Wer so ein Business betreibt, setzt sich einer Vielzahl von – vielleicht sogar lebensgefährlichen – Gefahren aus. Ist das ein Aspekt, den ihr in Staffel 2 stärker beleuchten werdet?

Maximilian:
Es gibt ja gegen Ende der ersten Staffel die Bemerkung von Lenny, dass irgendwann der Punkt erreicht ist, an dem alles aus dem Ruder läuft. Wir werden also sehen, wie’s weitergeht (Maximilian grinst). Für mich persönlich fühlt sich diese erste Staffel ohnehin fast wie ein Teaser auf etwas noch viel Größeres an.

»Ich finde unsere Serie auch so realitätsnah, weil Drogen mittlerweile Teil einer Jugendkultur sind.«

Jonas:
In den letzten Jahren gab es immer wieder Stimmen, die den medialen Umgang mit der Geschichte von Maximilian S. kritisiert haben. Es heißt, seine Taten würden in der Berichterstattung oft marginalisiert, der Online-Verkauf von Drogen aus dem Kinderzimmer heraus würde wie eine clevere Startup-Idee behandelt. Dabei werde kein Licht auf die persönliche Situation derer geworfen, die am anderen Ende „der Leitung“ säßen und deren Schicksale maßgeblich durch den Konsum von Drogen bestimmt würden. Wie hast du dich selbst mit dieser Problematik auseinandergesetzt?

Maximilian:
Ich habe in meinem ganz privaten Umfeld die Erfahrung gemacht, dass Drogen bei Freunden und Bekannten ein ganz normales Thema sind. Ich kenne 16-Jährige, die standardmäßig immer wieder eine Pille schmeißen oder Speed ziehen. Aus diesem Grund finde ich unsere Serie auch so realitätsnah, weil Drogen mittlerweile Teil einer Jugendkultur sind. Man dröhnt sich einfach zu, wenn man mal wieder allem überdrüssig geworden ist. Was ich in diesem Zusammenhang sehr spannend finde, ist die Haltung unserer Produktionsfirma, die immer wieder betont, dass wir mit unserer Serie nicht die Erziehungsberechtigten der Zuschauer sind. Wir zeigen nur eine etwas überzogene Realität, haben dabei aber keinen Lehrauftrag. Trotzdem zeigen wir, welche Wirkungen und Nebenwirkungen der Konsum von Drogen haben kann. Ich persönlich finde es auch viel wichtiger, gerade darüber aufzuklären, statt einfach nur mit dem erhobenen Zeigefinger zu fuchteln.

»Für viele Leute ist es nach wie vor ein Tabuthema, über Sex oder ihre Sexualität zu reden. Und über Drogen wird noch viel weniger gesprochen.«

Jonas:
Glaubst du, dass es heute für Jugendliche eine ähnliche pionierartige Drogenaufklärung braucht, wie es vor wenigen Jahrzehnten eine Sexualaufklärung à la Dr. Sommer gab?

Maximilian:
Ich weiß gar nicht, ob alleine die Sexualaufklärung schon so weit ist, wie sie sein sollte. Es gibt immer noch etliche Vorurteile und Unsicherheiten – und für viele Leute ist es nach wie vor ein Tabuthema, über Sex oder ihre Sexualität zu reden. Und über Drogen wird noch viel weniger gesprochen. Von etlichen Seiten heißt es nur: „Nehmt keine Drogen, denn das ist schlecht!“ Deshalb bin ich absolut der Meinung, dass es mehr Aufklärung braucht – alleine, was die Begriffe angeht, die so auf dem Schulhof zu hören sind: Was sind „Pappen“, was sind „Teile“, was ist „Acid“? Das kann man bisher nur von Freunden oder aus dem Internet erfahren. Also lasst uns viel mehr darüber reden!

Jonas:
2013 hat Angela Merkel den legendären Satz gesagt: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Darüber haben sich viele Leute lustig gemacht: Kein Satz schien besser geeignet, um eine Generation zu beschreiben, die den Sprung ins Internet-Zeitalter verpasst hat. Wenn man diesen Satz aus der heutigen Perspektive betrachtet – mit all den Unwägbarkeiten, die das Internet mit sich bringt, und all dem Unwissen, was dort mit den eigenen Daten passiert – scheint dieser Satz gar nicht mehr so entlarvend, wie ihn viele damals empfanden. Wie hast du selbst zu dem ganzen Darknet-Thema recherchiert? Bist du in diese Welt mal eingetaucht?

Maximilian:
Ich bin in der Hinsicht tatsächlich ein riesiger Angsthase und habe mir das alles nicht angetan. Ich habe mir nur mal auf YouTube einen Beitrag dazu angeschaut, das hat mir völlig gereicht.

»Diese jungen Leute am Theater konnten vollkommen davon loslassen, anderen etwas darüber vorzulügen, wer sie sind.«

Jonas:
Vor gut vier Jahren hast du in unserer 17. Ausgabe einen eigenen Artikel zum Thema Ritual veröffentlicht. Darin schreibst du: „Mein Ritual besteht aus einer sich wiederholenden Tätigkeit, die mir Ordnung und Halt gibt. Halt, den ich brauche, um klar zu sein. Das Theater ist ein Ort, an dem ich gelernt habe, wer ich bin. Ein Ritual, mich selbst zu spielen, zu fühlen und zu meinen Gedanken zu stehen.“ Was genau hast du mit diesen Zeilen gemeint?

Maximilian:
2013 habe ich angefangen, im Jugendclub des Hamburger Thalia Theater zu spielen. Ich habe neben der Schule immer nach etwas gesucht, was mich erfüllt. Ich war kein besonders guter Schüler war, außer in den Fächern Theater oder Kunst, aber das wurde nicht besonders gefördert. Ich habe in der Schule sehr wenige wirklich enge Freunde gehabt – die habe ich erst in der Theatergruppe gefunden. Diese jungen Leute konnten vollkommen davon loslassen, sich in irgendeiner Art und Weise präsentieren zu müssen oder anderen etwas darüber vorzulügen, wer sie sind. Es gab Momente, da sind wir einfach frei auf der Bühne herumgerollt, haben megaverschwitzt zusammen im Pulk gelegen und wie Wildschweine gegrunzt. Gerade diese Körperlichkeit fand ich toll. Am Theater habe ich das erste Mal gemerkt, was ich wirklich gut kann und wer ich bin. Und ich habe gelernt, zu mir selbst zu stehen und für meine Meinung einzustehen. Das wiederum konnte ich in der Schule ganz gut für meine Zeit in der Oberstufe nutzen, mein Zeugnis ist plötzlich viel besser geworden – aber nicht, weil ich durch das Theater besser in den einzelnen Fächern geworden wäre. Sondern weil ich meine künstlerischen Fähigkeiten besser einbringen und zu meiner Meinung stehen konnte.

»Wenn man sich in fremde Identitäten hineinlebt, kann einen das manchmal ganz schön fertigmachen.«

Jonas:
In 2017 und 2018 hast du an deutschen Seminaren des berühmten Ron Burrus Actors Conservatory teilgenommen. Was hast du daraus für dich mitgenommen?

Maximilian:
Ich habe gelernt, dass Schauspielerei ein Job ist – ein Handwerk. Dass es wichtig ist, sich von der emotionalen Bindung zu seiner Rolle auch wieder lösen zu können. Dass man kein besserer oder anderer Mensch ist, nur weil man Schauspieler ist, sondern lediglich jemand, der auch nur seine Leistung darbietet. Und dass man aufpassen muss, nicht daran kaputtzugehen. Wenn man sich in fremde Identitäten hineinlebt, kann einen das manchmal ganz schön fertigmachen.

Jonas:
Das heißt, diese Seminare haben dich letztendlich auch für deine Rolle in HTSDO(F) gerüstet?

Maximilian:
Absolut. Nur dass ich mir dort leider durch eigene Ängste und Versagensängste ziemlich viel Druck gemacht habe, den ich mir eigentlich hätte sparen können. Ich glaube, dass meine Darstellung von Moritz auch davon geprägt ist, dass ich so unter Spannung stand. Ich war nicht in der Lage, nach den Drehtagen loszulassen – ganze zwei Monate lang nicht. Immerhin weiß ich jetzt, wie ich in Zukunft damit umgehe.

»Ich brauche eine Aufgabe, eine Fragestellung, um etwas zu erschaffen. Aus mir selbst heraus kann ich das nur sehr schwer.«

Jonas:
Lars Montag hat uns verraten, dass dir die Rolle im letzten Jahr mehr oder weniger „in die Quere“ gekommen ist, weil du ursprünglich vorhattest, dich aus der Schauspielerei zurückzuziehen. Was war der Grund dafür?

Maximilian:
Naja, Theater spiele ich weiterhin mit sehr viel Freude. Was Film und Fernsehen angeht, hatte ich zwar immer wieder Anfragen, aber leider nur wenige Besetzungsvorgänge – meistens war mein Typ einfach zu speziell. Aus diesem Grund bin ich auch wahnsinnig dankbar, dass mir sowohl die Showrunner Philipp Käßbohrer und Matthias Murmann als auch die beiden Regisseure Lars Montag und Arne Feldhusen das Vertrauen entgegengebracht haben, ihre Serie als Darsteller zu tragen.
Als die Rolle kam, war ich gerade mit meinem Kunstfilm-Studium an der Hamburger Kunsthochschule beschäftigt, aber dort kann es wirklich langweilig sein. Man wird nicht wirklich gefordert und die Leute interessieren sich nicht für einen. Ich persönlich brauche aber einen Arschtritt, um kreativ zu sein. Ich brauche eine Aufgabe, eine Fragestellung, um etwas zu erschaffen. Aus mir selbst heraus kann ich das nur sehr schwer. Ein Beispiel: Ich bin kein Autorenfilmer, das finde ich einfach zu verkopft. Für mich ist es viel interessanter, einen fremden, frischen Blick auf etwas zu bekommen und eine neue Perspektive einzubringen. Das kann man an der Kunsthochschule nicht fördern, da will dir keiner sein Skript geben oder über seine eigenen Projekte reden. Das ist verdammt schade!

»Heute weiß ich, dass ich diese Kritik an mir hätte abprallen lassen sollen.«

Jonas:
Wenn du ohne einen Anschub von außen nicht kreativ sein kannst, wie entstehen dann deine überaus kreativen Fotos, die du in den letzten Jahren so zahlreich erschaffen und veröffentlicht hast? Diese Bilder wirken wie Schlüsselszenen aus Filmen, die es noch gar nicht gibt.

Maximilian:
Leider hat mir die Kunsthochschule diese Arbeit ein wenig zerstört. 2015 habe ich mich dort mit meinen Fotografien beworben und wurde abgelehnt – mit der schlechtesten Bewertung, die es gibt. Es hieß, das sei keine Kunst, sondern Werbung oder Modefotografie. Einfach nur schön, sonst nichts. Dieses Urteil hat sich bei mir so eingebrannt, dass ich aufgehört habe zu fotografieren, zumindest in dieser Richtung. Im Hinterkopf hatte ich immer die Frage: Warum machst du das? Was willst du damit? Das zerstört einem die intuitive Arbeit – und dann macht man lieber gar nichts. Bis dahin war die Fotokunst neben dem Theater mein Ort, um mich auszudrücken und etwas zu sagen. Vor allem, weil ich innerhalb der Schule ziemlich schweigsam war. Heute weiß ich, dass ich diese Kritik an mir hätte abprallen lassen sollen. Das habe ich aber damals nicht. Es ist so sehr hängengeblieben, dass mit der Zeit immer weniger Bilder entstanden sind.

Jonas:
Wie kommt es, dass du gerade den Meinungen von Experten so viel Beachtung schenkst?

Maximilian:
Wahrscheinlich aus einer Unsicherheit heraus, aus einer Suche nach Bestätigung. Meine Freunde haben mich immer extrem unterstützt und mir Halt gegeben, aber das hat mir nicht gereicht, zumindest damals nicht. Ich wollte eine Bestätigung von Leuten, die vom Fach sind – von Autoritäten. Das ist manchmal immer noch so. So hatte ich beispielsweise auch während des Drehs im letzten Jahr oft das Gefühl, mich beweisen zu müssen. Warum auch immer.

Jonas:
In den letzten Wochen wurden es weltweit ein paar Millionen Menschen mehr, die sich für das interessieren, was du tust. Vielleicht hilft das ja.

Maximilian (lacht):
Ich habe seitdem tatsächlich an Selbstbewusstsein gewonnen. Es ist einfach ein schönes Gefühl, so viel Zuspruch zu erhalten – aber nicht in dem Sinne, dass ich jetzt denke, ich wär’ ein toller Hecht. Sondern einfach deshalb, weil es schön ist, den Leuten eine Freude zu bereiten.


The Lonely Man

Editorial — Nicky Hamilton

The Lonely Man

With his impressing series »The Lonely Man,« British photographer Nicky Hamilton reflects on his heavy childhood experiences in a cineastic way that only movies use to do.

31. Juli 2019 — MYP N° 26 »Style« — Photography & Text: Nicky Hamilton

“They fuck you up, your mum and dad. They may not mean to, but they do.”

This Be The Verse by Philip Larkin

The Lonely Man is a deeply personal project. The seventeen-piece tableau explores my childhood relationship with my father, a relationship that was conducted through a maze of police raids, guns, drugs, violence and, ultimately, redemption after he was declared bankrupt in the 1980s. He turned to crime and crime turned him into a drug addict—who would one day call his son and ask that he help prevent him from committing suicide.


Louis Hofmann

Interview — Louis Hofmann

Von Zeit und Wahrheit

In Staffel 2 der Erfolgsserie »Dark« erzählt Louis Hofmann auf Netflix gerade die Geschichte seiner Rolle Jonas Kahnwald weiter. Im Interview verrät uns der Schauspieler, wie man bei so einer komplexen Serie den Überblick behält. Und er erklärt uns, was es braucht, um einer Rolle die Wahrheit eines echten Menschen zu geben.

22. Juli 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke

Die Zeit ist ein sonderbares Wesen. Wer sie in seine Gedanken lässt, muss damit rechnen, dass sie alles Vergangene in Frage stellt. Dabei war sie es doch selbst, die in der Vergangenheit genau die Realität schuf, die seitdem auf immer und ewig gilt und nicht mehr beeinflusst werden kann. Oder etwa nicht?

Man muss dieses Wesen nur ein bisschen in seinen Gedanken wüten lassen und schon sind sie da, die quälenden Fragen, wie sich der Lauf der Dinge verändert hätte, wenn man damals in seinem Leben links abgebogen wäre und nicht rechts. Wenn man „Ich liebe dich“ gesagt hätte, statt zu schweigen. Wenn man geblieben wäre, statt zu gehen.

Noch sonderbarer wird es, wenn man die Zeit in den Kontext bestimmter Orte setzt. Wie etwa den Volkspark Humboldthain im Berliner Norden. Die Parkanlage, deren Bau am 14. September 1869 – dem 100. Geburtstag von Alexander von Humboldt – begann, wurde zu Ehren des großen Naturforschers angelegt. Ihr oberstes Ziel war es, die Schönheit der Natur zu unterstreichen. 1941, 72 Jahre später, war es damit vorbei. In der wohl dunkelsten Zeit Berlins entstand hier eine gigantische Hochbunkerlage, deren Flakgeschütze vor allem nachts ein ohrenbetäubendes Granaten-Stakkato in die Luft tackerten. Heute ist der Park ein beliebtes Areal für Freizeitaktivitäten aller Art, insbesondere Kletterer und Fitnessfanatiker haben an und auf dem ehemaligen Bunker ihr ganz persönliches Paradies gefunden. Und Fotografen.

