Josh Byer

Submission — Josh Byer

Ghosts Of The Lower Mainland

With his collection of British Columbian landscapes, Vancouver-based artist Josh Byer presents paintings that keep a secret: Each of them contains hidden images that become visible only when exposed to UV light. So they inform the viewer about the social, historical, or environmental context of the original composition.

8. Oktober 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Paintings: Josh Byer

English Bay In The Moonlight, mixed media on wood panel, 12” x 16”

The Owl Goddes, mixed media on cold press paper, 11” x 15”

An Abandoned Farm In Langley, mixed media on wood panel

Harrison Lake, mixed media on wood panel, 12” x 16”

Gabriola House No.3, mixed media on paper, 11” x 15”

Herons Above Stanley Park, mixed media on wood panel, 24” x 30”

Ironworkers Memorial Bridge No. 1, mixed media on wood panel, 12” x 16”

Ironworkers Memorial Bridge No. 2, mixed media on wood panel, 12” x 16”

Dead Man’s Island No.1, mixed media on wood panel, 12” x 16”


Tom Böttcher

Editorial — Tom Böttcher

Stilles Ensemble

Schauspieler Tom Böttcher ist nicht nur in der deutschen Film- und Fernsehwelt zuhause, sondern hat vor ein paar Jahren auch seine Liebe zur Fotografie entdeckt. Am liebsten portraitiert er Kolleginnen und Kollegen. Wir zeigen einige seiner nahbarsten Bilder.

27. September 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Fotografie: Tom Böttcher

Paul Boche

Johanna Polley

Alexander Sehan

Paul Boche

Kira Molter

Ingmar Böske

Sarah Schulze-Tenberge

Ludwig Simon

Justus Johanssen

Kira Molter

Kira Molter

Max Hegewald

Paul Boche

Justus Johanssen

Justus Johanssen

Paul Boche

Sarah Schulze-Tenberge

Justus Johanssen

Johanna Polley

Ludwig Simon

Zoë Valks


Simon Sumbert

Opinion — Simon Sumbert

#FreeCarola – und der Rest?

Ausgehend von den Ereignissen rund um die »Sea-Watch 3« nimmt Simon Sumbert, 21 Jahre alt und Mitglied des Freiburger Stadtrats, zu den »dringlichsten politischen und moralischen Aspekte der Geflüchtetenpolitik der Europäischen Union« Stellung – und appelliert für mehr Engagement und Humanität in der Gesellschaft.

21. September 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Text: Simon Sumbert, Fotos: Sea-Watch e.V.

Foto: Fabian Melber

»Ich will nicht auf Heldinnen und Helden hoffen müssen, damit ich mir sicher sein kann, dass die Europäische Union jedem Menschen sein Grundrecht auf Leben zugesteht.«

„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ [1]

„Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ [2]

Carola Rackete war vor ein paar Wochen in aller Munde. Die deutsche Kapitänin der „SeaWatch 3“ wurde von der italienischen Polizei auf Lampedusa festgenommen. Der offizielle Vorwurf lautete „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“. Dieser Vorwurf war rechtlich natürlich nicht zu halten, aber um all das geht es mir auch nicht. Vielmehr geht es mir darum, dass sich im Jahr 2019 in Deutschland, Europa und der sonstigen westlichen Welt Risse auftun, wo keine sein sollten, wo keine sein dürfen. Da, wo es um das elementarste Grundrecht eines jeden Einzelnen geht. Das Grundrecht auf Leben.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

Carola Rackete hat in einer konkreten Situation, als sie mit ihrer Crew und über vierzig aus dem Mittelmeer geretteten, erschöpften, teilweise suizidalen Geflüchteten unterwegs war, eine Entscheidung getroffen. Es war die Entscheidung, nicht länger zu akzeptieren, dass die Europäische Union mit ihren 500 Millionen Einwohner*innen und ihrem milliardenschweren Haushalt in 14 Tagen keine Lösung zur Aufnahme von 42 geflüchteten Menschen finden konnte. Eine Entscheidung, freiwillig ins Gefängnis zu gehen, weil sie ihre Crew und die Geretteten nicht weiter gefährden wollte. Carola Rackete ist zweifelsfrei eine Heldin. Für mich persönlich hat die Sache aber einen großen Haken:

Ich will nicht auf Heldinnen und Helden hoffen müssen, damit ich mir sicher sein kann, dass die Europäische Union jedem Menschen sein Grundrecht auf Leben zugesteht. Ich will Gesetze und Regeln und ich will, dass es nie wieder einen Riss in der europäischen Gesellschaft gibt, wenn es um die Frage geht, ob man Menschenleben retten soll oder auch nicht. [3]

Foto: Jon Stone

Das ist, glaube ich, nicht nur mein persönliches Ziel, sondern auch das von Carola Rackete und allen weiteren, vernünftigen Menschen, die etwas von den sogenannten europäischen Werten halten. Und dieses Ziel sollte auch verfolgt werden, wenn die Presse nicht voll von Berichten ist über eine deutsche, weiße Frau, die wegen ihres Engagements verhaftet wird.

Ich bin kein Held wie Frau Rackete, nicht einmal ansatzweise, aber ich weiß, dass der Weg zu diesem Ziel ein langer ist, der nur durch viel Bildungs- und Aufklärungsarbeit und klare Kante gegen menschenfeindliche Ideologien begehbar wird. Ich weiß auch, dass man das Erreichen dieses Ziels nicht nur an Fragen der Migrationspolitik messen kann.

Foto: Felix Weiss

Dennoch gibt es aktuell wohl kein besseres und gleichzeitig grausameres Beispiel für das, was passiert, wenn nicht zumindest mit allen Mitteln versucht wird, dieses Ziel zu erreichen: tausendfaches Sterben von Menschen im Mittelmeer in den letzten Jahren.

Tausendfaches, grausames, unvorstellbares Leid von Männern, Frauen und Kindern.

Als ich 13 Jahre alt war, habe ich das erste Mal passiv miterlebt, welche konkreten Auswirkungen politische Entscheidungen und der verallgemeinernde Umgang mit Geflüchteten für die Betroffenen haben. Seitdem engagiere ich mich ehrenamtlich und zeitweise auch hauptamtlich in verschiedenen Einrichtungen der Geflüchtetenhilfe in Freiburg. In dieser Zeit habe ich viele geflüchtete Menschen kennenlernen dürfen. Mit manchen habe ich mich überhaupt nicht verstanden. Mit manchen bin ich noch heute in Kontakt und befreundet. Manche zähle ich heute zu meiner Familie.

In jedem Fall habe ich in den letzten acht Jahren viele persönliche Erfahrungen gesammelt, zumindest sofern das aus meiner Perspektive möglich ist.

Foto: Fabian Melber

»Gerade beim Thema Geflüchtetenpolitik geht es vor allem um die Frage, ob wir wirklich nach den Werten leben und handeln wollen, auf die wir uns berufen und auf die wir stolz sind.«

Mit diesem Text will ich versuchen, jeden Menschen, der sich für eine humanere Geflüchtetenpolitik einsetzt, zu bestärken und zu unterstützen.

Gleichzeitig will ich auch versuchen, die Menschen, die sich bisher aus verschiedensten Gründen noch nicht an der Debatte beteiligen wollen oder können und keine Stellung beziehen, zu überzeugen, genau dies – mit einem faktenbasierten Grundwissen dazu – zu tun. Ich glaube nicht, dass es viele Zeitpunkte in der jüngeren Geschichte gab, in denen genau das wichtiger war.

Foto: Fabian Melber

Dafür möchte ich in folgendem Text meine Erfahrung, mein Wissen und meine Meinung zu den dringlichsten politischen und moralischen Aspekten der Geflüchtetenpolitik der Europäischen Union, ihren einzelnen Mitgliedsstaaten und ihren Konsequenzen erklären. Dazu gehören selbstverständlich sowohl die positiven als auch die negativen Seiten dieser Politik.

Gerade beim Thema Geflüchtetenpolitik geht es aber schlussendlich und vor allem um die Frage, ob wir wirklich nach den Werten leben und handeln wollen, auf die wir uns berufen und auf die wir stolz sind. Und das ist ultimativ immer eine moralische Frage.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

Foto: Sea-Watch e.V.

»Ein zentraler Bestandteil des Rechtsrucks in Europa in den letzten Jahren war das aktive, willentliche Verbreiten und das passive, naive Glauben von falschen Informationen im politischen Kontext.«

Die „Flüchtlingskrise“ – eine deutsche Geschichte

Deutschland ist heute ein tief gespaltenes Land. Die aktuelle Dekade wird als ein Jahrzehnt in die Geschichtsbücher eingehen, indem es Populisten, Nazis und Demagogen in Deutschland und europaweit geschafft haben, in Parlamente gewählt zu werden und zunehmend mehr Raum im gesellschaftlichen Diskurs einzunehmen.

Migrations- und Integrationspolitik ist definitiv nicht der alleinige Auslöser dieser traurigen Entwicklung. Sie ist viel mehr der Tropfen im berühmten übervollen Fass und gleichzeitig Katalysator dieser Entwicklungen. Ein zentraler Bestandteil des Rechtsrucks in Europa in den letzten Jahren war das aktive, willentliche Verbreiten und das passive, naive Glauben von falschen Informationen im politischen Kontext.

Ich denke, dass es essenziell wichtig ist, dass solchen „Fake News“ vehement entgegentreten wird. Der Trick an guten Lügen und „Fake News“ ist, dass oft nur ein kleiner Teil des Gesamtkontextes einer Situation ausgelassen oder geändert wird, sodass sich das wahrgenommene Bild einer Begebenheit komplett ändert, die Hintergrundgeschichte aber immer noch relativ plausibel erscheint. Um diese Lügen zu entkräften, muss man ebendiesen Gesamtkontext korrekt und anschaulich darstellen und klarmachen, wo genau entscheidende Details ausgelassen oder abgeändert wurden und das Gesamtbild verzerrt wird. Und auch, wo nicht.

Foto: Marcus Wiechmann

Die Geflüchtetenpolitik der letzten Jahre in Deutschland ist gescheitert, und zwar in den allermeisten Aspekten. Was bleibt, sind aktuell eine große Frustration und Resignation, sowohl bei vielen Menschen, die ihr Leben lang in Deutschland gelebt haben, als auch bei Geflüchteten. Ich halte es ganz grundsätzlich für falsch, nicht jeden Menschen als Individuum zu erachten und auch dementsprechend zu behandeln. Im Folgenden werde ich dennoch manches vereinfachen müssen und die äußerst heterogenen Gruppe von Menschen, die seit September 2015 nach Deutschland geflohen ist, ein Stück weit unter einen Hut stecken, um problematische und teilweise gefährliche Tendenzen ansprechen zu können, ohne dabei endlos auszuholen – und auch um jenen Menschen adäquat antworten zu können, die diese Verallgemeinerungen per se nutzen, um gegen Menschengruppen zu hetzen.

Foto: Marcus Wiechmann

»Die deutsche Verwaltung war mit der großen Anzahl an Geflüchteten komplett überfordert.«

In vielen exemplarisch genannten Politikbereichen entstehen Problematiken übrigens auch erst durch die konkrete Masse und nicht durch die einzelnen Individuen.

In Deutschland wurden seit Anfang des Jahres 2015 bis Mai 2019 1.704.837 Asylanträge gestellt, wovon 116.617 Asylfolgeanträge und 1.558.220 Asylerstanträge waren. Die damalige Entscheidung zur Aufnahme all dieser Geflüchteten hat Konsequenzen für quasi jeden einzelnen politischen und gesellschaftlichen Teilbereich der BRD.

Die deutsche Verwaltung war mit der großen Anzahl an Geflüchteten komplett überfordert. Dies lag – abgesehen von der schieren Anzahl an Menschen, die in Deutschland Asyl suchten – auch daran, dass vielerorts die Infrastruktur zur Aufnahme und Versorgung von geflüchteten Menschen, die in den 90er Jahren während der großen Konflikte in Osteuropa und der daraus resultierenden Fluchtmigration aufgebaut wurde, rund um die Jahrtausendwende nicht intakt gehalten oder sogar zurückgebaut wurde.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

Die bürokratische Überforderung führte indes nicht nur zu Schwierigkeiten im Bereich Verwaltung und Logistik, sondern auch zu sicherheitspolitischen Problemen und Risiken. Ab September 2015 bis September 2016 wurden jeden Monat mindestens 40.000 Asylanträge gestellt, die überwiegende Mehrheit davon Erstanträge. [4] Bei solch hohen Zahlen ist und war es den deutschen Sicherheitsbehörden nicht möglich, die Identität jedes einzelnen geflüchteten Menschen genau zu überprüfen. Das Resultat dieser Situation war wiederum, dass es durchaus eine ungewisse Anzahl an Menschen gab, die sich an deutschen und europäischen Grenzen als Geflüchtete und Schutzsuchende ausgegebene haben, in Wahrheit aber terroristische Anschläge planten und oft genug leider auch durchführten. [5] Diese Tatsache darf meiner Meinung nach niemals dazu führen, dass man in Deutschland Menschen mit berechtigtem Fluchtgrund nicht aufnimmt. Sie darf aber auch niemals verschwiegen werden.

In jedem Land, das Geflüchtete aufnimmt, werden die staatlichen Sozialsysteme dadurch beansprucht. In Deutschland erhält ein Mensch, dessen Asylantrag in Bearbeitung ist, aktuell das „Existenzminimum“ nach deutschen Standards. Dies bedeutet für einen alleinstehenden Menschen Regelleistungen zwischen 359 Euro im Monat nach dem AyslBLG, oder – nach Abschluss des Asylverfahrens oder dem Ende einer bestimmten Frist – eine monatliche Regelleistung im Rahmen des Hartz 4-Regelsatzes von 424 Euro pro Monat durch das zuständige Jobcenter. Zusätzlich wird zu beiden Regelleistungen natürlich noch die Unterkunft des Menschen bezahlt, solange sich die Kosten dafür nach den Standards der jeweiligen Kommune im angemessen Rahmen befinden. Außerdem werden für geflüchtete Menschen, deren Asylantrag anerkannt wird, auch sogenannte „Integrationskurse“ und diverse andere Bildungsangebote finanziert.

Foto: Erik Marquardt

»Die Aufnahme von geflüchteten Menschen darf in keinem Fall durch ein Kostenargument verhindert werden. Die Wahrung von Menschenrechten ist unbezahlbar.«

Nun kann man lang und breit und berechtigterweise über die Höhe und Angemessenheit dieses Existenzminimums und der Finanzierung der Integrationskurse etc. diskutieren. Dabei kann man dann zum Beispiel darauf hinweisen, dass aktuell immer mehr geflüchtete Menschen in Ausbildung und Arbeit finden und dass die daraus resultierenden Steuereinnahmen, wenn man diese Entwicklung stärker und effizienter politisch unterstützt, hoch genug sein können, um die aktuellen Ausgaben mittelfristig mindestens auszugleichen.