Und so haben wir diesen geschichtsträchtigen Ort gewählt, um uns hier mit Louis Hofmann zu treffen, dem 22-jährigen Schauspieler, dessen Gesicht spätestens seit der Netflix-Erfolgsserie „Dark“ auf der ganzen Welt bekannt sein dürfte – oder zumindest dort, wo die Streaming-Plattform freigeschaltet ist und es schnelles Internet gibt.

Die Serie, die gemeinsam von Jantje Friese und Baran bo Odar entwickelt wurde, ist das erste Netflix-Gewächs, das in Deutschland entwickelt, produziert und gefilmt wurde. Sie erzählt die Geschichte des kleinen Städtchens Winden und seiner Bewohner, und zwar in den Jahren 2019, 1986 und 1953. Das Besondere daran: Die Story zeigt nicht nur, wie Gegenwart und Zukunft von der Vergangenheit abhängen, sondern auch umgekehrt. In der zweiten Staffel, die am 21. Juni veröffentlicht wurde, addieren sich dazu zwei weitere Handlungsstränge, 1921 und 2053. Im Mittelpunkt der Story steht der – im Jahr 2019 jugendliche – Jonas Kahnwald, gespielt von Louis Hofmann, der durch die Zeit reist, um einen Weg zu finden, den sich gegenseitig beeinflussenden Zyklus der Zeiten zu durchbrechen.

Die Serie bezieht ihre Komplexität aus der Vielzahl der dargestellten Charaktere und ihrer individuellen Erzählstränge. Kurz gesagt: „Dark“ ist mehr als Jonas Kahnwald. Und genauso ist Louis Hofmann mehr als „Dark“. Viel mehr. Der feinsinnige Schauspieler hat in den letzten Jahren in einer Vielzahl besonderer Filme brilliert, die man im positiven Sinne nicht mehr los wird. Ob „Freistatt“, „Mitte der Welt“, „Unter dem Sand“ oder „1000 Arten Regen zu beschreiben“ – Louis hat die Gabe, über seine Rollen etwas zu erzählen, was Denis Scheck wohl mit „das Gute, Schöne, Wahre“ etikettieren würde. Die Figuren, die er spielt, lässt er verletzlich sein und gleichzeitig stark, gedankenverloren und gleichzeitig reflektiert, unbeschwert und gleichzeitig den gesamten Weltschmerz auf den Schultern tragend.

Wollte man sich ausführlich mit dem Gesamtwerk des noch so jungen Schauspielers befassen, könnte man wortwörtlich Bücher füllen. Aber fangen wir mal mit „Dark“ an.

Jonas:
Als im Dezember 2017 die erste „Dark“-Staffel veröffentlicht wurde, haben Zuschauer wie Kritiker in ihrer Begeisterung förmlich überschlagen. Eine solche Qualität hatten viele bis dahin nicht von einer deutschen Produktion erwartet, vor allem nicht in Bezug auf Dramaturgie und Visualität. Wie hast du als Netflix-Konsument den Serienstart damals erlebt?

Louis:
Glücklicherweise konnte ich die Serie bisher als relativ normaler, objektiver Zuschauer genießen – das gilt auch für die aktuelle zweite Staffel. In „Dark“ gibt es etliche Rollen und Erzählstränge, in denen meine Figur Jonas nicht stattfindet und die ich dementsprechend von den Dreharbeiten her auch noch nicht kannte. Während des Drehs habe ich ohnehin versucht, alle anderen Erzählstränge zur Seite zu schieben und mich nur auf den von Jonas Kahnwald zu konzentrieren. Ansonsten wäre ich wahrscheinlich ziemlich durcheinandergekommen, weil der Inhalt der Serie so komplex ist.

Jonas:
Was unterscheidet die aktuelle zweite Staffel von der ersten?

Louis:
In Staffel 1 ist es in erster Linie so, dass mit den jeweiligen Figuren irgendetwas passiert und sie damit umgehen müssen. In der zweiten Staffel werden diese Figuren um Einiges aktiver, das gilt insbesondere für Jonas. Ganz am Anfang der Serie ist er noch sehr passiv und muss im Laufe der Episoden erst lernen, das Heft selbst in die Hand zu nehmen. In der zweiten Staffel weiß er bereits viel besser, wer er ist, welche Bedeutung er hat und was er tun muss, um seine Ziele zu erreichen – und natürlich, was er dafür zu opfern hat. Aber auch alle anderen Charaktere lernen dazu, insgesamt wird das Wissen der einzelnen Figuren im Laufe der zweiten Staffel sehr viel größer. Darüber hinaus würde ich sagen, dass diese zweite Staffel auch emotionaler ist. Es werden nun deutlich mehr Informationen an andere weitergegeben, was für diese Menschen nicht weniger als weltbildverändernd ist.

»In Deutschland neigt man eher dazu, auf Nummer sicher zu gehen.«

Jonas:
Auf der Plattform kino.de gibt es einen Episodenguide zur ersten Staffel, in dem es heißt, dass ein einmaliges Schauen der Serie nicht genüge, um alle Zusammenhänge und Hinweise zu erkennen: „Oft reicht eine kurze Ablenkung wie der Griff zum Getränk oder der Blick zur Uhr, um ein wichtiges Detail zu verpassen.“ Siehst du das ähnlich?

Louis:
Die Serie ist definitiv komplex, da stimme ich zu. Und dadurch, dass in Staffel 2 so viele Informationen vermittelt werden müssen, um die Story voranzutreiben, ist diese zweite Staffel vielleicht noch komplexer als die erste. Jantje Friese und Baran bo Odar haben immer betont, dass sie mit „Dark“ eine Serie schaffen wollten, die die Zuschauer auf eine bestimmte Art und Weise herausfordert. Auch das gab es übrigens bis dahin noch nicht in Deutschland – hier neigt man ja eher dazu, auf Nummer sicher zu gehen. Nach Veröffentlichung der ersten Staffel gab es lustigerweise auf der einen Seite Kritiker, die uns vorgeworfen haben, dass die Serie zu kompliziert sei. Und gleichzeitig gab es auf der anderen Seite Kritiker, die sich beschwert haben, dass wir die Zuschauer viel zu sehr an die Hand nehmen würden.

Jonas:
Wie bist du mit der hohen Komplexität umgegangen, die allein innerhalb der Figur Jonas Kahnwald angelegt ist? Behält man da immer den Überblick, auch wenn man sich nur auf seinen eigenen Erzählstrang konzentriert?

Louis:
Natürlich haben wir alle beim Dreh immer mal wieder den roten Faden verloren. Aber Gott sei Dank gibt es Jantje, die den kompletten Durchblick hat. Sie weiß bis ins kleinste Detail, wie, wo, was, wann passiert. Bei den Dreharbeiten für die zweite Staffel hatten wir zusätzlich einen Script Supervisor, an den man sich immer wenden konnte. Außerdem gab es am Set spezielle Bildschirme, auf denen man die gesamte erste Staffel ausspielen konnte – für den Fall, dass man mal nachschauen wollte, auf welche bestimmte Stelle eine Szene Bezug nimmt, für die man gerade vor der Kamera steht.

»Heute ist es wesentlich leichter, aus dem Hollywood-Zwang auszubrechen.«

Jonas:
Lars Montag, Regisseur der Netflix-Serie „How To Sell Drugs Online (Fast)“, hat uns vor kurzem im Interview verraten, dass er das Gefühl habe, dass es seit Fassbinder eigentlich keine deutsche Erzählweise mehr gebe. Er sagte: „Alle versuchen nur noch, in irgendeiner Form Hollywood nachzumachen.“ Braucht es deiner Meinung nach eine besondere deutsche Erzählweise – so, wie man etwa den Skandinaviern, Franzosen oder Engländern eine ganz eigene filmische Erzählweise zuschreibt?

Louis:
Eindeutig nein. Ich glaube, wir leben in Zeiten, in denen alle versuchen, etwas Besonderes zu schaffen. Alleine dadurch werden immer mehr Erzählweisen aufgebrochen. Das kann man selbst bei den Skandinaviern beobachten, denen man einen besonders starken Stereotyp bei Bildsprache und Erzählweise nachsagt. Der Grund für diese Entwicklung ist, dass wir alle immer internationaler erzählen – was aber explizit nicht bedeutet, dass wir uns dabei mehr an Hollywood orientieren. International erzählen heißt für mich, dass wir durch bestimmte Erzählweisen länderübergreifend Zuschauer ansprechen können und uns deswegen nicht auf unsere lokalen Schemata reduzieren müssen.
Natürlich braucht es nach wie vor unterschiedliche Erzählweisen im Film – aber nicht, um die nationale Verortung hervorzuheben, sondern um die unterschiedlichsten Zuschauertypen ansprechen zu können. Ganz davon abgesehen gibt es auch nicht das eine große Geheimrezept der Hollywood’schen Erzählweise, die man zwingend anwenden muss, um die Leute zu erreichen. Ich glaube vielmehr, dass es heute wesentlich leichter ist, aus diesem Hollywood-Zwang auszubrechen – einfach, weil die Zuschauer viel diverser geworden sind.

Jonas:
Der Trailer der zweiten „Dark“-Staffel macht mit einer düsteren, postapokalyptischen Landschaft auf, in der ein zerstörtes Atomkraftwerk zu sehen ist. Ist es nicht seltsam, wie realitätsnah und durchaus vorstellbar solche fiktionalen Bilder wirken, wenn man sie im Kontext der aktuellen gesellschaftlichen Debatte um den Klimawandel und drohende Umweltkatastrophen betrachtet?

Louis:
Wenn über die Zukunft gesprochen wird, gibt es hauptsächlich zwei Szenarien, die möglich erscheinen: Das eine beschreibt eine extrem moderne und florierende Science-Fiction-Welt mit fliegenden Autos, in der alles blinkt und leuchtet. Das andere ist genau das Gegenteil: ein düsteres Szenario, in dem alles zerstört ist – weil wir Menschen uns selbst kaputt gemacht haben. In diesem Szenario gewinnt die Natur wieder ganz langsam die Oberhand und überrollt uns. Bei „Dark 2“ gab es nicht unbedingt die Absicht, Parallelen zu diesem zweiten möglichen Szenario zu schaffen. Aber es ist tatsächlich auffällig, dass diese Bilder in der heutigen Zeit gar nicht so unrealistisch wirken.

»In Anbetracht der bedrohlichen Situation verstehe ich nicht, warum sich in Deutschland gerade junge Politiker nicht viel stärker einbringen.«

Jonas:
Vor kurzem warst du zusammen mit der niederländischen Schauspielerin Hannah Hoekstra in der Arte-Kurzfilmreihe „Paare“ zu sehen. Ihr spielt dort ein junges Pärchen, das darüber diskutiert, ob es angebracht ist, sich die Deutschland-Fahne ins Gesicht zu malen, etwa bei einem Spiel der Nationalmannschaft. Er regt sich wahnsinnig darüber auf, sie versteht sein Problem nicht. Wie blickst du persönlich momentan auf dieses Land?

Louis:
Mit Scham und mit Sorge, weil das wichtigste und bedrohlichste Thema der Welt – der Klimawandel – nicht ernst genommen wird. Es scheint zwar aktuell eine Art Sinneswandel zu geben, der sich auch dadurch ausdrückt, dass die Grünen zeitweise in den Umfragen führen. Trotzdem schnürt es mir immer die Kehle zu, wenn ich merke, wie Klimaziele ignoriert werden und Deutschland – das eine gewisse Vorbildfunktion hat – dermaßen verkackt. Das finde ich richtig traurig. Ich hoffe sehr, dass dieser grüne Trend kein kurzlebiger bleibt und weitergeht, weil wir einfach dafür sorgen müssen, dass diese Erde nicht in 30 Jahren dem Untergang geweiht ist. Wenn ich mich mit den prognostizierten, katastrophalen Folgen des Klimawandels auseinandersetze, macht mir das Angst. In Anbetracht dieser bedrohlichen Situation verstehe ich nicht, warum sich in Deutschland gerade junge Politiker nicht viel stärker einbringen. Durch ihren Job ist ihnen doch eine riesige Bühne gegeben! Nur leider wird diese Bühne nur von den Wenigsten genutzt. Dabei hätten sie jetzt die Chance, endlich Wahrheiten auszusprechen. Aber es wird nur gelabert. Wenn man einigen von diesen Politikern zuhört, will man sie am liebsten schütteln und wachrütteln.

»Wahrscheinlich habe ich eh schon lange die Chance verpasst, den Leuten meine Meinungen ans Herz zu legen.«

Jonas:
Du hast in den letzten Jahren deine Social-Media-Aktivitäten sehr stark reduziert. Dabei könntest du deine Popularität und die damit verbundene Reichweite nutzen, um bestimmten Themen mehr Raum im öffentlichen Diskurs zu geben. Warum hast du dich entschieden, dich aus den Sozialen Netzwerken zurückzuziehen? Hast du nicht das Gefühl, damit einen gewissen Einfluss abgegeben zu haben?

Louis:
Natürlich ist es ein Stück weit so, dass man mit einer gewissen Anzahl an Followern und der damit verbundenen Reichweite die Möglichkeit hat, seine eigenen Meinungen zu verbreiten und die von anderen Menschen zu beeinflussen. Für mich war es aber schon immer schwierig, mich in den Social Networks zu konkreten politischen Fragen zu positionieren. Zwar ist es mir im Vorfeld der Europawahl relativ leichtgefallen, mit meinen Posts dazu aufzurufen, zur Wahl zu gehen. Ansonsten bin ich da aber eher vorsichtig. Wahrscheinlich habe ich eh schon lange die Chance verpasst, den Leuten meine Meinungen ans Herz zu legen. Anderen gelingt das übrigens wirklich toll, was ich sehr bewundere. Aber in meinem Fall war es eine sehr egoistische Entscheidung, meinen Facebook-Account zu löschen und mich auf Instagram stark zurückzuziehen.

»Ich hatte immer das Gefühl, etwas posten zu müssen, um die Leute zu entertainen oder bei der Stange zu halten.«

Jonas:
Inwiefern?

Louis:
Es hat mir einfach nicht gutgetan. Ich hatte immer das Gefühl, etwas posten zu müssen, um die Leute zu entertainen oder bei der Stange zu halten. Das hat mich total verunsichert und unter Druck gesetzt. Daher habe ich entschieden, mich davon zu befreien. Facebook hielt ich ohnehin nicht mehr für notwendig. Die Entscheidung, auch Instagram nicht mehr zu benutzen, habe ich letztes Jahr während des Drehs zur zweiten Staffel von „Dark“ getroffen. Damals stand ich generell sehr stark unter Druck. Und wenn sich dazu noch weitere Komponenten wie etwa Soziale Netzwerke addieren, durch die ich mich zusätzlich unter Druck gesetzt fühle, wird mir das alles zu viel. Mein Instagram-Account existiert zwar noch und ich poste dort ab und zu Bilder, aber dafür muss ich jedes Mal die App neu installieren, weil ich sie nach jedem Post gleich wieder lösche. Im Prinzip habe ich selbst auch gar keinen Zugang zu meinem Instagram-Profil. Wenn ich etwas posten will, muss meine Freundin daneben sitzen – denn die hat das Passwort.

»2018 hat mich komplett überrollt – durch den extremen Erwartungsgdruck, der plötzlich von allen Seiten zu spüren war.«

Jonas:
Was war der Grund, dass du letztes Jahr so unter Druck gestanden hast?

Louis:
In meinem Leben gab es bisher keine Zeit, in der ich mehr Druck empfunden habe als in 2018 – Druck war mein Wort des Jahres. Das liegt daran, dass das Jahr davor das abgefahrenste und krasseste Jahr war, das ich je erlebt habe, und zwar in jeglicher Hinsicht. Ich habe versucht, mir selbst immer wieder zu sagen: „Louis, 2017 wird sich nicht wiederholen. Pass auf dich und mach dich darauf gefasst!“ Aber ich war nicht gefasst. 2018 hat mich komplett überrollt – durch den extremen Erwartungsgdruck, der plötzlich von allen Seiten zu spüren war. Für das Publikum, die Journalisten und die Kritiker ist es ja eine selbstverständliche Gegebenheit, dass man immer gut ist. Wenn man ein paar gute Rollen gespielt hat, erwarten alle, dass man seinen Job auch weiterhin ordentlich macht. Diese Selbstverständlichkeit hat mich viel stärker tangiert, als sie mich hätte tangieren sollen.