Ich persönlich möchte mich auf so eine Diskussion aber nicht einlassen, denn für mich steht fest:

Die Aufnahme von geflüchteten Menschen darf in keinem Fall durch ein Kostenargument verhindert werden. Die Wahrung von Menschenrechten ist unbezahlbar.

Die soziale Frage ist aber nicht auf die finanziellen Kosten beschränkt, denn es entstehen durch die Aufnahme von Geflüchteten auch zahlreiche andere gesellschaftliche Spannungsfelder. Der gefühlte Konsens, dass in Deutschland jeder Mensch Anrecht auf genügen Geld zum (Über-)Leben haben sollte, ist schwer zu vermitteln, wenn ein Mensch einen Großteil seines Lebens gearbeitet hat, in die Langzeitarbeitslosigkeit fällt und dann erfährt, dass er vom Staat dieselbe Unterstützung bekommen wird wie die geflüchteten Nachbarn, die seit einem Jahr in Deutschland sind.

Foto: Fabian Melber

Foto: Fabian Melber

»Die deutsche Wohnungs- und Bildungspolitik war in Teilen auch schon vor 2015 äußerst fragwürdig und steuerte geradewegs auf die aktuelle Situation zu.«

Ähnliche Situationen ergeben sich auch in der Wohnungs- und Bildungspolitik, denn natürlich hat der fluchtbedingte Zuzug von über 1,5 Millionen Menschen drastische Auswirkungen auf diese Bereiche und trägt zur aktuellen Lage, sprich Wohnungsnot und Lehrer*innenmangel bei. Auch hierbei ist es jedoch wichtig, immer wieder zu betonen, dass die Aufnahme von Geflüchteten diese Problematiken zwar verschärft, insbesondere wenn man die Demographie und durchschnittliche Geburtenrate der geflüchteten Menschen in Deutschland berücksichtigt. Sie ist aber auf keinen Fall die einzige Ursache oder auch nur der entscheidende Faktor dieser Probleme.

Menschen, die den Großteil ihres Lebens gearbeitet haben, verdienen meiner Meinung nach mehr als das nackte Existenzminimum, falls sie arbeitslos werden sollten. Die deutsche Wohnungs- und Bildungspolitik war in Teilen auch schon vor 2015 äußerst fragwürdig und steuerte geradewegs auf die aktuelle Situation zu. Geflüchtete werden in diesem Kontext zu oft als der alleinige Sündenbock gesehen.

Foto: Ruben Neugebauer

»Repressionen gegenüber Geflüchteten und im extremem Fall Abschiebungen gehen die Wurzel des Problems nicht wirklich an, sondern verlagern dieses bestenfalls.«

Abgesehen von der Nennung konkreter und schwieriger Sachverhalte durch die Aufnahme von so vielen geflüchteten Menschen, muss ich an dieser Stelle auch noch anmerken, dass es oftmals nicht nur politische und soziale Probleme sind, sondern auch kulturelle.

Zumindest persönlich habe ich erlebt, dass Antisemitismus, Rassismus, Frauenfeindlichkeit sowie Homophobie und Queerfeindlichkeit unter Geflüchteten weit verbreitet sind und auch aktiv weitervermittelt werden. Dies betrifft Geflüchtete untereinander, wenn sich beispielsweise in Geflüchteten-Wohnheimen Hierarchien nach der Herkunft der Menschen bilden, Frauen innerhalb der Familie häusliche Gewalt erleben, oder jüdische Spätaussiedler aus Russland vor der eigenen Zimmertür antisemitisch angefeindet werden. Vor allem aber richtet sich dieser Hass gegen jedes Mitglied unserer offenen Gesellschaft, insbesondere gegen Angehörige marginalisierter Gruppen. An dieser Tatsache gibt es nichts klein- oder schönzureden.

Repressionen gegenüber Geflüchteten und im extremem Fall Abschiebungen gehen die Wurzel des Problems aber auch nicht wirklich an, sondern verlagern dieses bestenfalls. Was wirklich hilft gegen Hass dieser Art, ist Aufklärungsarbeit und Bildung. Und zwar mit der Gießkanne. Und zwar schon ab der frühen Jugend, damit zumindest jedem Kind rassistischer, antisemitischer, sexistischer und homophober Eltern in Zukunft zumindest ansatzweise die Möglichkeit und das Wissen um Unterstützung vermittelt wird, das nötig ist, um sich von solchen Ressentiments und deren Umfeld loszusagen.

Foto: Marcus Wiechmann

»Schon der Weg nach Europa ist für die meisten Geflüchteten mit unzähligen, tödlichen Gefahren und Wagnissen gepflastert.«

„Flüchtlingskrise“ – eine Geschichte voller Ungerechtigkeit

Es gibt hunderte Probleme auf der Welt, die dadurch entstehen, dass Menschen nicht mehr in ihren Heimatländern leben wollen und können. Der aktuelle Umgang mit diesen Problemen verschlimmert diese aber mehr, als zu helfen. Im ersten Kapitel dieses Textes habe ich versucht, die Probleme der Aufnehmenden darzustellen. Aber zu jeder umfassenden Problemdarstellung gehören zwei Seiten und in der Politik eigentlich mindestens siebenundzwanzig.

Viele Geflüchtete in Freiburg sind beispielsweise aus Gambia geflohen. Ein Land, das laut der Einschätzung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge relativ sicher ist.

Ich habe einmal zu oft gehört, was Geflüchteten in Gambia, auf dem Weg durch Zentralafrika und die Sahara und in Europa passiert und wie mit ihnen überall auf der Welt umgegangen wird.

Foto: Marcus Wiechmann

Ich will versuchen, gemeinsame Punkte und Erlebnisse innerhalb dieser Biographien zu erzählen und zusammenzufassen. Denn genau durch diese Biographien habe ich gelernt, dass Migrationspolitik in Deutschland mindestens zwei Seiten hat und dass nicht nur die Aufnehmenden genug Gründe haben, sich zu beschweren.

Schon der Weg nach Europa ist für die meisten Geflüchteten mit unzähligen, tödlichen Gefahren und Wagnissen gepflastert. Gambier nennen den Weg über Zentralafrika und Libyen bis nach Italien und Deutschland gerne die „Backway-Route“.

Die Route führt durch Mali, Burkina Faso und Niger nach Libyen und von dort, wenn mensch viel Glück hat, nach Europa. Die Durchquerung und der Aufenthalt innerhalb dieser Länder als geflüchteter Mensch mit dunkler Hautfarbe sind eine Odyssee aus Misshandlungen, Korruption, Androhung von und durchgesetzte Gefangennahme und zahllosen weiteren Menschenrechtsverletzungen. Im schlimmsten Fall Folter, Vergewaltigung und Mord.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»Die Menschen fliehen nicht, um sich zu bereichern. Sie fliehen, weil Armut und Elend ihre Existenz so sehr bedrohen, dass eine lebensgefährliche Flucht nach Europa für sie den einzigen Ausweg aus einer verzweifelten Situation darstellen.«

In Deutschland nennt man Geflüchtete aus Gambia oft „Wirtschaftsflüchtlinge“.