»Einen Film wirklich genießen kann ich als Zuschauer nur, wenn ich nicht meine eigene Arbeit bewerten muss.«

Jonas:
Wie geht es dir damit, dich selbst auf der Leinwand zu sehen?

Louis:
Das ist im Prinzip ok – ich möchte ja auch unbedingt die Arbeit sehen, die ich gemacht habe. Aber einen Film wirklich genießen kann ich als Zuschauer nur, wenn ich nicht meine eigene Arbeit bewerten muss. Ich bin insgesamt sehr kritisch mit mir selbst und dementsprechend auch schnell unzufrieden. Manchmal würde ich mir wünschen, dass ich nicht ganz so hart zu mir selbst bin, weil mich das freier machen würde in dem, wie ich arbeite. Es schränkt einen enorm ein, wenn man zu große Angst vor dem Versagen hat oder sich zu viel Druck macht – du merkst schon, Druck ist ein großes Thema in meinem Leben.

Jonas:
In wenigen Monaten startet der Film „Deutschstunde“ in den Kinos, für den Du eine Nebenrolle übernommen hast. In der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Siegfried Lenz geht es um einen expressionistischen Maler, dem 1943 von den Nazis ein Berufsverbot auferlegt wird. Dieses Repressionsmittel gab es in Deutschland nicht nur zur Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch in der ehemaligen DDR. Und in manchen Ländern wie China werden sogar heute noch Berufsverbote ausgesprochen. Wie würdest du selbst reagieren, wenn es dir nicht mehr erlaubt wäre, Schauspieler zu sein?

Louis:
Ich habe mir diese Frage noch nie gestellt. Dabei macht es total Sinn, sich damit zu befassen. Ich vermute, dass ich mich mit der Frage nie auseinandergesetzt habe, weil wir uns hier in Deutschland in einer sehr privilegierten Situation befinden, in der wir das als Beruf ausüben dürfen, was wir möchten. Wenn das verboten würde, stünde ich richtig krass auf dem Schlauch. Schauspielerei ist das, was ich von allen Tätigkeiten wohl am besten kann und was ich am liebsten mache. Es gab in meinem Leben auch nie einen Plan B – daher wüsste ich nicht, wohin mit mir.

»Wenn man selbst keine Wahrheiten mehr hat, kann man diese auch nicht spielen.«

Jonas:
Kann man als Schauspieler überhaupt „nichtschauspielern“?

Louis:
Klar, im Alltag kann man damit natürlich aufhören. Allerdings ist es so, dass jeder Schauspieler dazu veranlagt ist, auch permanent sein Spiel an den Tag zu legen, etwa in Form von Witzen, Gesten oder bestimmten Verhaltensweisen. Man trägt es einfach in sich, sich auszudrücken. Ich glaube, um einer Rolle die Wahrheit eines echten Menschen geben zu können, muss man aus Wahrheiten von sich selbst schöpfen. Und wenn man selbst keine Wahrheiten mehr hat, kann man diese auch nicht spielen. Auf der anderen Seite habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich Teile meiner Figuren immer mit in mein eigenes Leben nehme oder durch sie neue Seiten an mir entdecke. Oder anders gesagt: Durch die Rolle öffne ich eine Kiste, die danach ein Stück weit offenbleibt. Dadurch verändern meine Rollen auch mich persönlich immer ein wenig. Ich habe beispielsweise das Gefühl, dass ich durch die vielen sensiblen Figuren, die ich spielen durfte, die sensible Seite in mir selbst mehr embraced habe – ich finde leider kein Wort im Deutschen, mit dem ich das besser ausdrücken könnte. Was ich damit meine: Hätte ich nicht so viele sensible Figuren gespielt, wäre ich heute zwar auch ein sensibler Mensch, aber nicht in dem Maße, wie ich es letztendlich geworden bin.

»Bis zu diesem Film hatte ich nie das Bedürfnis, wütend zu sein, geschweige denn einen Zugang zu dieser Emotion zu finden.«

Jonas:
Welches deiner Projekte hat dir emotional bisher am meisten abverlangt?

Louis:
Ich würde sagen, das war der Film „Prélude“ von Sabrina Sarabi, der am 29. August ins Kino kommt. In dem Film spiele ich den jungen Klavierstudenten David, der an starken Selbstzweifeln leidet und sich einen enormen Erwartungsdruck ausgesetzt fühlt – eine Situation, die ich wie bereits erwähnt sehr gut nachvollziehen kann. Allerdings ist es bei David so, dass er die Kontrolle über sein Leben verliert und an dem ganzen Druck zu zerbrechen droht.
Dieser Film ist der erste, den ich zusammen mit einem Coach vorbereitet habe. Bei der Arbeit mit Schauspiel-Coach Frank Betzelt ging es insbesondere darum nachzuspüren, wie sich die Energie zwischen den einzelnen Figuren anfühlt, was diese Energien wollen und wie sie die Figuren beeinflussen. Das hat mir sehr geholfen, mich richtig tief in meine Rolle hineinzugraben. Ich habe dadurch beispielsweise einen viel größeren Zugang zum Gefühl der Wut entdeckt, hauptsächlich zur Wut auf sich selbst. Dieses Gefühl kannte ich von mir persönlich vorher noch nicht. Ich hatte bis dahin nie das Bedürfnis, wütend zu sein, geschweige denn einen Zugang zu dieser Emotion zu finden.
Insgesamt habe ich in dieser Zeit die Gefühlswelt von David sehr nah an mich herangelassen – und habe sie auch wortwörtlich mit nach Hause genommen. Das hat mich nicht nur während der Vorbereitung und des Drehs sehr belastet, sondern auch über fast ein ganzes Jahr darüber hinaus.

»Ich war irgendwie aggressiv und sehr schlecht drauf – und bin abends einfach zusammengebrochen.«

Jonas:
Wie genau hat sich das geäußert?

Louis:
Es gab beispielsweise einige Monate nach den Dreharbeiten einen Vorfall, der sich ereignet hat, als ich zusammen mit meiner Freundin bei meinen Eltern in Köln zu Besuch war. Nachdem ich an einem Abend ein paar Folgen von „Babylon Berlin“ mit Liv Lisa Fries geschaut hatte – Liv spielt in „Prélude“ meine Freundin –, habe ich am nächsten Morgen ein extremes Unwohlsein in mir gespürt. Ich war irgendwie aggressiv und sehr schlecht drauf, was sich über den Tag immer weiter gesteigert hat, bis ich schließlich abends einfach zusammengebrochen bin. Wahrscheinlich hat mir die Situation bei meinen Eltern zuhause und mit meiner Freundin an der Seite einen so sicheren Raum gegeben, dass ich diese ganze Thematik nochmal verarbeiten konnte. Dafür gab es vorher scheinbar keine richtige Gelegenheit, weil nach dem „Prélude“-Dreh permanent aufregende Dinge passiert sind. Ich habe den Eindruck, als hätte ich diese Thematik über all die Monate verschleppt und erst bei meinem Besuch in Köln alles rausgelassen. Aber richtig losgeworden bin ich das Ganze trotzdem nicht. Als ich einige Zeit später den Film zum ersten Mal gesehen habe, war ich danach zwei, drei Tage lang richtig traurig und wusste nicht, warum. Also habe ich Frank Betzelt angerufen, der mich damals gecoacht hatte. Er hat mir nur eine einzige Frage gestellt: „Was stört dich eigentlich wirklich? Die Tatsache, dass du so traurig bist, oder dass du nicht weißt, warum du traurig bist?“

Jonas:
Was für eine kluge Frage!

Louis:
Eine unglaublich kluge Frage! Meine Antwort war: „Weil ich nicht weiß, warum das gerade mit mir passiert.“ Und dann sagte Frank, dass das völlig in Ordnung sei und ich mich nicht dagegen wehren müsse. Der Grund dafür liege darin, dass ich die Figur so liebgewonnen habe und dadurch den Leidensweg dieses jungen Künstlers noch viel intensiver erlebt habe. Wir haben uns noch eine ganze Weile darüber unterhalten – und nach diesem Telefonat war es ok.

Jonas:
Von Kat Frankie, einer Singer-Songwriterin, die hier in Berlin lebt, stammt der interessante Satz: „People that write sad songs are a little happier.“ Ist das bei Schauspielern, die traurige Rollen spielen, ähnlich?

Louis:
Man sagt das ja auch andersherum – siehe Robin Williams, der in seinem Spiel urkomisch war, aber privat extrem traurig gewesen sein muss und sich schließlich das Leben genommen hat. Grundsätzlich glaube ich, dass Schauspieler, die sehr viele melancholische Rollen spielen, dafür auch eine gewisse Faszination brauchen. Und wenn man diese Faszination generell hat, hat man sie auch, wenn man nicht spielt.

Jonas:
Wenn du mal die Erwartungshaltung anderer Menschen kurz außer Acht lässt: Welcher eigene Anspruch an dich selbst kommt da zum Vorschein?

Louis:
Ich habe einen sehr hohen Anspruch an mich selbst und bin extrem ehrgeizig.

»Ich finde es seltsam, wenn es überhaupt keine Kritik gibt.«

Jonas:
Das heißt, du bist auch anfällig für Kritik?

Louis:
Ich versuche, das nicht zu sein. Es ist eh etwas komisch bei mir: Ich freue mich total über Kritik und finde es manchmal eher seltsam, wenn es überhaupt keine gibt – vor allem, wenn ich selbst ganz genau weiß, dass es etwas zu kritisieren gäbe. Gleichzeitig ist es für mich nicht so einfach, mit Kritik umzugehen, wenn sie tatsächlich geäußert wird – insbesondere, wenn sie von mir selbst kommt. Ich wünschte, das fiele mir leichter.

Jonas:
Bist du jemand, der sich Dinge von Kollegen abschaut?

Louis (lächelt):
Ab oder an? Nein, im Ernst: Ich glaube, man muss für sich selbst sicherstellen, dass man sich auf seine eigene Arbeit konzentrieren kann und sich nicht zu sehr von dem Hype verunsichern lässt, der – oft auch gerechtfertigt – um manche Kollegen gemacht wird. Aber ich finde es auch genauso richtig, als Schauspieler immer die Augen offen zu halten und von dem inspirieren zu lassen, was an anderer Stelle gemacht wird. Aber das sollten wir ohnehin alle auf dieser Welt, ganz egal ob Schauspieler oder nicht.

Jonas:
In „Deutschstunde“ gibt es diesen Satz: „Brauchbare Menschen müssen sich fügen.“ Man fühlt sich sofort an Victor Klemperers Buch „LTI“ („lingua tertii imperii“, die Red.) erinnert, das sich mit der Sprache des Nationalsozialismus befasst. Angenommen, man würde diesen Satz in die heutige Zeit verfrachten und ins Positive spiegeln – wie müssten sich Menschen deiner Meinung nach verhalten, um die Welt ein Stückchen besser zu machen?

Louis (überlegt einige Augenblicke):
Auf jeden Fall reflektiert – für meine Begriffe fängt bei der Reflexion alles an. Wer wirklich reflektiert, bemerkt relativ schnell, was man tun könnte und was wirklich gebraucht wird. Und wer wirklich reflektiert, spürt auch eine Verantwortung. Wenn mehr Menschen diese Verantwortung spüren würden – für unser gemeinsames Miteinander, für ein glückliches Zusammenleben und für unseren Planeten –, dann würden auch mehr Menschen handeln.


Der Tod

Interview — Der Tod

Das Beste kommt zum Schluss

Zum Abschluss unserer »Zwielicht«-Ausgabe treffen wir den Meister der Zwischenwelt. Unsere Chefredakteurin lädt den Tod dorthin ein, wo er sie ohnehin irgendwann abholen wird: in ihre Berliner Stammbar »Trödler«.

15. Juli 2019 — MYP N° 25 »Zwielicht« — Interview: Katharina Weiß, Fotos: Ansgar Schwarz

»Ich bekomme fast immer einen ausgegeben, wenn ich vor der Haustür stehe.«

Katharina:
Nun sitzen wir hier in einer Bar. In der Vergangenheit haben sie ja eher schlechte Erfahrungen mit Alkohol gemacht (Anspielung auf die Komödie „Der Brandner Kasper und das ewig‘ Leben“, die Red.). Sind sie mittlerweile besser am Glas geworden?

Der Tod:
Stimmt, es gibt da ein paar Gerüchte, dass man mich unter den Tisch trinken könnte. Diese Mythen habe ich natürlich selbst gestreut. So bekomme ich fast immer einen ausgegeben, wenn ich vor der Haustür stehe. Praktisch. Das macht meinen Beruf erträglicher – wobei ich mir mit dieser Antwort wahrscheinlich gerade ins eigene Knochenmark schneide.

»Sie ist dafür da, anderen den Kopf zu verdrehen – im wahrsten Sinne des Wortes.«

Katharina:
Der Tod hat eine romantische Affäre am Arbeitsplatz. Wie läuft es mit Exitussi?

Der Tod:
Ui, großes Missverständnis – Exitussi ist meine fleißige Praktikantin, keine Liebschaft. Im Gegensatz zu einigen bekannten Geschichten bei den Menschen ist diese Konstellation bei der Tod GmbH tatsächlich rein geschäftlich. Wie sollte das auch funktionieren? Liebe auf den letzten Blick? Mit ihrer rosa Kutte ist sie vielmehr dafür da, anderen den Kopf zu verdrehen – im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Schädel allein schafft dieses viele Leben inzwischen doch kaum noch. Außerdem nimmt sie allein durch ihre Optik und ihre heitere Ausstrahlung vielen die Furcht vorm Sterben.

»Die meisten haben nach ein paar Jahren Ehe nicht mehr den Wunsch nach ewigem Leben.«

Katharina:
Stimmt es, dass Verheiratete länger leben?

Der Tod:
Nein, es fühlt sich nur so an. Allerdings ist es für alle Menschen mit dem Wunsch nach ewigem Leben wirklich ratsam, zu heiraten. Der Wunsch geht davon zwar nicht in Erfüllung, die meisten haben ihn jedoch nach ein paar Jahren Ehe gar nicht mehr. Funktioniert wirklich. Lifehack des Todes.

Katharina:
Sie sind mit dem Vorsitzenden der Deutschen Dracula Gesellschaft, Dr. Mark Benecke befreundet. Wie passen Untote denn in ihr Geschäftsmodell?

Der Tod:
Gar nicht. Das wäre ja auch kontraproduktiv meiner Arbeit gegenüber. Es sei deshalb versichert, dass sich auch der Herr der Maden seiner Sterblichkeit durchaus bewusst ist und seine Mitgliedschaft in dieser Gesellschaft eher auf der Lust am Grusel bei Vampiren beruht. Das ist jetzt vielleicht etwas desillusionierend und nicht lustig, aber bei Untoten hört der Spaß halt auch auf. Sorry.

»Ich gehe seit ein paar Jahren verstärkt in die Öffentlichkeit. Mein Image-Berater meint, das sei wichtig.«

Katharina:
Wer ziert sich denn ganz besonders, bei ihrem Reiseunternehmen einzusteigen?