Die Bezeichnung suggeriert meiner Meinung nach, dass es den Geflüchteten um einen finanziellen Gewinn oder einen tollen Job geht, wenn sie ihre Heimatländer verlassen. In Gambia lebt die Hälfte der Bevölkerung in extremer Armut, viele Kinder sterben noch bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichen. Ich habe für mich gelernt, dass der Begriff „Armuts-„ oder „Elendsgeflüchtete“ die Situation und die Gründe für Flucht aus Gambia deutlich besser beschreibt als „Wirtschaftsflüchtling“. Die Menschen fliehen nicht, um sich zu bereichern. Sie fliehen, weil Armut und Elend ihre Existenz so sehr bedrohen, dass eine lebensgefährliche Flucht nach Europa für sie den einzigen Ausweg aus einer verzweifelten Situation darstellen. [6] Ich glaube, auch Du würdest fliehen.

Foto: Nick Jaussi

Falls geflüchtete Menschen aus Gambia den ersten Teil ihrer Reise durch Zentralafrika, die Sahara, Libyen und die Fahrt auf dem Mittelmeer auf einem meist nicht wirklich seetauglichen Schlauchboot überleben (und sich die EU-Mitgliedsstaaten auf eine Verteilung der ankommenden Menschen geeinigt haben), erwartet sie eventuell der Aufenthalt in einer deutschen Landeserstaufnahmestelle, während über ihren Asylantrag verhandelt wird. Mitspracherecht über ihren neuen Wohnort haben die Geflüchteten dabei zumindest auf rechtlichem Wege nicht. Auch wenn ein geflüchteter Mensch in Paris Familie hat, die ihm eine Wohnung stellt und Stütze bei der Integration ist, spielt das keine Rolle, wenn in Bremen gerade ein Platz freigeworden ist und das BAMF meint, dass dort der richtige Platz für den Menschen sei. Aus Gründen.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»Gerade beim Sicherheitsdienst habe ich den Missbrauch solcher Macht auch persönlich viel zu oft miterlebt und mitbekommen. Konsequenzen gab es quasi nie.«

In diesen sogenannten LEAs oder Ankerzentren gibt es nur zu bestimmten Zeiten am Tag Essen, eine finanzielle Versorgung unter dem, was in Deutschland als Existenzminimum gilt und kaum Privatsphäre, da sowohl Polizei als auch die zuständigen Sicherheitsdienste unangekündigt und verdachtsunabhängig Zimmer kontrollieren dürfen. Gerade beim Sicherheitsdienst habe ich den Missbrauch solcher Macht auch persönlich viel zu oft miterlebt und mitbekommen. Konsequenzen gab es quasi nie. [7] Aus Gründen.

Auch in einer Sammelunterkunft, in die Geflüchtete nach dem Ablauf einer Frist oder Beendigung des Asylverfahrens überwiesen werden, sind die Bedingungen nur begrenzt besser, denn auch hier gilt: Jeder Person stehen 7qm zu, oftmals in einem Container, in dem es im Sommer ruhig mal 40 Grad Celsius hat. Das Bad und die Küche werden mit den Zimmernachbarn geteilt und wer diese sind, entscheiden oftmals weder die Sozialarbeiter*innen vor Ort, die die (soziale) Situation kennen, noch die geflüchteten Menschen selbst. Das entscheidet das Amt. Aus Gründen.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»Der durchschnittliche Prozess eines Asylverfahrens in Deutschland ist für Geflüchtete eine enorme bürokratische und emotionale Zumutung.«

Zu dieser Ausgangslage kommt noch hinzu, dass der durchschnittliche Prozess eines Asylverfahrens in Deutschland eine enorme bürokratische und emotionale Zumutung für Geflüchtete ist. Eine Zumutung in vier Akten.

Erstens: Die Basis für die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, welcher Aufenthaltsstatus einer geflüchteten Person zugewiesen wird, bildet ein Interview. In diesem Interview werden zunächst einige standardisierte Fragen wie beispielsweise nach dem Herkunftsland, der Adresse, Familie, Geburtstag der Person etc. gestellt. Anschließend wird der Person die Möglichkeit gegeben, sich frei zum Asylantrag und seinen Gründen zu äußern. Dieser Termin kann über die gesamte weitere Existenz der geflüchteten Person entscheiden. Angesichts dieser Tatsache ist es für mich erschreckend, dass es bei den Interviewterminen oftmals an professionellen Dolmetscher*innen und psychologisch geschulten Personal fehlt.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»Unter solchen Umständen wird kein 19-jähriger Junge aus Gambia davon erzählen, dass sein Vater ihn seit seiner Kindheit immer wieder vergewaltigt, geschlagen, zur Kinderarbeit gezwungen und schlussendlich aus ›Kostengründen‹ aus dem Haus geworfen hat.«

Manchmal müssen Geflüchtete sogar nahezu den ganzen Tag vor ihrem Interview in einem Warteraum ohne anständige Verpflegung verbringen, nachdem sie bereits früh morgens stundenlang zur Stadt gereist sind, in der das Interview stattfindet. Dies ist oft nämlich nicht die Stadt, in der sie leben – und ein konkreterer Termin als „ab 8.30 Uhr“ wird auch nicht genannt.

Unter solchen Umständen wird kein 19-jähriger Junge aus Gambia davon erzählen, dass sein Vater ihn seit seiner Kindheit immer wieder vergewaltigt, geschlagen, zur Kinderarbeit gezwungen und schlussendlich aus „Kostengründen“ aus dem Haus geworfen und auf den „Backway“ geschickt hat. Wahr sind solche Geschichten leider dennoch.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»Der gesamte Asylprozess rund um das Interview ist ein Sumpf aus Papierkram – für die Ämter und Geflüchteten gleichermaßen.«

Zweitens: Der gesamte Asylprozess rund um das Interview ist ein Sumpf aus Papierkram – für die Ämter und Geflüchteten gleichermaßen. Auf Bürokratie schimpfen ist zwar manchmal berechtigt, aber oftmals ist eine schriftliche Festmachung solcher Prozesse unabdingbar und hilft beiden Seiten. Um durch diesen Sumpf durchwaten zu können, braucht es aber entweder sehr gute, deutsche Sprachkenntnisse, die logischerweise nicht vorhanden sind, oder eine gute und ausreichende Betreuung durch Sozialarbeiter*innen für geflüchtete Menschen. In meiner hauptamtlichen Zeit in der Geflüchtetenhilfe in Freiburg schwankte der Betreuungsschlüssel „Geflüchtete Person zu Sozialarbeiter*in“ zwischen 85:1 und 130:1. Das schadet nicht nur den Geflüchteten, sondern auch den Sozialarbeiter*innen enorm.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»Die Zeit des Wartens und Hoffens bedeutet für geflüchtete Menschen Dauerstress und eine große emotionale Belastung.«

Drittens: Asylprozesse in Deutschland dauern zwischen wenigen Monaten und vielen Jahren. Das ist ein Problem, weil diese Zeit des Wartens und Hoffens für geflüchtete Menschen Dauerstress und eine große emotionale Belastung bedeutet – und weil sie auf diese Dauer nur schwer aushaltbar ist, besonders wenn gleichzeitig von den Menschen zurecht erwartet wird, sich gesellschaftlich zu integrieren. Ein viel größeres Problem ist die lange Dauer aber im Falle eines negativen Asylbescheids. Die Abschiebung einer Familie in den Kosovo, die zwei Wochen in Deutschland war, ist meiner Meinung nach an sich schon extrem grenzwertig, weil mit ihr fast immer menschliche Härten verbunden sind. Aber die Abschiebung einer Familie in den Kosovo, deren Kinder seit drei Jahren in den deutschen Kindergarten gehen, die Sprachen sprechen und in Fußballvereinen spielen, in denen sich ihre Eltern ehrenamtlich nach ihrer Arbeit engagieren, ist nicht nur komplett unlogisch. Es ist unmoralisch und grausam.

Foto: Fabian Melber

Viertens: Viele Asylprozesse in Deutschland führen teilweise zu falschen Ergebnissen. Es ist allgemein bekannt, dass es inoffizielle Leitlinie des BAMF ist, möglichst wenigen geflüchteten Menschen einen Aufenthaltsstatus zu gewähren. Rund ein Fünftel der ausgegebenen Asylbescheide, gegen die Einspruch erhoben wird, ignorieren das deutsche und das Menschenrecht und halten einer Klage der Geflüchteten nicht stand. [8] Das ist ein trauriger Höhepunkt deutscher „Abschreckungspolitik“.

Man muss dem BAMF lassen, dass sich die Situation in vielen Punkten, wie beispielsweise den Ort der Interviews und der Dauer der Asylprozesse in den letzten Jahren, sehr langsam, aber stetig auf den Weg der Besserung befand.

Foto: Fabian Melber

»Die bekannten Stigmata des ›Flüchtlings‹ und der strukturelle und gesellschaftlich inhärente Rassismus in Deutschland machen eine erfolgreiche Integration um einiges schwerer.«

Auch abseits des rechtlichen Asylprozesses trifft Geflüchtete in Europa oftmals im aufnehmenden Land die harte Realität, dass es zwar durchaus berufliche und gesellschaftliche Perspektiven gibt, diese aber mit vielen unheimlich frustrierenden „Abers“ und „Wenns“ verbunden sind.

Die Schulbildung der meisten ankommenden Geflüchteten reicht vergleichsweise selten aus, um eine echte Perspektive zu ermöglichen, die mehr als einen Vollzeit-Aushilfsjob beinhaltet. Und selbst wenn, ist nicht garantiert, dass das zuständige Amt die entsprechenden Zeugnisse und die damit verbundene Leistung zertifiziert und anerkennt.

Foto: Felix Weiss

Meine persönliche Erfahrung ist, dass die meisten Arbeitsmöglichkeiten für Geflüchtete dort entstehen und gefördert werden, wo entweder akuter Arbeitskräftemangel herrscht, oder in Arbeitsbereichen, für die sich kaum deutsche Staatsbürger*innen bewerben wollen.

Bevor ein C1-Sprachkurs gefördert wird, wird eine einjährige Ausbildung gefördert. Ich halte dieses Vorgehen für sehr kurzsichtig und ehrlich gesagt habe ich ein bisschen Angst, welche Dynamiken dies langfristig gesellschaftlich auslöst.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

Foto: Fabian Melber

»Ich bin mir sicher, dass der Anteil an Geflüchteten, die nicht den Stereotypen entsprechen, die immer wieder in Medien oder am Stammtisch repliziert werden, chronisch unterschätzt wird.«

Die bekannten Stigmata des „Flüchtlings“ und der strukturelle und gesellschaftlich inhärente Rassismus in Deutschland machen eine erfolgreiche soziale und wirtschaftliche Integration natürlich auch um einiges schwerer. Offensichtlich sind nicht alle Stereotypen und Stigmata per se ganz unbegründet. In Freiburg beispielsweise ist der Anteil an gambischen Drogendealern im Vergleich zum Durchschnitt sehr hoch – und für diese Erkenntnis braucht man wirklich kein*e ausgebildete*r Kriminolog*in sein. Der Punkt dabei ist aber, dass ein Stereotyp des „drogendealenden Gambiers“ in Freiburg entsteht, bei dem a) jegliche sozialen Faktoren außer Acht gelassen werden und sich nur auf die Nationalität/Hautfarbe konzentriert wird. und dass b) allen Gambiern und gambisch aussehenden Menschen in Freiburg dadurch geschadet wird. Insbesondere denen, die mit Drogenhandel überhaupt nichts zu tun haben. Ich persönlich bin mir sicher, dass der Anteil an Geflüchteten, die nicht den Stereotypen entsprechen, die immer wieder in Medien oder am Stammtisch repliziert werden, chronisch unterschätzt wird. Falls ich damit Recht habe, ist das tragisch. Und gefährlich.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»Psychisch kranke und labile Menschen werden in Länder wie Afghanistan abgeschoben. Horst Seehofer konnte an seinem 69. Geburtstag darüber lachen.«

Die deutsche Regierung hat aufgrund von Stereotypen und der gesellschaftlichen Stimmung, die auf ihre Verbreitung folgt, einen Weg eingeschlagen, der dazu führt, dass viele komplett unschuldige geflüchtete Menschen kaum mehr eine Chance haben, ihre Familien aus Kriegsgebieten nach Deutschland nachzuholen. Ein Weg, der dazu führt, dass psychisch kranke und labile Menschen in Länder wie Afghanistan abgeschoben werden. Horst Seehofer konnte an seinem 69. Geburtstag darüber lachen. Jamal Nasser M. wird nie mehr lachen.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»Eine grundlegende Verbesserung der Lebensrealität von Geflüchteten fängt weder bei der Seenotrettung an noch hört sie dort auf.«

Die Geschichte von Dilemma und Dialog

Ich habe mir selbst einmal versprochen, dass ich als politischer Mensch keine einfachen, verkürzte Antworten auf komplizierte Fragestellungen geben will. Und die Frage, was sich an Migrationspolitik ändern muss, um jedem Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, ist aktuell vielleicht die komplizierteste politische Frage, die man sich stellen kann.

Auf diese Frage gibt es nicht die eine kohärente, logische Antwort.

Foto: Erik Marquardt

Klar ist, dass eine grundlegende Verbesserung der Lebensrealität von Geflüchteten weder bei der Seenotrettung anfängt noch aufhört. Es muss es endlich vernünftige und angepasste Entwicklungshilfeprogramme ohne diplomatische Hintergedanken in den Herkunftsländern geben. Genauso müssen auch Menschenrechtsverletzungen innerhalb von Europa und die menschenunwürdigen Bedingungen in vielen Sammelunterkünften angegangen werden. Genauso muss jegliche Kooperation mit Fluchtverursachern gestoppt werden, auch wenn diese wirtschaftlich verlockende Waffendeals möglich machen. Die Liste könnte an dieser Stelle noch sehr viel länger weiter gehen.

Foto: Marcus Wiechmann

»Der gesellschaftliche Dialog ist an Unsachlichkeit und Hass erkrankt. Das wird im Netz besonders sichtbar.«

Ein Punkt, der unter all diesen Problemfeldern viel zu selten angesprochen wird, ist, wie sehr der gesellschaftliche Dialog an Unsachlichkeit und Hass erkrankt ist. Das wird im Netz besonders sichtbar.

Viel zu oft kann man dort, oftmals unwidersprochen, Thesen lesen wie:

„Wenn wir die Menschen im Mittelmeer retten, dann werden immer mehr Menschen versuchen, übers Mittelmeer zu fliehen.“ (Ganz abgesehen von der menschenverachtenden Logik dieses Arguments ist der sogenannte „Pull-Effekt“ eine populistische, unwissenschaftliche Erfindung. [9])

„Es kommen immer nur junge, afrikanische Männer hier nach Deutschland, die ihre Familien zuhause im Stich lassen.“ (Im Jahr 2019 wurden 43% aller Asylanträge von Frauen* und 45% von/für Kindern unter 16 Jahren gestellt. [10])

„Warum bringen sie die Geretteten nicht wieder zurück nach Nordafrika? Dort sind die wirklich nähergelegenen sicheren Häfen.“ (Die meisten Geflüchteten werden einige Seemeilen von Tripolis entfernt in internationalen Gewässern auf Rettungsschiffe aufgenommen. Die nächstgelegenen Häfen sind von dort aus fünf tunesische Häfen, die allesamt mitten in der Wüste liegen und weder über die rechtlichen Voraussetzungen noch über die Infrastruktur verfügen, um die Geretteten unter menschenwürdigen Umständen aufnehmen zu können. Danach kommen die Häfen in Lampedusa und Malta.)