Der Tod:
„Wer nicht?“ wäre wohl die passendere Frage. Die Natur hat in jedem Lebewesen einen Überlebensinstinkt eingebaut. Das macht meine Arbeit nicht einfacher, aber ich gebe zu, es wäre auch keine Lösung, wenn sich alle nur noch wie Lemminge die Klippe hinunterstürzen würden. Eine Zwischenlösung wäre schön. Daran arbeite ich. Denn bei den Menschen hat die Todesangst auch viel mit Verdrängung und der Furcht vor dem Unbekannten zu tun. Deshalb gehe ich seit ein paar Jahren verstärkt in die Öffentlichkeit, mache Bühnenshows, schreibe Kolumnen oder gebe Interviews, wie gerade jetzt. Mein Image-Berater meint, das sei wichtig. Wer nicht wirbt, stirbt. Oder so…

»Wir zeigen den Lebensrückschaufilm inzwischen in Ultra HD.«

Katharina:
Wie kann man sich die kurze Strecke zwischen den Welten vorstellen? Erzählen sie den Reisenden Witze?

Der Tod:
Ganz ehrlich: Die Reise ist echt das Letzte. Nun muss ich mir über Kundenbindung allerdings auch keine Gedanken machen. Für deutsche Mecker-Touristen gibt es sogar extra ein Beschwerde-Formular. Es besteht aber kein Grund zur Sorge. Wir haben Tomatensaft, zeigen den Lebensrückschaufilm inzwischen in Ultra HD und wenn es von den Reisenden gewünscht wird, halte ich auch mal die Klappe. Oder philosophiere ernsthaft über Adornos „Dialektik der Aufklärung“ oder den altmeisterlichen Pinselstrich bei dem Gemälde „Die sieben Todsünden“ von Otto Dix. Ich bin da recht flexibel und kann mit meiner Lebenserfahrung durchaus auf individuelle Wünsche eingehen. Ansonsten heißt es: die & travel. Entdecke die Möglichkeiten!

»Durch meine Arbeit zeige ich seit vielen Millionen Jahren, dass es keine Unterschiede gibt.«

Katharina:
Wie hat Keith Richards es eigentlich geschafft, ihrer Gesellschaft bisher zu entgehen?

Der Tod:
Ja, den hätten Einige durch seine Drogen- und Alkohol-Exzesse schon früher bei mir vermutet, das stimmt. Es bleibt aber auch die Erfolgsformel der Tod GmbH, dass unsere Arbeit zum Großteil auf Zufall beruht und keiner Logik folgt. Außer der, das alle mal dran sind. Und keiner weiß wann. Das ist tatsächlich die größtmögliche Gerechtigkeit, auch wenn man in Einzelfällen daran zweifeln mag. Aber nur so ist es möglich, zumindest im Tod keinen Unterschied zu machen. Es spielt keine Rolle, wieviel man besitzt, an welchen Gott man glaubt oder in welchem Land man geboren wurde. Im Grunde zeige ich durch meine Arbeit seit vielen Millionen Jahren, dass es keine Unterschiede gibt. Leider ist die Message noch nicht wirklich bei allen angekommen.

»Noch steht mir das Vermummungsverbot etwas im Wege.«

Katharina:
Mittlerweile sind sie auch Polit-Experte: Die RBB Abendshow befragte Sie kürzlich zum SPD-Sterben. Könnten sie sich vorstellen, wieder stärker in der Politik aktiv zu werden?

Der Tod:
Ach ja, die Politik. Ein tödliches Thema. Nach jeder Wahl stelle ich mir wieder die Frage, ob ich nicht einsteigen sollte. Als AfA, Alternative für Alles: „Ich gebe ihrer Zukunft ein Zuhause.“ Im Ernst, ich glaube, viele Probleme würden sich mit mir lösen lassen. Altersarmut, Wohnungsnot, sogar der Berliner Flughafen. Wegen mir könnten wir morgen aufmachen. Ich halte Brandschutz für völlig überbewertet. Ganz klar, mit mir würde auch die Wahlbeteiligung steigen. Zum Beispiel mit dem Motto: „Mach dein Kreuz, bevor ich deins mach.“ Das würde viele Menschen in die Urne locken… äh, an die Urne locken. Mal schauen. Noch steht mir das Vermummungsverbot etwas im Wege.

»Mit Kutte und Sense wird man bei der Bahn nie kontrolliert. Quasi Schwarzfahren next level.«

Katharina:
Als Tod muss man logischerweise viel unterwegs sein. Wie reist der Sensenmann eigentlich? Und gibt es da Probleme?

Der Tod:
Ich bin ein Tod wie du und ich. Ich reise also recht normal. Zum Beispiel mit der Deutschen Bahn. Und Fahrgäste, die sich dort über Verspätung beschweren, die notier‘ ich mir dann schon mal ganz gern für eine Früh-Abholung. Also Vorsicht! Mit Kutte und Sense wird man bei der Bahn übrigens nie kontrolliert. Quasi Schwarzfahren next level. Dafür werde ich in meinem Outfit am Flughafen schon mal öfter schräg angeguckt. Da wird wohl den meisten erst bewusst, dass sie last minute gebucht haben.

»Von der Altersstruktur der Gäste her haben Kreuzfahrtschiffe und ich häufig genau dieselbe Zielgruppe.«

Katharina:
Ich habe ebenfalls gehört, dass sie auch auf Kreuzfahrtschiffen unterwegs sind. Wie kam das?

Der Tod:
Tatsächlich bin ich da öfter mal als Gastkünstler an Bord. Mich hat es aber auch schon auf meiner ersten Kreuzfahrt 1912 eiskalt überrascht, wie viele Vorzüge diese Form des Reisens hat. Allein von der Altersstruktur der Gäste her haben Kreuzfahrtschiffe und ich häufig genau dieselbe Zielgruppe. Dazu dieser vorzügliche ökologische Fußabdruck. Da kann ich nur sagen: weiter so. Nur Inlandsflüge sind schöner.

Lust auf ein tödliches Vergnügen?
Der Tod live:

12.10.2019, 23:59 Uhr:
Berlin, BKA-Theater

09.11.2019, 20:00 Uhr:
Berlin, Die Wühlmäuse

10.11.2019, 20:00 Uhr:
Berlin, Die Wühlmäuse


Omar Apollo

Interview — Omar Apollo

A Longing Spirit

For just one year now, newcomer Omar Apollo has been enchanting the world with his soulful and expressive songs. The big talent of the 22-year-old Mexican-American is to combine emotional worlds that seem incompatible. What a musical find!

10. Juli 2019 — MYP N° 25 »Twilight« — Interview: Jonas Meyer, Photography: Maximilian König

When we met Luke Pritchard—frontman of the legendary British band The Kooks—last summer for an interview, he drew a rather skeptical image of the music industry. He told us that when he was growing up, being in a band was kind of a working-class thing, whether it was the Gallagher brothers or Paul McCartney. But today, he added, “it’s definitely different and that’s really sad.” Luke told us that, in his opinion, it’s very hard to become a successful artist nowadays unless your parents are rich—because that’s the only way you can afford to spend the time working on music.

Indeed, the times we are living in are hard, especially for those who are not able to unfold their talents because they are not born on the sunny side of life. Nonetheless, there are still some brilliant examples that prove it’s possible to start from zero as an artist and create something extraordinary—as long as you work hard and keep chasing your dreams.

Of course, this sentence sounds more than cheesy, but it’s also true when it comes to Omar Apollo, a 22-year-old American from a small town in Indiana. Since last year, this young man with Mexican roots has been enchanting the world with his soulful and expressive songs. Omar’s big talent is to combine emotional worlds that seem incompatible—melancholy with confidence, vulnerability with strength, relaxation with energy. On top of all this, he smoothly slides between R&B, soul, funk, jazz, and pop.

It was never self-evident that this young musician would become a valuable part of the international music scene. Not so long ago, Omar was trapped in a situation where he couldn’t afford the $30 to put his music up on Spotify. It is only due to the help of a friend who believed in him that we are all lucky today to have such access to his songs (and perhaps also due to the fact that Omar dropped college after just two weeks to fully focus on his music).

A few hours before his concert at Badehaus Berlin and a couple of weeks after the release of his new EP Friends, we met the young musician for an interview and a photo shoot.

»At work, I was having all these musical ideas and when I got home late at night, I was just too tired to work on them.«

Jonas:
You grew up in Indiana, in a small town called Hobart. What kind of place is it? How did it feel growing up there?

Omar:
It’s very different from places like New York City or Los Angeles. There’s no traffic, but a lot of farms, cornfields, and horses—just a big, quiet openness with not much going on, ever.

Jonas:
When I learned that you used to work at a McDonald’s restaurant, I had to think of the time when my friend Max and I came to Berlin, sometimes not being able to pay the rent or even afford a beer in a bar. What made you keep going all the time, working hard every day to chase your dreams?

Omar:
Honestly, I have no clue. I just had to do it, I just had to work—because music also felt like something I had to do. I am always asked what my motivation was, and I talked about that with another artist who was in a similar situation. We both agreed that music has always been our one-and-only purpose and that’s the reason why we just went on. I can’t picture myself doing anything else. I love making music so much, I would die for it. It’s a very crazy feeling, but it’s the truth. Music can make you feel so many different things.

Jonas:
What did your everyday life look like? Going to school, working at McDonald’s, making music—when did you sleep?

Omar:
It was really bad for a while! At some point, I had to cut my hours at the restaurant because every time I came home, I couldn’t do anything. At work, I was having all these musical ideas and when I got home late at night, I was just too tired to work on them, not to mention that everybody in the house was already asleep, which made it impossible for me to make some music. Cutting work hours meant making less money, but it was just enough to eat and live.

»When you love something that much, you’re going to be better at it.«

Jonas:
Our society is based on the idea of performance, success, making money and fitting in. How much courage did it take to drop college after just two weeks in terms of that?

Omar:
It was kind of depressing—but also relieving! I remember going to college and hearing people say, “It’s going to be less packed in a month.” I asked why and they said that a lot of people use to drop out in the first weeks. So, I guess I was one of them quitting pretty early. For me, it felt a little scary because I wasn’t good enough at making music at that time. I was just trying to get by. But when you love something that much, you’re going to be better at it.

Jonas:
How hard and difficult was it to explain your decision to your parents?

Omar:
That was weird. I never told my family before that I wanted to make music—although I was sitting in my room making beats all the time. But they wouldn’t know, they didn’t ask me. So they were kind of surprised when I quit college for music. I mean, I had a really bad GPA, I got into one college out of all, that’s the reason why my parents said, “Just stay at college, try it at least!” But I decided to drop.

»Since your spirit can’t really talk, music is like the language of humans.«

Jonas:
I have to make a very personal and non-objective confession: I’m deeply touched by your song “Trouble”—and I was wondering why’s that all the time. I guess I’ve found an answer, it’s because it combines melancholy with confidence, vulnerability with strength. Is that merging of opposites the secret behind your music?

Omar:
I think so. I always have kind of a longing spirit, there’s a longing for a sense of who I am. But on the other hand, I feel very confident when I’m making music, even though some songs are dealing with being stuck in solitude or loneliness. But to be honest, I don’t really know where I get the melodies from, I don’t know where I get the words from. Making music and creating is like channeling your spirit. And since your spirit can’t really talk, music is like the language of humans. I mean, just ask yourself: Why do humans love music so much? Why do thousands of people come to a show just to watch one other person playing some songs? It’s because music gives you something and this one artist makes you feel something. And at the same time, the artist is also feeling something from all those who came to listen to his music. It’s always an exchange—and a crazy energy thing.

»People believe in you when they see that you are genuine.«

Jonas:
Last year we had an interview with Luke Pritchard, the frontman of The Kooks. He said that it’s very hard to become a successful artist nowadays unless your parents are rich—because then you can afford to spend the time working on music. Luke told us that when he was growing up, being in a band was kind of a working-class thing, whether it’s the Gallagher brothers or Paul McCartney. What challenges did you face in your life in terms of that?

Omar:
I mean, I couldn’t afford the $30 I needed to upload my music on Spotify, I didn’t have a dime. I was lucky that I could borrow the money from a friend who has always been believing in me—and people believe in you when they see that you are genuine which, in my opinion, comes from just trying to be a good person.

»I told my parents that they have to stop worrying about money and that everything will be fine.«

Jonas:
Sometimes thirty bucks can mean the world…

Omar:
That literally changed my life! When I was younger, my mom was always stressing about money. She constantly said, “We don’t have any money. We don’t have any money.” I was doing what I could to help. When my dad needed ten bucks, I gave it to him. But I also told my parents that they have to stop worrying about it and that everything will be fine. They asked me, “How can’t you be worrying about it? We have to pay bills!” And I answered, “Just stop thinking about it, there will be a way.” One time I needed $10 so badly, I really needed it because I had to pay my rent and I was $10 short. The landlord didn’t give a fuck and I didn’t know what to do. I walked outside and there was a lady who asked me if I could help her move her stuff from the garage into the house—and she gave me ten bucks.

Jonas:
Some people call it “ordering from the universe.”

Omar:
Yeah, God and the universe aren’t letting me fuck up.

Jonas:
How can we as a society do better to promote all those kids who are struggling with life conditions where it’s hard for them to unfold their talents?

Omar:
Support your locals! Tell your friends about them, go to their shows, buy their stickers, repost their stuff! But don’t fake it, support them just when you really like what they do. I was always afraid that people feel sorry for my situation and support me because of that. You can tell when someone deserves it, you know? I just needed someone who honestly said, “I really like your music, man!” That was enough for me for the whole week.

»The times are over when I didn’t want to do anything in my life. But I’m still young and naïve.«

Jonas:
What do your parents say today, witnessing you travel the world and be praised by so many people that like your music? Do they worry less now? Have they calmed down a little bit?

Omar:
My dad loves it, but my mom is much more worried than before. She just sees this young dude travel the world alone, she’s always asking if I get enough sleep and all those mom things. My dad is a lot cooler about it. But all in all, they are really motivating. I mean, the times are over when I was super-exhausted, tired and anxious—when I didn’t want to do anything in my life. But I’m still young and naïve. My parents always text me “¡échale ganas!” It’s a Spanish saying which means “Give it all you’ve got and keep trying!”—but in a cool way. That’s how they have paved my way.


Samuel Finzi

Interview — Samuel Finzi

Von Märchen und Machtverhältnissen

In »Allmen und das Geheimnis der Dahlien« hilft Samuel Finzi in der Rolle des Dieners Carlos seinem noblen Chef bei der Mordermittlung. Finzi erklärt uns, warum der Beruf des Dieners noch lange nicht ausgestorben ist.

7. Juli 2019 — MYP N° 25 »Zwielicht« — Interview: Katharina Weiß, Fotos: Lea Bräuer

In „Allmen und das Geheimnis der Dahlien“, dem dritten Film der ARD-Reihe „Allmen“, wird der feingeistige Privatier Johann Friedrich von Allmen erneut eher zufällig zum Ermittler. Sein mysteriöser Diener Carlos, gespielt von Samuel Finzi, hilft ihm, den Mörder zu jagen. Wenige Wochen vor der Erstausstrahlung am 13. Juli haben wir mit Samuel Finzi über große Märchen und uralte Machtverhältnisse gesprochen.

Katharina Weiß:
Die „Allmen“-Reihe besticht durch ihren herrlich snobistischen Humor und die zeitlose Eleganz der Bilder. Wie sehr entspricht von Allmens Ästhetik ihrem eigenen Geschmack?

Samuel Finzi:
Mein persönlicher Geschmack spielt keine Rolle. Das Dargestellte ist die Sprache dieser Filmreihe. Dort erzählt man die Geschichten von Johann Friedrich von Allmen, der zu den gehobeneren Kreisen der Züricher Gesellschaft gehört. Mir gefällt zuerst die Geschichte, mit der Ästhetik befasse ich mich dann später. Ich mag die Art und Weise, wie dort ganz groß gemalt wird. Die Bilder sind schön, weil sie von Allmen und auch meiner Figur entsprechen.

»Menschen stellen sich gerne eine heile Welt vor, in der alle so hübsch sind und so elegant. Der Mensch ist so, spätestens seit es Filme gibt.«

Katharina Weiß:
Dem Film haftet eine Sehnsucht nach dem Dandytum und der Ära der Gentlemen an. Woraus speist sich ihrer Meinung nach diese Nostalgie?

Samuel Finzi:
Menschen stellen sich gerne eine heile Welt vor, in der alle so hübsch sind und so elegant – eine Welt, in der alle gut erzogen sind und Manieren haben. Und gute Autos fahren und tolle Kunstwerke sammeln. Der Mensch ist so, spätestens seit es Filme gibt.

Katharina Weiß:
Der Habitus von Johann Friedrich von Allmen und der Schnitt der Dialoge sind ungewöhnlich für das deutsche Fernehen. Wie würden Sie die spezielle Haltung des Films beschreiben?

Samuel Finzi:
Wir bewegen uns im Spektrum des unrealistischen Films, der die Fantasie des Zuschauers weiter beflügeln soll. Solche Filme sind große Märchen – genau wie die Kriminalgeschichten von Sherlock Holmes.

»Es gibt weiterhin ›die da oben‹ und ›die da unten‹ – das Konzept ist alles andere als ausgestorben.«

Katharina Weiß:
Der Beruf ihrer Figur ist in unseren Breitengraden beinahe ausgestorben. Was treibt Diener Carlos an?

Samuel Finzi:
Was ist denn heute eine Sekretärin oder ein Assistent? Die erledigen dieselben Aufgaben, unter anderem Kaffee für den Chef machen, Tickets fürs Theater besorgen oder die Hemden zur Reinigung bringen… Es gibt weiterhin „die da oben“ und „die da unten“ – das Konzept ist alles andere als ausgestorben. Meine Figur im Film weiß um diese Dinge, bleibt in sich aber sehr rätselhaft. Der Zuschauer weiß noch nicht, woher Carlos kommt und was ihn nach Zürich verschlagen hat. Ich habe mir dazu eine Hintergrundgeschichte angelegt. Aber wie so oft sind die Fragen spannender als die Antworten darauf.

»Warum bilden sich manche Menschen ein, über anderen zu stehen?«

Katharina Weiß:
Auch in Oskar Roehlers Gesellschaftssatire „Herrliche Zeiten“ gaben Sie den Sklaven – welche Rolle spielen Hierarchien in ihrem Leben?

Samuel Finzi:
Ich versuche mir einzubilden: gar keine. Aber Hierarchien geben selbstverständlich Strukturen und Ordnung. Die zu erforschen ist hochspannend. Warum bilden sich manche Menschen ein, über anderen zu stehen? Warum nehmen sie sich die Macht heraus, auch über diese Anderen zu entscheiden? Und warum akzeptieren diese Anderen das? Das muss anscheinend irgendwo in der Natur des Menschen liegen. Da kommen wir aber in ganz tiefe Gewässer. Und müssen jetzt anfangen, über Kapitalismus zu reden…

Katharina Weiß:
Wann war das letzte Mal, dass sie sich jemandem überlegen gefühlt haben?

Samuel Finzi:
Es liegt mir fern, so zu denken. Ich versuche kein Gefühl zuzulassen, indem ich mich besser fühle. Als Kind spielt das eine große Rolle: sich überlegen fühlen, der Stärkere sein. Mit dem Alter versuche ich, mir meine Zeit für wichtigere Dinge einzuteilen.

»Weinen ist das Einfachste. Echtes Lachen zustande zu bringen, ist viel schwerer.«

Katharina Weiß:
Das letzte Mal, dass sie im Theater spontan geweint haben?

Samuel Finzi:
Neulich. Weinen ist das Einfachste. Echtes Lachen zustande zu bringen, ist viel schwerer.

Katharina Weiß:
Das letzte Mal, dass Sie von einem wiederkehrenden Albtraum heimgesucht wurden?

Samuel Finzi:
Hatte ich seit langem nicht mehr.

Katharina Weiß:
Das letzte Mal, dass Sie mit Til Schweiger gesprochen haben?

Samuel Finzi:
Gestern Abend um 21 Uhr. Wir drehen gerade den zweiten Teil von „Klassentreffen“, da haben wir vor und hinter der Kamera miteinander gesprochen.

Katharina Weiß:
Das letzte Mal, dass Sie unbekanntes Land erobert haben?

Samuel Finzi:
Durch eine Rolle, die ich seit Kurzem spiele. Das Stück heißt „Kommt ein Pferd in die Bar“. Ich gebe dort einen Entertainer, einen Stand-up-Comedian am Ende seines Lebens. In diesem Rahmen musste ich über zwei Stunden alleine auf der Bühne stehen. Das Stück läuft noch am Deutschen Theater.

Katharina Weiß:
Das letzte Mal, dass sich von jemandem verabschieden mussten?

Samuel Finzi:
Das war von einem Menschen, der nicht mehr lebt. Im März, es war ein sehr guter Freund von mir.


David Zilk

Editorial — David Zilk

»The Wall« is existing

At the US-Mexican border close to Tijuana, David Zilk witnessed that Donald Trump's campaign promise »The Wall« is not just a concept. It has been existing for years and left David with a queasy feeling.

26. Juni 2019 — MYP N° 25 »Twilight« — Photography & Text: David Zilk

I am German, living in New York City since 2015. In June this year, I went to California to witness »The Wall« with my own eyes. Because it is already there – and for a long time.

Since Trump campaigned in 2015, it has been in the news almost every week: The promise to invest billions of Dollars to build a huge physical barrier along the US-Mexican border to keep Mexicans out of the US. The political narrative has changed over time since Democrats constantly pushed back and Mexico obviously won’t pay for the wall as suggested in his campaign. Nonetheless, the topic is not off the table and in fact it caused the longest US government shutdown ever in US history in 2018-2019 because of political fights around funding as well as a declaration of national emergency by Trump in February this year.

As someone who was born in East Germany in 1987, walls and their impact on people and society have a special meaning to me. I wanted to see what the already existing part of the US wall looks like so I walked a long way in a kind of desert-like area, close to the beach on the US side near Tijuana, Mexico.

Nobody was there, except helicopters flying around, observing the area. It was a pretty strange, uncomfortable feeling walking closer to the wall that was also on the beach and in the water itself. On the Mexican side, I could see residential houses literally just a few feet away from the actual wall structure that is made of steels. People were walking directly at that barrier. If there would not have been a car from the US border patrol stopping me, it would have been possible to shake hands with the people on the other side.

When I walked back through the outback area, I was shocked to see tons of clothes and worn-out shoes in the bushes as well as on the street. I looked closer and the labels inside showed “Made in Mexico”. I don’t know why all of that wasn’t removed from the area, but I can imagine the story behind…


Alle Farben

Interview — Alle Farben

Nachtschwärmer auf Tour

Ab Dezember geht Alle Farben zum ersten Mal auf Live-Tournee. Kurz vor Veröffentlichung seines neuen Albums »Sticker on my suitcase« haben wir den Produzent und DJ zum Interview getroffen.

21. Juni 2019 — MYP N° 25 »Zwielicht« — Interview: Katharina Weiß, Fotos: Steven Lüdtke

Produzent und DJ Alle Farben geht erstmals auf große Live-Tournee und bringt ab Dezember die Klangwelten des Deep und Tech House, die er seit Jahren so virtuos mit eingängigen Popmelodien verbindet, von den Clubs in die Konzerthallen.

Kurz vor der Veröffentlichung seines neuen Albums „Sticker on my suitcase“ treffen wir den 34-jährigen Berliner in der Mysliwska, einer kleinen Barinstanz am Schlesischen Tor. Der Laden rangiert zwischen Schrammelkneipe und Szenedisco und versprüht dabei einen ähnlich unaufgeregten Charme wie Alle Farben, der im benachbarten Graefekiez groß wurde und heute als Aushängeschild eines internationalen und zudem radiotauglichen Berliner Sounds um den Globus tourt.

»Es kann einem langfristig mehr bringen, wenn man sich ein bisschen um die eigene Gesundheit kümmert.«

Katharina:
Du hast 2013 in einem Interview gesagt, dass dir das Kochen als das einzige Hobby geblieben sei, das du ganz für dich alleine hast. Hat sich diese Situation in den letzten sechs Jahren verändert?

Alle Farben:
Es ist noch sehr viel Sport dazugekommen. Ein Hobby, das mir unglaublich viel zurückgibt. Ich brauche weniger Schlaf, bin fitter auf der Bühne und habe mehr Durchhaltevermögen. Heute wache ich nach einem Show-Marathon am Wochenende – mit nur drei oder vier Stunden Schlaf pro Nacht – auf und sage mir grinsend: „Ach, war doch gar nicht so schlimm.“ Ich musste aber erst mal lernen, dass mir das so viel gibt.

Katharina:
Wie bewertest du deine Vergangenheit? Vor deiner Produzenten- und Performer-Karriere hast du in Bars gearbeitet und vermutlich einen anderen Lebensstil verfolgt.

Alle Farben:
Absolut. Ich habe die Nächte durchlebt und das möchte ich auch nicht missen. Aber es kann einem langfristig mehr bringen, wenn man sich ein bisschen um die eigene Gesundheit kümmert.

»Die Interaktion mit dem Publikum kann anfangs beängstigend wirken.«

Katharina:
Du selbst trittst bei deiner Kunst stark in den Hintergrund. Oft lädst du andere Künstlerinnen und Künstler dazu ein, dir ihre Stimme zu leihen. Mit welcher Perspektive blickst du auf deine eigene Performance?

Alle Farben:
In die Performer-Rolle musste ich erst reinwachsen. Und seitdem wir auch Musikinstrumente und Gesang auf der Bühne mit dabeihaben, sehe ich mich auch mehr als Entertainer. Jetzt sind wir zu einer echten Show gewachsen. In den ersten Jahren habe ich mich hinter dem Pult versteckt. Getanzt habe ich zwar immer viel, aber die Interaktion mit dem Publikum kann anfangs beängstigend wirken. Ich habe mich da in kleinen Schritten herangetastet und versucht, mir diesen Mut selbst zu geben. Jetzt freue mich sehr darauf – aber die letzten vier Entwicklungsjahre waren nötig. Ich bin froh, dass Alle Farben immer langsam gewachsen ist.

»Mir ist vor allem eine schöne Atmosphäre wichtig, die die verschiedenen Zuschauer zusammenbringt.«

Katharina:
Welche Ästhetik hast du dir für diese erste große Live-Tour im Dezember 2019 ausgesucht?

Alle Farben:
Ich habe viele Gastmusiker – vor allem meine Feature-Sänger – auf der Bühne, die zusammen die Akustik-Vorband bilden. So lernt der Zuschauer sie schon mal kennen, bevor sie später zusammen mit mir ihre Lieder performen. Dafür haben wir eine Wohnzimmernische auf der Bühne geschaffen. Mir ist vor allem eine schöne Atmosphäre wichtig, die die verschiedenen Zuschauer zusammenbringt. Für mich ist es das aufregendste Projekt der letzten Jahre. Wenn sich ein Album nicht verkauft, dann ist das schade. Aber wenn die Tour sich nicht verkauft, dann stehen da drei Leute – und ich habe viel in die Waagschale gelegt, um diese Shows zu ermöglichen.

»Ich arbeite gerne eng mit Künstlern zusammen, deren Stimme und Persönlichkeit die Geschichte des Songs genau transportieren.«

Katharina:
Du hast gemeinsam mit James Blunt vor wenigen Wochen den Song „Walk Away“ veröffentlicht. Was hat dich daran gereizt, mit einem der größten Singer-Songwriter unserer Pop-Ära zusammenzuarbeiten?

Alle Farben:
Zu 90 Prozent singen bei mir die Künstler den Song, die ihn auch mit mir geschrieben haben. Die haben meistens die ideale Stimme für ihr eigenes Lied. Ich arbeite gerne eng mit Künstlern zusammen, deren Stimme und Persönlichkeit die Geschichte des Songs genau transportieren. Zu „Bad Ideas“ etwa passt Chris Gelbudas rauchige Stimme und bei „Little Hollywood“ war Janieck Devy perfekt dafür, weil er so ein kleines Rowdy-Kind ist. Im Fall von James Blunt war es aber ein Pitch: Wir hatten die Chance, die Musik für seinen Gesang vorzuschlagen. Und das hat mich bei dem Song gereizt. Als wir zusammen das Musikvideo gedreht haben, war ich vor allem von seiner Arbeitsweise begeistert: Bei ihm kommt zuerst die Arbeit – und wenn man die vom Tisch hat, dann kann man noch ein bisschen quatschen.

»Dein Song kann noch so toll sein: Wenn du ein Arschloch bist, dann kommst du nicht weit.«

Katharina:
Wie würdest du deine Arbeitsphilosophie beschreiben?

Alle Farben:
Es ist ein „People‘s Business“ – man ist immer von Menschen abhängig. Dein Song kann noch so toll sein: Wenn du ein Arschloch bist, dann kommst du nicht weit. Selbst wenn dir jemand „nur ein Wasser bringt“ (macht Anführungsstriche in die Luft): Du musst jedem auf Augenhöhe begegnen und zu jedem so nett sein wie zum großen Plattenboss. Manchmal ist diese Person letztendlich entscheidend. Die Sekretärin bringt dir das Wasser und findet dich toll, während der Chef dich zuerst übersieht. Aber er hört dann von seiner Sekretärin: „Die Person war super angenehm, arbeite doch mal mit dem.“ Ich versuche immer, ein positives Arbeitsklima für alle zu schaffen.

Katharina:
Du kannst wahrscheinlich nicht mehr in denen Clubs das Tanzbein schwingen, in denen du selbst auflegst – weil das mit neugierigem Publikum bestimmt wenig Spaß macht. Gibt es Orte, an denen du dich austoben kannst? Vielleicht das Fitnessstudio?

Alle Farben:
Da werde ich auch erkannt. Aber es gibt anonymere Technoclubs, das Berghain zum Beispiel. Da geht das schon mal. Aber ich gehe generell weniger privat feiern – dafür bin ich mittlerweile zu viel auf Reisen.

»Eine Woche Strandurlaub ist eine Katastrophe für mich.«

Katharina:
Dein neues Album ist überhaupt stark vom Reisen inspiriert. Welche Begegnungen auf diesen Pfaden haben dich nachhaltig beeindruckt?

Alle Farben:
Ich überwintere immer zwei bis drei Monate in Asien. Dort bin ich kein großer Star, aber ich darf hier und da mal einen Gig spielen, damit mir nicht langweilig wird. Eine Woche Strandurlaub ist eine Katastrophe für mich. Aber ich erinnere mich an eine kleine Bar in Vietnam, in der ich aufgetreten bin. Mein Reisebegleiter hatte Geburtstag und wir sind einen Tag davor in diesem kleinen Club aufgeschlagen. Dort haben wir gefragt, ob ich am nächsten Tag auflegen darf. So haben wir seine Geburtstagsparty umsonst bekommen. Und es war herrlich, in so einer kleinen Kaschemme für betrunkene Vietnamesen und Russen zu spielen.

»Neue Freunde habe ich schon sehr lange nicht mehr gefunden.«

Katharina:
Wie schwer fällt es dir, neue Freunde zu finden?

Alle Farben:
Neue Freunde habe ich schon sehr lange nicht mehr gefunden. Ich habe die alten behalten. Und das ist nicht immer einfach. Dafür muss man arbeiten und viel tun. Über den beruflichen Weg und durch den Erfolg habe ich auch einige Leute verloren. Man kann sich manchmal eben nicht mehr so kümmern und weniger vor Ort sein. Zum Thema neue Freunde finden habe ich immer den Beigeschmack der Frage: Warum mögen die mich? Mögen die wirklich mich? Oder ist es die Musik? Der Fame? Das Geld? Und dieses Gefühl wäre gegenüber jemandem, der es ehrlich meint, nicht fair. Weil man selbst schon vergiftet in die Freundschaft geht.