Foto: Fabian Melber

»Niemand wird die ›Flüchtlingskrise‹ als Einzelperson lösen können. Zu widersprechen, wenn leise Rechtsradikale Gerüchte und Unwahrheiten über Menschen mit Fluchthintergrund und nicht-weißer Hautfarbe verbreiten, halte ich trotzdem für einen sehr guten Anfang.«

Auch an dieser Stelle könnte die Liste leider noch sehr lange weitergehen. Die Folgen dieses erkrankten Dialogs spüren übrigens nicht nur geflüchtete Menschen (weil offener, struktureller und auch leiser, verdeckter Rassismus immer salonfähiger in Deutschland wird), sondern auch all diejenigen, die sich für Sachlichkeit und Menschlichkeit diesbezüglich einsetzen. Zu diesen Menschen zähle ich auch Walter Lübcke.

Niemand wird die „Flüchtlingskrise“ als Einzelperson lösen können. Dazwischen zu gehen und zu widersprechen, wenn leise Rechtsradikale Gerüchte und Unwahrheiten über Menschen mit Fluchthintergrund und nicht-weißer Hautfarbe verbreiten, halte ich trotzdem für einen sehr guten Anfang. Und dabei kommt es auf jeden einzelnen Menschen an.

Foto: Marcus Wiechmann

»Es gab nicht viele Zeitpunkte in der jüngeren Geschichte, in denen es wichtiger war aufzustehen, politisch zu werden und sich zu wehren gegen jeden Versuch, menschenfeindliche Ideologien wieder gesellschaftsfähig zu machen.«

Die Moral von den Geschichten

Dieses ist das entscheidende Kapitel meines Textes. Ich habe in allen vorhergehenden Zeilen versucht, die aktuelle Situation aus Sicht einer einundzwanzigjährigen deutschen Kartoffel zu schildern, die vielleicht ein paar mehr ausländische Freunde mit Fluchthintergrund und Erfahrung im politischen Bereich hat als der Durchschnitt.

Doch warum das alles?

Zu Beginn dieses Textes habe ich geschrieben, dass ich glaube, dass es nicht viele Zeitpunkte in der jüngeren Geschichte gab, in denen es wichtiger war aufzustehen, politisch zu werden und sich zu wehren gegen jeden Versuch, menschenfeindliche Ideologien wieder gesellschaftsfähig zu machen.

In den letzten Jahren habe ich durch mein Engagement und meine persönliche Verbundenheit mit vielen geflüchteten Menschen einen Einblick bekommen, was passiert, wenn zu viele Menschen sich entschließen, Verstöße gegen die internationalen Menschenrechte zu ignorieren, zu rechtfertigen oder sogar zu unterstützen.

Foto: Marcus Wiechmann

»Die allermeisten deutschen Menschen haben das Glück, dass man in ihrem ganzen Leben wahrscheinlich niemals ihre Menschenrechte auch nur annähernd so grundlegend verletzen wird, wie das bei geflüchteten Menschen der Fall ist.«

Menschenrechtsverletzungen. Das ist ein Wort, dass man oft in den Nachrichten hört und das zu vielen Menschen zu locker über die Lippen geht.

Die allermeisten deutschen Menschen, inklusive mir, haben das Glück, dass man in ihrem ganzen Leben wahrscheinlich niemals ihre Menschenrechte auch nur annähernd so grundlegend verletzen wird, wie das bei geflüchteten Menschen der Fall ist.

Der Auslöser meines persönlichen und politischen Engagements in der Geflüchtetenhilfe war immer der direkte Kontakt.

Persönlich, weil ich durch mein Engagement mit die liebsten Menschen in meinem Leben kennengelernt habe und es mir einfach unglaublich viel Freude bereitet, Zeit mit ihnen zu verbringen.

Politisch, weil ich ihr Leid gesehen habe und sehe und nichts tun konnte, außer dumm daneben zu stehen und zu versuchen, ein bisschen Trost zu spenden.

Foto: Marcus Wiechmann

»Am Telefon erzählt ihm seine Frau, dass sie von einer Miliz gefangen genommen wurde und täglich gefoltert und vergewaltig wird.«

Was bedeuten Menschenrechtsverletzungen?

Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass ein guter Freund von mir aus Eritrea in einem deutschen Flüchtlingswohnheim von einer unbekannten Nummer angerufen wird. Am Telefon erzählt ihm seine Frau, dass sie von einer Miliz gefangen genommen wurde und täglich gefoltert und vergewaltig wird. Und dass alles nur aufhören wird, wenn ein Lösegeld gezahlt wird, das mein Freund nicht in kurzer Zeit zahlen kann.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass ich diesen Freund verzweifelt weinen und innerlich zerbrechen sehe, weil er weiß, was das alles bedeutet, und sich selbst die Schuld daran gibt.

Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass man suizidale, an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidende Menschen zwingt, sich mit einem unbekannten Menschen ein 14qm großes Zimmer zu teilen, weil ihr Einzelzimmerantrag vom Amt abgelehnt wurde.

Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass der Vater eines Arbeitskollegen in seiner Wohnung in Syrien an Bombensplittern stirbt, weil sich der Familiennachzug trotz bestmöglichen Aufenthaltsstatus über Monate und Jahre hinzieht.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»In Libyen werden Männer wie Frauen aufs Brutalste eingesperrt, wie Sklaven an den Höchstbietenden verkauft, gefoltert und vergewaltigt.«

Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass ehrenamtlich Engagierten von verzweifelten Menschen Geld angeboten wird, dass sie nicht besitzen, um Familienmitglieder legal oder illegal ins sichere Deutschland zu bringen.

Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass ungeborene Kinder in Libyen oder auf dem Mittelmeer wegen mangelnder medizinischer Versorgung sterben, dass Männer wie Frauen in Libyen aufs Brutalste eingesperrt, wie Sklaven an den Höchstbietenden verkauft, gefoltert und vergewaltigt werden.

Ich habe all diese Geschichten und die Gesichter dazu viel zu oft persönlich erzählt und bewiesen bekommen. Oder sie miterlebt. Mir reicht es.

Ich will keine einzige Narbe mehr aus Afghanistan, keine einzige Träne aus Gambia, keine einzige Sorgenfalte aus Syrien mehr sehen, ohne diesen Menschen sagen zu können, dass sie jetzt in Sicherheit sind und sie keine Angst mehr haben müssen – und dabei ehrlich zu sein. Ich will nie wieder hören, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken, weil die EU nicht helfen will.

Foto: Marcus Wiechmann

»In einer funktionierenden Demokratie sind alle Menschen Politker*innen – wenn sie es wollen.«

Ich glaube, ich bin aktuell zum ersten Mal in meinem Leben in der Position, in der ich zumindest einen minimalen Beitrag dazu leisten kann, dass der Tag kommt, an dem ich mir selber diesen Wunsch erfüllen kann. Und ich habe hiermit versucht, genau das zu tun.

In einer funktionierenden Demokratie sind meiner Meinung nach alle Menschen Politker*innen – wenn sie es wollen.