»Ich durfte fabrizieren, was ich wollte. Es musste nur schmecken.«

Katharina:
Du hast einen sehr interessanten Wikipedia-Artikel. Gleich der erste Satz lautet: „Frans Zimmer wuchs mit seinem Bruder Aaron in Berlin-Kreuzberg auf, dem Stadtteil, in dem er bis heute lebt und arbeitet. Seine Eltern betreiben einen Altwarenladen. Nach der Oberschule wollte Zimmer zunächst Malerei studieren, scheiterte jedoch an der Aufnahmeprüfung an der Universität der Künste in Berlin. Eineinhalb Jahre machte er eine Ausbildung zum Grafikdesigner an einer Privatschule. Er brach die Ausbildung ab und verdiente in den folgenden Jahren sein Geld mit Gelegenheitsjobs – zuletzt dreieinhalb Jahre als Konditor in einem Berliner Café. Zudem verkaufte er in Kneipen selbstgemachte Postkarten und malte Bilder, die er günstig verkaufte oder an Freunde verschenkte.“ Welche Rolle spielt Scheitern in deinem Leben?

Alle Farben:
Das ist nicht immer eine Katastrophe. So ein Korb hat mich nie abgeschreckt. Ich habe viele Sachen ohne Chef ausprobiert und dadurch hat man nicht denselben Druck. Ich musste nur meine Miete zahlen und essen können. Ansonsten habe ich immer gemacht, worauf ich Lust hatte. Als Quereinsteiger -Konditor zu arbeiten ist theoretisch ja nicht möglich, da das ein geschützter Beruf ist, aber in dem Laden haben wir das irgendwie hinbekommen. Und dann hieß es nur: „Morgen brauchen wir vier Kuchen“ – und ich durfte fabrizieren, was ich wollte. Es musste nur schmecken. Neben den Postkarten habe ich auch Pralinen gemacht und diese in Kneipen verkauft. Und wenn ich genug zusammenhatte, bin ich in der Bar versackt.

Katharina:
Du sagtest eben, dass du etwas schüchtern bist, was das Sprechen auf der Bühne angeht. Aber ist es nicht viel beängstigender, fremde Leute in Bars anzuquatschen um ihnen Kleinkunst zu verkaufen?

Alle Farben:
Klar, das war eine Überwindung. Und Bier hat auch geholfen. Das brauche ich nicht, wenn ich auf die Bühne gehe. Und darüber bin ich auch froh. Ich kenne sehr viele Künstler, die nicht nüchtern auf die Bühne gehen können – genau wegen dieser Ängste.

»Ich weiß nicht, ob ich nochmal denselben Vertrag unterschreiben würde.«

Katharina:
Du hast in Interviews schon öfter die Vor- und Nachteile der Zusammenarbeit mit einem Major-Label verhandelt. Was ist da der aktuelle Stand?

Alle Farben:
Major Labels sind nicht alles. Man kann aber viel Positives von ihnen mitnehmen. Ich empfinde die gemeinsame Vergangenheit bisher als produktiv. Aber ich weiß nicht, ob ich nochmal denselben Vertrag unterschreiben würde.

Katharina:
Das Thema unserer aktuellen Ausgabe ist „Zwielicht“, wir nähern uns auf abstrakten Wegen der Dämmerung. Wo findet man Grauschattierungen in deinem Leben?

Alle Farben:
Überall. Sie passen gut zur Nacht und dem Nachtleben, das viele Facetten hat – und deshalb passen sie auch sehr gut zu mir als Mensch.


Charlie Cunningham

Interview — Charlie Cunningham

Hype Is A Dodgy Thing

With »Permanent Way,« singer-songwriter Charlie Cunningham has now released his second album. Artistically it’s very touching and musically it’s quite unique—but that's something the modest Brit doesn’t want to hear about.

12. Juni 2019 — MYP N° 25 »Twilight« — Interview: Jonas Meyer, Photography: Maximilian König

We have to be honest: The reason that the following interview came about is a very personal one. When Maximilian König and I were traveling in the woods of the Uckermark to produce a film at the end of March, we received a promo mail from Annett Bonkowski, our dear contact person at Verstaerker. In her message she introduced a certain Charlie Cunningham, who would release his second album in June.

In Annett’s promo mails, there are always interesting personalities from the music business, and you can often discover new music in a much more personal fashion than the cold algorithmic engines of Spotify could ever afford.

In this particular case, after a long, breezy day of shooting in the woods, we got into our car, checked our emails, glanced trough Annett’s message, and clicked on the attached YouTube link to the song “Permanent Way.” While the video was still buffering (network coverage in Germany is terrible), we hit the road. After a few moments we were on a foggy country road somewhere in the Uckermark. The dusk was just starting, the scenery seemed almost surreal, and suddenly out of nowhere the music started. Max and I looked at each other and said almost at the same time: „We have to meet this guy!“ Nothing could have fit the landscape and the mood better at this moment than this song.

Fast forward a few weeks to just before the European elections, and we are sitting with Charlie Cunningham in a small meeting room in BMG’s offices near the Gendarmenmarkt in Berlin. This Brit is the best example of what it feels like when Europe grows together, at least musically. Charlie is from tranquil Bedfordshire—situated between Birmingham and London—but eventually decided to relocate to Seville for two years where he learned the special technique of Spanish flamenco guitar. He then moved to London, and several EPs later, released his widely acclaimed debut album Lines in 2017. Now Charlie’s second album is here, which bears the name Permanent Way, just like its titular song. Everyone should find out for themselves how this wonderful record feels. For us it will always be the foggy Uckermark in late March—after a long day in the woods, just before dusk.

»Europe is quite a big deal for me in every kind of aspect.«

Jonas:
At the moment, it feels like more people are talking about Europe than ever before. What does Europe mean to you? First, in general terms, and second, in musical terms?

Charlie:
I’m very proud to be European. Europe, to me, means a melting pot of cultures and ways of life that feels amazing to be a part of. Being from the U.K., you know, we’re kind of a separate island, so it’s lovely to have some feeling of togetherness. Everything that is going on at the moment is quite heartbreaking for me and for lots of people. But it’s not over yet, so let’s see what happens.
As far as musically, I’ve spent a lot of time in Spain, learning the Flamenco way of playing guitar. I love traveling around Europe, listening to all the different types of music that you hear. So, Europe is quite a big deal for me in every kind of aspect.

»When I’m in London, I think I miss the quiet, the green, and, when I’m waking up in the morning, not to hear any sirens or shouting.«

Jonas:
You’re a person that seems to travel a lot. What do you miss most about Bedfordshire when you’re on the move? And what do you miss about Seville when you’re not there?

Charlie:
Oh man! About Seville, I miss everything—the weather, the food, the pace. I live in East London, that’s got quite a fast pace. Seville is amazing, it’s a mixture of all sorts of creative people. I grew up in the countryside right on the edge of Buckinghamshire and Bedfordshire. When I’m in London, I think I miss the quiet, the green, and, when I’m waking up in the morning, not to hear any sirens or shouting—the sound of the city.

Jonas:
What did growing up in Bedfordshire mean to you?

Charlie:
I felt really cut off there which was great because I was permanently outside—me and my friends were always on our bikes. And it was local, everyone knew each other. You could walk down the street and see people you know everywhere.

»I needed to do an album like ›Lines‹ first which was basically to show what kind of songwriter I am.«

Jonas:
In the press kit we got, you say that you were planning an album like Permanent Way a long time ago. What kind of album did you want to create back then? What did you have in mind?

Charlie:
I think, back then, I loved the idea of being quite adventurous with instrumentation, with the types of songs, creating contrasting atmospheres that all kind of work together. But I needed to do an album like Lines first which was basically to show what kind of songwriter I am. It was about the fundamental of the song, and about giving some context to myself to anyone who might be listening to me. So, with the next record, Permanent Way, you already have that context.

Jonas:
If Lines stands for simplicity, what would you say Permanent Way stands for, if you could reduce it to one word?

Charlie:
One word is hard, I’m not sure if I’m able to. People talk about the second album being a “pressure album,” but for me, the debut album was the difficult one. It was a big relief that it came out how it was and that the people liked it. So I felt quite liberated. On Permanent Way, there’s kind of a freedom, I didn’t feel any pressure on my shoulders because I think I knew what I was doing. Maybe the word you were asking for is freedom in the end.

»I’m more interested in people generally and their interactions.«

Jonas:
Recently we had an interview with a movie director. He told us that, for him, creating roles and characters is all about watching people and observing them on the streets, in cafés, or wherever. Is it the same with writing a song?

Charlie:
Yeah, I think so. Musicians often write about themselves and their emotions which is important and valid. But it’s mainly interesting for the person who writes the song. I’m more interested in people generally and their interactions—especially nowadays, it’s pretty crazy.

Jonas (shows his smartphone):
… and this little thing is more important than personal contact.

Charlie (laughs):
Absolutely! It seems to be more important than anything else. That’s actually something I’m also looking at. I mean, there’s personal stuff in this little thing, too, but you have to be aware of what you’re thinking and feeling.

»It’s pretty grey in Catford, South London, so it’s nice to have a little percentage on the album made in California.«

Jonas:
You’ve been in Los Angeles for a while creating your new record…

Charlie:
… yes, but just for two weeks. Eighty to ninety percent of the record was done in London.

Jonas:
L.A. seems to be the prototype of a busy city. How did you perceive the city of Los Angeles in a time when you were working on such a thoughtful record like Permanent Way?

Charlie:
I absolutely know what you mean. I’d written all the songs first, so I wasn’t going there to find the inspiration. I used to spend the whole day in the studio, so I wasn’t really in L.A., to be honest. Actually, there was just one reason to go there. I met Rodaidh McDonald—who is an award-winning music producer—in London and I told him that I would love to record a couple of tracks with him. But he said that he was just moving to Los Angeles why I decided to fly over for a couple of weeks. It was a nice contrast to Catford, South London, where the rest of the record was recorded. It’s pretty grey there, so it’s nice to have a little percentage on the album made in California.

»All that imagery is trying not to be too distracting from the song when you’re watching the video.«

Jonas:
In the music videos you released over the last few weeks, there’s always a kind of black-and-white theme in the form of moving visuals captured in nature. What does this visual element mean to you?

Charlie:
All that imagery is trying not to be too distracting from the song when you’re watching the video, it’s trying to keep some consistency with everything. These shots are pretty lovely, but they are also quite dark and moody. There’s a beauty in it that is never overwhelming. These visuals try to draw a fine line and to create a setting that is not overpowering.

Jonas:
How did you get the idea?

Charlie:
The idea came from the album cover which is a beautiful image taken by my friend Peter Banks. It’s funny because it looks like a wonderful setting out in nature, but actually it’s in the Hackney Marshes in the north of London—the little bit of nature that is existing there. It just felt like a thing that we wanted to explore, and so we went back and took all those other photos and videos based on that one.

»I think the definition of music by genre and all that other stuff becomes more and more meaningless.«

Jonas:
I found a lot of articles about you that try to describe your very special musical style. I think music has always been defined by its genre or character—pop, rock, indie, ambient, whatever. Shouldn’t we start to define music by the effects it can have, by the emotions it can cause in humans?

Charlie:
That would be awesome. I think the definition of music by genre and all that other stuff becomes more and more meaningless. This approach is just boring and out of date because today, it’s all crossing over. I’ve been making music for quite a while and people still come and ask, “What type of music do you make?” It’s really hard to answer, I have to throw lots of words in to describe that. I mean, I’m just creating environments and atmospheres—and I don’t want to use words like melancholic, sad or uplifting for that.

Jonas:
The way you play your guitar is very unique. Would you say you created something really new with your sound? Would that even matter to you?

Charlie (smiles):
I certainly wouldn’t want to say if I thought I did. I mean, every musician sounds different, so it’s generally not possible for anyone else to sound like Charlie Cunningham and the other way around. But to be honest, my guitar style is just the regular Flamenco guitar technique that I learned in Seville. What makes it very personal and individual is the combination of all my experiences and interests, that’s my thing. I grew up listening to a lot of music: punk, ambient, heavy metal music, also bands like Radiohead or Sigur Rós. I think that all influenced who I am and how I sound, that’s just honest to me.

»We live in a society now where things feel very immediate and quick-fire, maybe there’s a void of meaning.«

Jonas:
In the last few years, neo-classical music artists like Nils Frahm, Ólafur Arnalds or Luke Howard have become more and more successful. They fill entire concert halls with their very ambient, melancholic, quiet, and touching music. Do you have an explanation why this kind of music has become so popular?

Charlie:
I don’t really know, but I guess people have a longing for depth and they want something that feels kind of emotional. We live in a society now where things feel very immediate and quick-fire, maybe there’s a void of meaning—and this type of music connects with people a little bit more.

Jonas:
I heard that you’re a person that doesn’t like to be in the spotlight. How do you deal with it when people call you “the next big thing?”

Charlie (laughs):
It’s the music industry people, they say shit about everyone all the time. That stuff comes and goes—and as long as I can avoid that, that’s definitely better. Hype is a dodgy thing, don’t believe it!


Lars Montag

Interview — Lars Montag

How To Tell A Good Story (Fast)

Nach seinem Kinofilm »Einsamkeit und Sex und Mitleid« meldet sich Regisseur Lars Montag nun mit einer Netflix-Serie zurück. »How To Sell Drugs Online (Fast)« basiert auf der wahren Geschichte des Drogen-Onlinehändlers Shiny Flakes, aber die Serie ist vor allem eines: eine Hommage an die Freundschaft und das Erwachsenwerden.

5. Juni 2019 — MYP N° 25 »Zwielicht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke

Als am 26. Februar 2015 schwer bewaffnete Polizisten das Kinderzimmer von Maximilian S. stürmten, war plötzlich alles vorbei. Seit Dezember 2013 hatte der 20-Jährige aus der elterlichen Wohnung in Leipzig heraus einen Onlineshop für Drogen aller Art betrieben und damit etliche Millionen Euro Umsatz gemacht. In nur 15 Monaten hatte S. unter dem Namen Shiny Flakes Tausende Bestellungen in seinem Shop im Darknet erhalten und als verlässlicher Dienstleister über die Zeit etwa 600 Kilogramm Drogen in alle Welt verschickt. Zusammen mit dem Lagerbestand von 320 Kilogramm, den die Polizei in seinem Kinderzimmer fand und der zu dem Zeitpunkt einen Marktwert von etwa 4,1 Millionen Euro hatte, summierte sich die polizeilich registrierte Gesamthandelsmenge auf knapp eine Tonne – einer der größten Drogenfunde in der Geschichte der Bundesrepublik. Bis zu seiner Festnahme hatte Maximilians Mutter keinen blassen Schimmer, was der Sohnemann so trieb in seinem Zimmer.

Diese fast unglaubliche und filmreife Story dient nun als Vorlage für eine neue Netflix-Serie. In „How To Sell Drugs Online (Fast)“ bastelt sich der introvertierte Teenager Moritz, liebevoll gespielt von Maximilian Mundt, in seinem Kinderzimmer ebenfalls einen anonymen Drogenshop im Darknet zusammen – nur dass Moritz im Gegensatz zu Maximilian S. nicht in einer Großstadt wie Leipzig wohnt, sondern in einem fiktiven 28.000-Seelen-Kaff namens Rinseln. Treu zur Seite steht ihm dabei sein bester und einziger Freund Lenny, der – gespielt von Danilo Kamperidis – durch eine schwere Krankheit an den Rollstuhl gefesselt ist und mit seinen außerordentlichen Programmierfähigkeiten ebenfalls allen Nerd-Klischees entspricht.