Das solche Dinge auf unserer Welt passieren, im Mittelmeer, in Libyen und in Deutschland, das ist die Schuld all jener, die sich für eine Politik aussprechen, die nicht jedem Menschen ein Grundrecht auf ein Leben in Sicherheit und Freiheit zugesteht. Es ist aber auch die Schuld all jener, die sich nicht gegen diese Menschen stellen. Und die schweigen im Angesicht solcher Grausamkeit.

Bitte hör auf zu schweigen, wenn Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in Deutschland wieder auf dem Vormarsch sind. Es geht um alles.

Dein Simon


Sam Fender

Interview — Sam Fender

Some Reason To Believe

With »Hypersonic Missiles,« British singer-songwriter Sam Fender has just introduced an energetic, soulful and wise debut album to the world. We talked with him about archaic patterns, real beauty, and the reason why many people are »so blissfully unaware of everything.«

13. September 2019 — MYP N° 26 »Style« — Interview: Jonas Meyer, Photography: Maximilian König

When Bruce Springsteen played a show in Pittsburgh on September 22, 1984, he dedicated his song “The River” to union steelworkers in Pennsylvania who, at that time, were fighting for better wages and working conditions.

Springsteen said: “There’s something really dangerous happening to us out there. We’re slowly getting split up into two different Americas. Things are getting taken away from people that need them and given to people that don’t need them, and there’s a promise getting broken. In the beginning, the idea was that we all live here a little bit like a family, where the strong can help the weak ones, the rich can help the poor ones. I don’t think the American dream was that everybody was going to make it or that everybody was going to make a billion dollars, but it was that everybody was going to have an opportunity and the chance to live a life with some decency and some dignity and a chance for some self-respect. So I know you gotta be feelin’ the pinch down here where the rivers meet.”

Reading his words today, we wonder if anything has really changed in the last 35 years. And to be honest, it seems even worse today. Climate change is real, the crisis of democracy is real, the repression of truth by “alternative facts” is real. And to top it all off, the world seems to have become a playground for a league of elder men who take pleasure in competing with their egos. At least one of them can be found on every continent, in every country—even in the United Kingdom, where something known as “British understatement” was once created.

But here comes the good news—virtues like decency, sincerity, and reflectiveness aren’t dead. They’re only drowned out by those who are permanently screaming and shouting in public, on TV or on Twitter. We have to listen more closely to those who really have something to say—like Sam Fender. The singer-songwriter from North East England became visible to much of the world two years ago when he published “Play God,” a true earworm of a song that branded him as energetic, soulful and wise.

One year later, Sam gave us “Dead Boys,” a powerful yet heartbreaking piece of music where he talks about the frighteningly high suicide rate of young men in the U.K. The issue is personal for Sam, as he has also lost some friends who decided to take their lives.

With Hypersonic Missiles, Sam Fender has now presented his very first album—including a song of the same name which deals with the threat of war. This record not only shows where the young man stands musically, but it’s also a status quo description of the world out there. We met him one day before his 25th birthday for an interview.

Oh, by the way: On April 25, 1996, when Sam Fender was born, Bruce Springsteen played a concert on British ground, at Brixton Academy in London. It is said that they heard the music as far as North East England.

»When I was a kid, I felt very claustrophobic in my hometown and I thought making music was kind of an unrealistic idea.«

Jonas:
A couple of weeks ago, you were a guest on the German TV show Aspekte. You told the host Jo Schück that you just try to write songs from the perspective of a 24-year-old that grew up in North East England. What kind of perspective is that exactly?

Sam:
I’m born and raised in North Shields which is a very blue-collar town. It’s a place for working-class people—a little crazy, but pretty normal in general. When I was a kid, I felt very claustrophobic there and I thought making music was kind of an unrealistic idea. I was very lucky to be discovered by my manager at a time when nobody was caring about me or my career. So, what’s my perspective? I mean, I’m from there, I come from a place that is not the cultural hub of the world and that is predominantly white. There aren’t many other ethnicities in my hometown which is crazy. When I was in London for the very first time as a kid, everything felt more than amazing. Compared to the rest of England, London is very different…

Jonas:
… like Berlin compared to the rest of Germany.

Sam:
Exactly, that’s the thing. The area I come from isn’t densely populated, there are just a few thousand people living in my hometown. My perspective on everything I’m singing about is defined by that—which means I can only say what I know. And that’s probably not very much because I’m only 24 and I’m just trying to absorb as much as I can. When you listen to the songs on my album, you’re going to see that most of them are coming from me as an actual person. But there are other songs as well that are not written from the perspective of a 24-year-old, I created them from the perspective of a character. “Hypersonic Missiles,” for example, is one of those songs.

»There’s a lot of ignorance in the world. And to be honest, I’m ignorant to myself.«

Jonas:
I learned that, at the time that you wrote “Play God” a few years ago, you were very anxious about the future and feeling paranoid. Are you still that anxious today?

Sam:
Yeah, definitely. We’re in a very dangerous place politically, we’re in a very dangerous place economically in the U.K., and we’re in a very dangerous place environmentally. There’s a lot of ignorance in the world. And to be honest, I’m ignorant to myself. Somehow, it switched off, but the reality is that there’s only like ten years left that we have to make change in the environment—or the damage is going to be irreversible. This planet will collapse, our species will die. The human race won’t be able to sustain itself if we don’t make some big changes in the next ten years.

»We’re in a place now where we urgently need change. Immediately.«

Jonas:
Do you think we will be able to avert the catastrophe?

Sam:
I don’t really know. I don’t trust that our government is going to change anything. I don’t trust that, when you’ve got someone like Trump at the head of the United States, anyone is going to change anything. I mean, this guy doesn’t even believe that climate change is real. He completely denies its existence. And there are thousands and thousands of people who follow him. He’s very open to all that fuckin’ coal shit and is interested in keeping all the fossil fuel factories running.

I come from a town which is built on fossil fuel, a town where the industry is thriving on coal mines and all the other stuff that’s not good for the environment. That’s the reason why I understand what it is when politicians or others say that they’re just trying to save jobs. These industries are giving people work, that’s understandable. And for sure, I personally would be very happy if the mines could be kept open just so people would not lose their work. When all the shipyards in my area were closed in the 1980s, thousands of men lost their jobs, some even committed suicide because they didn’t see a way out. My dad and all my uncles were working there, I totally understand the arguments because I grew up in a world that had seen the effects of industry closing down. But the big problem is: It’s not going to sustain. We’re in a place now where we urgently need change. Immediately. We need to do everything we can to stop what is happening right now before our eyes. Or the world is done.

»While we praise the technology for the fact that it gave us Netflix, it enables, on the other hand, the rise of right-wing movements in the U.S., the U.K. and everywhere else in the world.«

Jonas:
In “Hypersonic Missiles” you sing “I am so blissfully unaware of everything,” and in the accompanying music video you show how young people of your age literally don’t care. That’s a behavior pattern that doesn’t seem so unfamiliar to most of us, to be honest. Why are so many people “so blissfully unaware of everything?”

Sam:
Because of damn reasons—because of that little thing (points his finger at his smartphone). We’ve got every piece of media on the planet in it, and our entire life is in it too: our work, our family, our friends, our music, absolutely everything. We can do whatever we want with it. Online. We fuck this little device up that we can live our life through. Even the head of the United States, the biggest power on the planet, needs this little machine to spread his racist messages to the world. And while we praise the technology for the fact that it gave us Netflix, it enables, on the other hand, the rise of right-wing movements in the U.S., the U.K. and everywhere else in the world—thanks to people like Donald Trump or Nigel Farage.
But what do I do? But what do I really do, personally? Instead of protesting in front of 10 Downing Street, I’m signing some online petition on my phone which goes to the parliament and then directly to the bin—and nobody talks about it anymore. I’m also a hypocrite. I’m just as ignorant, lazy and politically inactive.