Die Parallelen zu den realen Begebenheiten sind also offensichtlich – und doch geht es in „How To Sell Drugs Online (Fast)“ nur auf den ersten Blick um den Vertrieb, Konsum und die Wirkungen von Drogen. Beiwerk, sozusagen. Die Serie ist vielmehr eine Hommage an das Wesen der Freundschaft und die Suche nach einem eigenen, festen Platz in dieser Welt. Dabei übt sie nicht nur mit all jenen den Schulterschluss, die wie Moritz und Lenny in der Enge der kleinstädtischen Spießbürgerlichkeit aufwachsen oder aufgewachsen sind. Sie nimmt auch all die unglücklich Verliebten in den Arm, deren Schwärmerei nicht erwidert wird, weil die oder der Auserwählte nichts Besseres zu tun hat, als sich mit Leib und Seele an die durchtrainierte Schulschönheit zu schmeißen.

Das Besondere, wahrscheinlich sogar das Einzigartige an „How To Sell Drugs Online (Fast)“ ist, dass sich die Erzählweise quasi eins zu eins das moderne Kommunikationsverhalten (nicht nur) junger Menschen anlehnt. Alles passiert gleichzeitig, unmittelbar und permanent: Informationen aufgesaugt, ausgespuckt, weitergeleitet und weggeklickt. Analog wie digital.

Dass die Serie dabei nicht nur so dynamisch, sondern auch so nahbar erzählt ist, ist den beiden Regisseuren Lars Montag und Arne Feldhusen zu verdanken, die für jeweils drei der vorerst sechs Episoden verantwortlich zeichnen. Die ersten drei Folgen gehen auf das Konto des 48-jährigen Lars Montag, der bereits vor zwei Jahren mit seinem Streifen „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ einen entlarvenden und gleichzeitig urkomischen Blick auf das deutsche Seelenleben warf. Ausgezeichnet wurde er dafür mit dem österreichischen Fernseh- und Filmpreis „Romy“ in der Kategorie „Beste Regie Kinofilm“. Zwei Wochen vor dem offiziellen Start von „How To Sell Drugs Online (Fast)“ haben wir den äußerst junggebliebenen Regisseur zum Interview in Berlin getroffen – und wir können verraten: Wir haben wohl selten so viel und herzlich gelacht bei einem MYP-Gespräch.

Ach, übrigens: Maximilian S. aka. Shiny Flakes tauchte während der Dreharbeiten zur Serie plötzlich mal im Produktionsbüro auf, so erzählt Lars Montag. Während eines Freigangs – S. ist nach wie vor in Haft – war er am Kölner Landgericht als Zeuge geladen und erfuhr per Zufall, dass in der Köln-Bonner Umgebung gerade die Produktion einer Netflix-Serie stattfand, für die er mit seiner Vita die Vorlage geliefert hatte. Also schaute er mal vorbei und ließ sein Blick interessiert über die Fotos vom Cast und den Motiven schweifen, die an der Pinnwand des Produktionsbüros hingen. Er soll sich gefreut haben, heißt es.

»Deutschland in den Achtzigern war wahnsinnig unprägnant.«

Jonas:
Du bist im kleinen Städtchen Bünde in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen und zur Schule gegangen. Was war Bünde für ein Ort in den 1980er Jahren, deiner Teenagerzeit?

Lars:
Genau gesagt komme ich aus Kirchlengern bei Bünde, das ist noch viel kleiner! Für mich war das damals ein Unort – soll heißen: Der Ort, an dem man lebte und seine Freunde hatte, spielte überhaupt keine Rolle. Wir waren als Kinder und Jugendliche nur mit uns selbst beschäftigt und haben uns dauernd irgendetwas ausgedacht, aber vielmehr haben wir auch nicht gemacht. Gerade auf dem Land gibt es ja überhaupt keine Stimulanz von außen. Gut, irgendwann hatten die ersten von uns ein Mofa, damit sind wir erst mal nach Bielefeld gefahren. Aber bis zu diesem Zeitpunkt haben wir nur in den Welten gelebt, die wir uns ausgedacht hatten.

Jonas:
Und was war Deutschland für ein Ort in den Achtzigern?

Lars:
Ich glaube, bevor ich 20 war, habe ich gar nicht über Deutschland nachgedacht – diese generelle Perspektive auf mein Land hatte ich mit 15, 16 Jahren einfach noch nicht entwickelt. Ganz abgesehen davon war Deutschland in den Achtzigern auch wahnsinnig unprägnant – im Sinne von „Helmut Kohl sitzt alles aus“. Bis auf „die Birne“, wie Kohl genannt wurde, gab es damals absolut nichts, an dem man sich abarbeiten konnte.

»Ich finde, dass das Leben auf der Straße immer bunter und toller ist als das in Filmen – und das nicht nur in Berlin, sondern gerade auch auf dem Land.«

Jonas:
Dafür scheinst du dich heute viel intensiver mit diesem Land auseinanderzusetzen, zumindest in deiner Arbeit. Sowohl „How To Sell Drugs Online (Fast)“ als auch „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ zeichnen sich durch einen ganz besonderen Blick auf Deutschland aus: Während sich der Kinofilm dem Ganzen aus der psychologischen Perspektive nähert und deutsche Befindlichkeiten sichtbar macht, beschreibt die Netflix-Serie eher die Enge der Provinz. In beiden Fällen wird man das Gefühl nicht los, dass es dir die deutsche Alltagswirklichkeit so richtig angetan hat. Was fasziniert dich so daran?

Lars:
Zuerst einmal finde ich, dass das Leben auf der Straße immer bunter und toller ist als das in Filmen. Ich muss nur vor die Tür gehen und sehe superinteressante, individuelle, sich irre verhaltende Leute – und das nicht nur in Berlin, sondern gerade auch auf dem Land. Mich als Regisseur interessiert es einfach, an genau solchen Stellen wie bei einem Verstärker das Rädchen etwas aufzudrehen. Oder anders gesagt: Die wahrhaftige Motivation von Menschen – nur ein bisschen ins Hyperrealistische gebracht– finde ich spannend zu sehen und ebenso spannend zu erzählen.
In „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ gibt es beispielsweise eine Szene, in der sich der junge Johnny, gespielt von Aaron Hilmer, vor einem sektenartigen Kirchenkomitee erklären muss, weil er sich in ein Mädchen verliebt hat. Diese Dialoge sind ausschließlich aus Originalprotokollen von Menschen zusammengeschrieben, die bei den Zeugen Jehovas ausgestiegen sind und derartige Gespräche führen mussten. Zwar ist der Film in seiner Gesamtheit natürlich kein realistisches Abbild der deutschen oder meiner Befindlichkeit. Dennoch ist alles, was die Figuren da machen, auch ein Stück weit ich selbst, lediglich verteilt auf ein Ensemble von zwölf Leuten und hochgedreht in den Amplituden.

Jonas:
Wie oft passiert es dir in deinem Alltag, dass du Personen begegnest, die du so spannend findest, dass du sie am liebsten als Charaktere für ein Filmprojekt benutzen möchtest?

Lars (grinst):
Leider sehr oft. Ich mache auch heimlich Fotos – die natürlich nie irgendwo veröffentlicht werden. Diese Bilder nutze ich gerne als Vorlage für Kostüme, Maske oder generell das Casting. Das Leben da draußen ist so viel bunter, cooler und toller, als man sich das jemals ausdenken könnte. Toll war übrigens auch, dass Bjarne Mädel so viel Lust darauf hatte, sich für die Rolle des Drogendealers Buba in „How To Sell Drugs Online (Fast)“ so stark zu verändern. Wir haben ihm Schläuche in die Nase gesteckt, damit seine Nasenlöcher größer wurden, außerdem haben wir seine Augenbrauen gezupft, die Haare gefärbt und ihm diverse Tattoos aufgemalt. Am Ende stand eine physiognomisch total veränderte Person vor uns.

»Seit Fassbinder gibt es eigentlich keine deutsche Erzählweise mehr. Alle versuchen nur noch, in irgendeiner Form Hollywood nachzumachen.«

Jonas:
Würdest du von dir behaupten, dass du eine besonders deutsche Erzählweise hast?

Lars:
Ich wüsste gar nicht, was das im Jahr 2019 bedeuten sollte. Seit Fassbinder gibt es eigentlich keine deutsche Erzählweise mehr. Alle versuchen nur noch, in irgendeiner Form Hollywood nachzumachen.

Jonas:
„How To Sell Drugs Online (Fast)” spielt in der fiktiven Stadt Rinseln, die mit rund 28.000 Einwohnern etwa halb so groß ist wie die reale Stadt Bünde. Gibt es in der Serie Momente oder Situationen, die dich an deine eigene Teenagerzeit erinnern?

Lars:
Ja, volle Kanne! Genauso wie die Figuren Moritz und Lenny in ihrem Jugendzimmer sitzen und bei abgeschlossener Tür ihren Drogenhandel betreiben, habe ich als Kind zuhause eigene Stopptrick-Filme erstellt. Zwar habe ich mit 15 oder 16 auch angefangen, Filme mit echten Menschen zu drehen, aber bis dahin habe ich bei uns zuhause im Keller gesessen und mir dort einen zurechtgebastelt – mit selbstgenähten Figuren, in die ich Sand oder Reis gefüllt hatte. Und genauso wie die beiden nach der Schule immer nachschauen, wie viele neue Bestellungen eingegangen sind, so bin ich immer in der Hoffnung nach Hause gekommen, dass meine Super-8-Rolle zurückgeschickt wurde, die ich zum Entwickeln gegeben hatte. Das dauerte immer um die drei Wochen. Ohnehin dauerte damals alles viel länger. Ich musste mein Taschengeld ganze zwei Monate lang sparen, um mir wieder eine neue Filmrolle kaufen zu können.
Darüber hinaus erkenne ich in der Serie natürlich die Enge der Provinz wieder. Ich wollte immer lernen, wie man Filme macht – keine Ahnung warum, in meiner Familie hatte damit nie jemand etwas zu tun. Mir war aber klar, dass ich dafür in Ost-Westfalen – dem Widerspruch in sich sozusagen – keinerlei Nährboden finden kann. Also bin ich nach dem Abi relativ schnell aus Bünden weg.

»Ich hatte als Jugendlicher die Chance, total viel nicht zu wissen. Das empfinde ich heute als riesiges Geschenk.«

Jonas:
Und an welcher Stelle siehst du den größten Unterschied zwischen der Serie und deiner eigenen, realen Jugend?

Lars:
Ich glaube, der größte Unterschied zur Serie und dem heutigen Leben junger Leute liegt darin, dass ich damals die Chance hatte, total viel nicht zu wissen. Heutzutage ist es doch so, dass – egal, was du in deinem Leben machen willst oder wo du denkst, dass deine Talente liegen – du im Internet sofort 400 andere Leute findest, die das besser können als du selbst oder sogar zur Perfektion getrieben haben. Das ist extrem frustrierend und macht es fast unmöglich herauszufinden, wo überhaupt der eigene Platz ist.
Wenn ich damals gewusst hätte, dass sich an den Filmhochschulen Tausende von talentierten Leuten bewerben, aber nur wenige von ihnen genommen werden und noch weniger später überhaupt als Filmemacher arbeiten, wenn ich mich vorab in all den heutigen Foren informiert hätte und den ganzen Frust über das Auswahlverfahren gelesen hätte, wenn ich erst mal gegoogelt hätte und dadurch gemerkt hätte, dass all meine coolen Ideen bereits jemand vor mir hatte, weiß ich nicht, ob ich da den Nerv und die Lust gehabt hätte, das überhaupt durchzuziehen. Ich wusste das alles Gott sei Dank nicht und habe es einfach gemacht. Es gab für mich auch nichts anderes. Dieses Unwissen empfinde ich heute als riesiges Geschenk.

»Ich war ganz klar auf der Nerd-Seite, ich war eher Moritz.«

Jonas:
In „How To Sell Drugs Online (Fast)“ werden immer wieder die beiden Figuren Moritz und Dan gegenübergestellt. Dan, gespielt von Damian Hardung, ist der athletische und allseits beliebte Schönling, der Moritz die Freundin ausgespannt hat. Moritz ist eher ein kleiner und schlaksiger Nerd, der gegen Dan nicht wirklich etwas ausrichten kann. Wenn du einen Blick auf diese beiden Charaktere wirfst und dich an deine eigene Schulzeit erinnerst, warst du eher der Nerd oder der beliebte Schönling?

Lars:
Ich war ganz klar auf der Nerd-Seite, ich war eher Moritz.

Jonas:
In den Neunzigern galt auch jemand schon als Nerd, wenn er Fan der Science-Fiction-Serie „Star Trek: The Next Generation“ war. Einer der Hauptdarsteller, Jonathan Frakes, kommt auch in einer kleinen Gastrolle in „How To Sell Drugs Online (Fast)“ vor, allerdings im Zusammenhang mit seiner Moderatorentätigkeit in der TV-Kultserie „X-Factor“, in der er um die Jahrtausendwende zu sehen war. Ist Jonathan Frakes überhaupt eine Persönlichkeit, die heutige Jugendliche noch kennen?

Lars:
Ja, klar! „X-Factor“ war nirgendwo auf der Welt so erfolgreich wie in Deutschland. Witzigerweise war das Format in Amerika relativ unerheblich, aber hier war es ein Riesending.

»Wenn man so ein Format für das Öffentlich-Rechtliche produziert hätte, hätte man immer zeigen müssen, was alles schiefgehen kann.«

Jonas:
Am Ende seines Gastauftritts in „How To Sell Drugs Online (Fast)“ fordert Frakes die Zuschauer auf, keine Drogen zu nehmen. War es wichtig, ein solches pädagogisch wertvolles Element mit einzubauen?

Lars:
Es gibt in der Serie nur wenige dieser Stellen, und das auch ganz bewusst. Wenn man so ein Format für das Öffentlich-Rechtliche produziert hätte, hätte man immer zeigen müssen, was alles schiefgehen kann, wenn man Drogen konsumiert – man muss dort permanent alle Seiten gleichermaßen beleuchten. Die Zusammenarbeit mit den Netflix-Menschen war da wesentlich angenehmer. Gleich bei unserem ersten Treffen hieß es: „Hab‘ keine Schere im Kopf, denn unsere Zuschauer haben selbst ein Hirn. Wenn das Ding in Ansätzen drogenverherrlichend ist, kann sich jeder selbst dazu verhalten, eine Meinung bilden und sagen, dass es zu weit geht. Permanent die ausgeglichene Waage zu zeigen, ist etwas, was unser Publikum nicht interessiert.“ Und diese Aussage fand ich cool…

Jonas:
… weil man in der Serie relativ schnell merkt, dass es gar nicht um Drogenhandel geht, sondern dies nur ein Aufhänger für einen ganz anderes Thema ist?

Lars:
Ganz genau. „How To Sell Drugs Online (Fast)” ist die Geschichte insbesondere eines jungen Menschen namens Moritz, der sich einfach die Frage stellt, wo sein Platz im Leben ist. Er versucht herauszufinden, wo seine Talente liegen und wie er überhaupt ein Selbstwertgefühl entwickeln kann. Moritz hat eh schon eine leicht übertriebene Hybris – und die braucht von irgendwoher Futter. Auf der Suche danach findet er schließlich etwas, was er besser kann als alle anderen. Dummerweise ist das illegal.

»Diese exponierte Darstellung in Badehose ist für einen jungen Menschen, der sich nicht so wohlfühlt in seinem Körper, eine Vollkatastrophe.«

Jonas:
Es gibt in den sechs Episoden der Serie viele plakative Schlüsselszenen, an die man sich erinnert – etwa als Dan im Schulschwimmbad mit seinem athletischen Körper wie ein junger Gott aus dem Wasser steigt und sich vor dem schmächtigen Moritz aufbaut. Wer als Zuschauer dazu neigt, auf Instagram immer wieder an vermeintlich perfekten Körpern hängenzubleiben und seine eigene Physis damit zu vergleichen, kann wahrscheinlich nachvollziehen, wie Moritz sich in dem Moment fühlen muss. War es dein Ziel, diese Analogie bewusst herzustellen?

Lars (lächelt):
Der Moment, in dem Dan aus dem Wasser auftaucht, sollte aussehen wie eine Davidoff-Werbung! Aber im Ernst: So eine Begegnung ist der Alptraum eines jeden Nerds, das kenne ich nur zu gut aus meinem eigenen Leben. Ursprünglich sollte diese Szene auf dem Schulhof spielen, aber ich habe mich entschieden, sie in den Schwimmunterricht zu verlegen. Diese exponierte Darstellung von Moritz in Badehose – die es übrigens in ähnlicher Form in „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ bei der Figur des Johnny gibt –, ist für einen jungen Menschen, der sich nicht so wohlfühlt in seinem Körper, natürlich eine Vollkatastrophe. Und dieses Problem kann man nochmal in besonderer Weise verdeutlichen, wenn man jemanden danebenstellt, der seinen eigenen Körper mag und das Wohlgeformte gerne herzeigt.

»Wenn eine Rolle in mir eine Saite zum Schwingen bringt, werde ich hungrig und merke, dass es sich lohnt, weiterzugraben.«

Jonas:
Die Charaktere Johnny und Moritz sind sich ohnehin nicht so unähnlich. Beide sind Underdogs und lieben ein Mädchen, das diese Liebe aber nicht oder nicht mehr erwidert, sondern sich eher anderen Jungs zuwendet, die blumiger reden oder besser aussehen. Wann ist für dich ein Film-Charakter schön? Wann manifestiert sich für dich eine gewisse Ästhetik in einer Rolle, die auf den ersten Blick keine Instagram-Schönheit ist?

Lars:
Für mich ist das keine Frage von Schönheit, sondern von Resonanz. Wenn eine Rolle in mir eine Saite zum Schwingen bringt, werde ich hungrig und merke, dass es sich lohnt, weiterzugraben. Dazu muss ich gar nicht genau wissen, um welche Saite es sich genau handelt, es muss sich einfach nur etwas in mir tun. Ich kann mich diesbezüglich an einen wichtigen eigenen Schlüsselmoment erinnern, den ich erleben durfte, als ich vor vielen Jahren auf der Premiere des Films „Magnolia“ von Paul Thomas Anderson eingeladen war – für mich übrigens der große Überfilm, wenn es um Episodenfilme geht. Ich war total berührt von diesem dreistündigen Werk, konnte aber nicht erklären, warum genau – obwohl der Film viele interessante Themen und Figuren hat. Aber als Paul Thomas Anderson nach der Vorstellung auf die Bühne kam und sagte: „Eigentlich wollte ich nur einen Film darüber machen, dass es sich lohnt, seine Kinder zu lieben“, machte es bei mir sofort klick. Ich dachte: Ja, das ist es! Ich konnte es nicht benennen, aber genau das war es, was ich darin gespürt hatte. Und das ist die Kunst.

»Am Skript hat ein ganzes Team von tollen Autoren gearbeitet, die natürlich auch alle ihre jeweiligen Lebenserfahrungen, Demütigungen und Probleme miteingebracht haben.«

Jonas:
Eine weitere Szene, die einem im Gedächtnis bleibt, ist der Moment auf Lisas Hausparty, in dem Moritz zu Dan sagt, dass irgendwann einmal die jetzt noch Beliebten aus der Schule die Hemdenträger der Nerds sein werden. Hast du diese Erfahrung in deinem eigenen Leben auch gemacht?

Lars:
Das kann ich gar nicht so sagen. Davon abgesehen habe ich die Drehbücher nicht geschrieben. Am Skript der Serie hat ein ganzes Team von tollen Autoren gearbeitet, die natürlich auch alle ihre jeweiligen Lebenserfahrungen, Demütigungen und Probleme miteingebracht haben.

Jonas:
Immerhin gibt es die These, dass Kinder, die in der Schule gemobbt werden oder es aus anderen Gründen schwer haben, bestimmte „Überlebens-Mechanismen“ entwickeln, die ihnen später im Job helfen, sich durchzusetzen und erfolgreich zu sein. Und die, denen immer alles leicht gemacht wurde, weil sie hübsch und beliebt waren und sich dementsprechend nie einen Platz erkämpfen mussten, haben es später im Beruf wesentlich schwerer – weil sie nicht gelernt haben, wie man sich im durchboxt.

Lars:
Klar, da könnte was dran sein. Vielleicht sind Schwule im Beruf erfolgreicher, weil sie so einen Mechanismus entwickeln mussten. Nerds sowieso. Wenn wie bei mir beides zusammenkommt, hat man vielleicht noch mehr Glück (lacht).

»In Deutschland kann man sich ein mutigeres Arbeiten eigentlich erst erlauben, seitdem digital gedreht wird.«

Jonas:
Zumindest bringst du Einiges an Lebenserfahrung mit und hast viel erlebt, allein was die mediale und technologische Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte angeht. Von MTV und RTL über die ersten Modems, die erste DVD, die ersten Handys, das erste Smartphone bis hin zu Facebook, Instagram und YouTube warst du bei allem live dabei. Was bedeutet diese rasante Entwicklung für dich und deine Arbeit als Regisseur?

Lars:
Der größte Schritt war sicherlich der vom Zelluloid hin zur digitalen Aufnahme, jedenfalls was das reine Handwerk des Filmemachens betrifft. Diese Entwicklung bedeutete: mehr improvisieren, mehr Takes machen, mehr ausprobieren. Das geht tatsächlich erst, seitdem nicht mehr etliche Meter Film durch die Kameras laufen, weil das alles wahnsinnig teuer war. Insbesondere in Deutschland, wo die finanziellen Mittel nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen, kann man sich ein etwas prozesshafteres und mutigeres Arbeiten eigentlich erst erlauben, seitdem digital gedreht wird.
Darüber hinaus sind die Kommunikationsmittel ganz andere, heute läuft eine Teamorganisation meistens über Slack. Vor ein paar Jahren hat man sich da noch ewig irgendwelche Emails hin- und hergeschickt, noch früher musste man immer an ellenlangen Besprechungen teilnehmen. Ansonsten hat die technologische Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte tatsächlich wenig Einfluss auf meine Arbeit genommen.

»Ich habe so etwas wie ein Motto: Gib erst mal dem Zufall und den Umständen eine Chance.«

Jonas:
Würdest du sagen, dass du ein bestimmtes Arbeitsprinzip hast?

Lars:
Grundsätzlich arbeite ich so, dass ich morgens, noch vor dem eigentlichen Dreh, mit den Schauspielern probe. Wir nennen das „Nacktprobe“, weil es in Privatklamotten, sprich ohne Kostüm und Maske, und ohne das ganze Team drumherum stattfindet. Etwa 90 Minuten bevor der der Rest des Teams ans Set kommt, treffen wir uns, es gibt eine Thermoskanne Kaffee und ein paar Croissants und wir proben inhaltlich den bevorstehenden Tag. Das haben wir auch beim Dreh von „How To Sell Drugs Online (Fast)“ konsequent durchgezogen. Das heißt zwar am Ende für die Schauspieler und mich mehr Arbeitsstunden, aber wir können dadurch innerhalb eines Tages viel mehr ausprobieren.
Ich habe so etwas wie ein Motto: Gib erst mal dem Zufall und den Umständen eine Chance. Was beispielsweise den Cast angeht, bringen die Schauspielerinnen und Schauspieler immer etwas Eigenes mit – es wäre ein Verlust, das nicht miteinzubeziehen. Maximilian Mundt etwa, der die Rolle des Moritz spielt, kann wahnsinnig gut zeichnen, das haben wir dann bei „How To Sell Drugs Online (Fast)“ mit in die Figur integriert. Genauso verhält es sich auch mit den Motiven. Ein Beispiel ist die Gaststätte, in der Drogendealer Buba arbeitet. Diese Location gibt es wirklich, und zwar in der Nähe unseres Hauptdrehorts in Bonn, wo wir unter anderem Moritz‘ Kinderzimmer aufgebaut hatten und wo auch die Schule war. Ursprünglich sollte Buba in einer normalen Pizzeria arbeiten, aber als wir in der Gegend durch Zufall eine Reithalle inklusive Gasthof gefunden haben, haben wir uns spontan umentschieden. Wir dachten, es sei einfach viel cooler, wenn wir Buba dort platzieren würden – Pferdemädchen und Drogendealer, besser geht’s nicht!
„Einsamkeit und Sex und Mitleid“ ist auf die gleiche Weise entstanden. In Leipzig, wo wir hauptsächlich gedreht haben, haben wir uns umgeschaut, was es dort so an coolen Locations gibt. Und die haben wir dann einfach in den Film eingebaut, anstatt zu versuchen, das alles mühsam herzustellen. Wenn man seine Arbeit eher prozesshaft sieht und die vielen Geschenke mit einsammelt, die einem auf dem Weg vor die Füße fallen, erhält man nicht nur mehr Production Value, sondern es macht auch mehr Spaß und wird irgendwie wahrhaftiger.

»Moritz lebt komplett für die Zukunft. Doch Lenny interessiert vielmehr, was im Hier und Jetzt passiert.«

Jonas:
„How To Sell Drugs Online (Fast)“ ist vor allem eine Story über eine ungewöhnliche und enge Freundschaft, die zwischen dem unglücklich verliebten Moritz und dem todkranken Lenny besteht. Wie habt ihr dieses Duo Maximilian Mundt und Danilo Kamperidis geformt? Was ist das Besondere, das es bei dieser Konstellation zu erzählen galt?

Lars:
Wir hatten einen wirklich außergewöhnlich langen Castingprozess und es hat eine ganze Weile gedauert, bis wir alle Figuren herausgeschält hatten – und zwar so, dass sie nicht nur für uns, sondern auch für Netflix passten. Immerhin wird die Serie in 190 Ländern zu sehen sein, daher müssen insbesondere die Hauptfiguren von Menschen gespielt werden, die mit ihrer Art auch über die deutsche Befindlichkeit hinaus funktionieren. Unter solchen Parametern ist die Suche nochmal etwas mühsamer und wir sind irre froh, dass wir letztendlich diese coole Truppe gefunden haben.
Das Besondere an der Beziehung zwischen diesen beiden Freunden ist, dass Moritz komplett für die Zukunft lebt. Er hängt mit seinem gesamten Mindset nur in dem, was irgendwann mal sein wird, besser gesagt was er irgendwann mal erreichen wird. Seine Ziele sind dabei sehr, sehr hoch und weit gesteckt. Ganz anders verhält es sich bei Lenny. Aufgrund seiner Krankheit wurde ihm immer wieder gesagt, dass er nicht mehr lange zu leben hätte. Dementsprechend interessiert ihn nicht, was er mal in fünf Jahren erreichen wird. Ihn interessiert vielmehr, was im Hier und Jetzt passiert und was man erleben kann. Ich finde, das ist eine super Versuchsanordnung: der Eine, der nur für die Zukunft vorbaut, und der Andere, der nur eine spannende Gegenwart haben will.

Jonas:
Hast du auch den Eindruck, dass solche Underdog-Geschichten, wie ihr sie in eurer Serie erzählt, gerade voll im Trend liegen?

Lars:
Klar! Man denke nur an „The End Of The Fucking World“ oder „Sex Education“, zwei irre Serien. A propos „Sex Education“ – diese Serie wurde veröffentlicht, nachdem wir unsere gerade abgedreht hatten. Dummerweise ist die Jacke des Hauptdarstellers Otis fast identisch mit der, die Moritz in „How To Sell Drugs Online (Fast)“ die ganze Zeit trägt. Als wir das gesehen haben, haben wir die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und gedacht: „Mist, die Leute werden sagen, wir haben da geklaut.“ Dabei ist das gar nicht möglich. Aber sowas passiert eben.

»Alles, was Moritz am Bildschirm eingibt, ist echt – jede Online-Recherche und jede Anleitung zum Drogenverkauf.«

Jonas:
Jacke hin oder her – euch ist etwas gelungen, was ich persönlich in dieser Form noch nirgends gesehen habe. „How To Sell Drugs Online (Fast)“ ist für mich die erste Serie überhaupt, der es gelingt, ihre Erzählform konsequent am Kommunikationsverhalten der Digital Natives auszurichten und uns ungefiltert vorführt, wie, wie oft und wie schnell wir permanent über iPhone & Co. miteinander kommunizieren. Musstest du selbst erst mal dein tägliches Smartphone-Gehabe analysieren, bevor du es in der Serie so realistisch umsetzen konntest?

Lars:
Was das betrifft, gab es einen enormen Input von Seiten der Produktionsfirma Bildundtonfabrik. Der Aufwand, der hinter all den realistischen Grafikeinblendungen in Form von Textnachrichten oder Browser-Screenshots steckt, ist gigantisch und wäre in Deutschland wohl mit keiner anderen Produktionsfirma möglich gewesen. Die haben in ihrer VFX-Abteilung fast 20 Leute nur für Visual Effects sitzen. Alleine in der ersten Folge gibt es weit über 100 VFX-Shots, das ist für 30 Minuten und das Budget eine Riesenleistung. Ohne eine Firma, die diese Skills von Haus aus mitbringt, hätte man das nicht machen können. Und weil es diese Möglichkeiten gab, hatten wir im Laufe des gesamten Prozesses die Chance, derartige Effekte immer weiter hochzufahren. Ein Beispiel: Während des Drehs hat Apple seine sogenannten Animojis veröffentlicht – Messenger-Emojis, die man durch seine eigene Mimik animieren kann. Dank der Bildundtonfabrik konnten wir das in dem Moment kurzerhand mit einbauen. Übrigens: Was die vielen Browser-Screenshots angeht, ist alles, was Moritz am Bildschirm eingibt, echt – jede Online-Recherche und jede Anleitung zum Drogenverkauf. Das hält in der Tiefe stand, falls irgendein Nerd auf die Idee kommt, das zu überprüfen.

»Die Kunst liegt darin, sich als Mensch oder Person nicht mit seinem Talent zu verwechseln.«

Jonas:
In der Serie fällt irgendwann der prägnante Satz: „Likes sind wie Zucker.“ Wie anfällig bist du selbst, der du in den letzten Jahren bereits den ein oder anderen Preis für seine Arbeit eingesammelt hast, für Wertschätzungen und Anerkennungen auf Basis von Auszeichnungen, Quoten oder Kritiken?

Lars:
Als Regisseur Lars Montag bin ich dafür natürlich anfällig, weil auch das ein Treibstoff ist, der diesen ganzen Motor immer wieder befeuert. Zu sagen, das würde einem nichts bedeuten, kann ich nicht nachvollziehen. Ich glaube aber, dass die Kunst darin liegt, sich als Mensch oder Person nicht mit seinem Talent zu verwechseln. Denn damit würde man sich in echte Schwierigkeiten bringen.

Jonas:
Du bist immer wieder mal projektweise als Gastdozent an renommierten Filmhochschulen tätig. Was können die Studentinnen und Studenten von dir lernen, was kannst du ihnen mitgeben?

Lars (lacht):
Das frage ich mich ja auch immer wieder. An den Filmhochschulen herrscht wahnsinnig viel Freiheit – und kaum kommt man da raus, gibt es Arbeitszeiten, Redakteure und etliche andere Korsette, in die man eingespannt wird. Aber wie man sich trotz dieser vielen Korsette mit einem gewissen Pragmatismus und einer spielerischen Leichtigkeit durch seinen Beruf bewegen kann, ist etwas, was man an all den Filmhochschulen noch nicht wirklich lernen kann. Das fehlt einfach. Und da ist jemand wie ich, der aus der Praxis kommt und in dem Beruf noch nicht aufgegeben hat, vielleicht nicht der schlechteste Inputgeber.