»What we need is a government that is engaged with the new generation.«

Jonas:
But you’re writing wise and encouraging songs…

Sam:
Yeah, but I’m not clever enough to lead any social charge, I’m not smart enough to challenge the political leaders of the world. I don’t know enough about economics or all the other topics to actually have an intellectual debate. I would get destroyed. Even Nigel Farage would publicly destroy me, would destroy us.
What we do need is a government that is engaged with the new generation. Brexit was voted for by the old, as well to continue with fossil fuels or to force fracking technologies. We need to engage the new generations to finally have an environmentally conscious government which we don’t have yet. This ten-year forecast is fact, that’s absolutely terrifying. But do you see anyone getting annoyed? Do you see anyone kicking up the vibe?

»Gym memberships are the new cocaine. But, in our world, it has always been about that.«

Jonas:
In the first seconds of the “Hypersonic Missiles” video, you can see a tiny sticker on the clapperboard with the words “You are beautiful” written on it. Is the problem of today’s Instagram society that being beautiful is the only thing that really counts?

Sam:
Potentially. There’s definitely a massive influx in physical health and things like that. Everyone is at the gym now, everybody is really good-looking. Gym memberships are the new cocaine. But, in our world, it has always been about that. The difference with today is: We’ve now got devices where we can talk to everybody and see everybody all the time. All of our friends can permanently post really good-looking photos of themselves, so everybody creates this facade. And to be honest: I’m addicted to it too.

»There are people who bring actual beauty to the world. My godfather is one of them.«

Jonas:
What’s your personal definition of the term beauty? Where do you find real beauty in your life?

Sam:
In goodness and kindness—these are the most beautiful things I’ve ever experienced. I’m not mentioning me, I’m a selfish prick. I’m talking about people who are genuinely selfless, who go out day by day just to do things for others. These people bring actual beauty to the world. My godfather is one of them. He would literally do anything for anybody. So many people go to him for advice or help. He’s just a normal guy who works in a normal job, but he’s the most straight-down-the-line guy. He’s very active in politics because he’s interested in creating a better future for his children. The only thing he cares about is his kids and helping others out. And he cares about me. He is the ideal of beautiful for me.

»If you ram enough hatred down the throats, people start to believe it.«

Jonas:
There are people that don’t see any beauty, and sometimes, when there’s only darkness left, they decide to take their lives. Last year you released a song called “Dead Boys” that is dealing with the sad phenomenon of so many young men committing suicide in the U.K. That’s a tragedy you also personally experienced in your hometown—you lost a couple of friends who grew up with you. Why is there such a big silence in our society about that topic? Do we need a different definition of “being a man” to reduce the suicide rate?

Sam:
There are a lot of things out there that still exist due to archetypes that have been held on for centuries. We still think it’s bullshit for boys to cry. We still try to emasculate them by saying “Don’t be a fag!” or “Don’t be a little girl!” And simultaneously we accuse others to be sexist. Isn’t that ridiculous?

I spent an entire life around that kind of bullshit bravado that people haven’t got rid of. If you’ve got people like Piers Morgan on daytime TV spitting hatred all day long, or people like Katie Hopkins, nothing changes. We’re not going to have any change until these old archaic cunts fuck off. These people talk to the general public every day—and the audience eats up everything they say.
That’s the whole point on media, with any piece of it we digest, even with music. Music isn’t played on the radio because it’s popular. It’s played there to make it popular. I’m not popular because lots of people like what I do, I’m popular because the radio stations rammed my songs down people’s throats until they are going to stop liking it. That’s how it is with every piece of media. If you ram enough hatred down the throats, people start to believe it. It’s very frustrating and I don’t have any idea how to change it.

»When Bruce Springsteen talks about his own town, it sounds like he would talk about mine.«

Jonas:
Let’s talk about Bruce Springsteen—an artist whose songs, on the radio, have been rammed down people’s throats for decades, as you would say. He seems to be a big inspiration to you. What does his music mean to you?

Sam:
Bruce Springsteen is from a very blue-collar town with a lot of industry, just like me. When he talks about his own town, it sounds like he would talk about mine. There’s a song called “Born To Run” with the lines “Beyond the palace, hemi-powered drones / Scream down the boulevard / The girls comb their hair in rearview mirrors / And the boys try to look so hard”—that is a hundred percent my hometown. And, besides that, he’s the fuckin’ god of music. I love his album The River, I love Darkness On The Edge Of Town, and I love Nebraska, especially the song “Reason To Believe.”

Jonas:
A pretty melancholic Springsteen album…

Sam (smiles and starts singing the song’s refrain):
“Still at the end of every hard day, people find some reason to believe.”


Jonas Gülden

Editorial — Jonas Gülden

Andersartige Betrachtungsweise

Die einen finden Barcelona eindrucksvoll und außergewöhnlich, die anderen halten die Stadt für trist und nicht anziehend. Dabei hat Barcelona viele schöne Ecken, man muss sie nur finden – und die Stadt abseits der bekannten Tourismusattraktionen erkunden.

10. September 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Fotografie & Text: Jonas Gülden


Tom Hegen

Editorial — Tom Hegen

Toxic Water

Mit seiner »Toxic Water«-Serie dokumentiert Fotograf Tom Hegen die Auswirkungen des Braunkohleabbaus auf das Grundwasser, das sich dadurch absenkt und schließlich verfärbt.

4. September 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Fotografie & Text: Tom Hegen

Tom Hegen beschäftigt sich in seiner Fotografie mit dem starken Einfluss des Menschen auf die Umwelt. Mit Hilfe von Luftbildaufnahmen gelingt ihm eine besondere Abstraktion und Ästhetisierung der Natur – oder dessen, was davon übrig ist.

Die hier gezeigten abstrakten Landschaften dokumentieren die Folgen des Braunkohleabbaus. Durch die Absenkung des Grundwassers kommen Mineralien wie Pyrit oder Markasit mit Sauerstoff und Wasser in Kontakt. In der Folge bilden sich Eisenhydroxid und Sulfat, die zu starken Verfärbungen des Wassers führen.


Tom Hegen

Editorial — Tom Hegen

Zwei Grad Celsius

Fotograf Tom Hegen beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit dem starken Einfluss des Menschen auf die Umwelt. Mit Hilfe von Luftbildaufnahmen gelingt ihm eine besondere Abstraktion und Ästhetisierung der Natur – oder dessen, was davon übrig ist. Seine „Zwei Grad Celsius“-Serie zum Beispiel dokumentiert die Auswirkungen der globalen Erwärmung auf den arktischen Eisschild.

31. August 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Fotografie & Text: Tom Hegen

Unter zwei Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau – das ist das vereinbarte Ziel, das 2015 im Rahmen des Pariser Klimaabkommens von 197 Ländern unterzeichnet wurde, um die globale Erderwärmung zu begrenzen und katastrophale Folgen des Klimawandels zu vermeiden. Weltweit ist die durchschnittliche Oberflächentemperatur bereits auf ein Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit um 1880 angestiegen – die Hälfte der kritischen Grenze ist bereits erreicht. Wie sehen die Folgen dieser Erwärmung genau aus?

Floating Ice: Treibende Eisscholle mit abgebrochenen Stücken in einem Schmelzwassersee auf dem arktischen Eisschild.

Der globale Meeresspiegelanstieg wird eine der größten ökologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sein. Eine der Hauptursachen für diese Entwicklung ist das Abschmelzen von Gletschern und Eisplatten. Allein der grönländische Eisschild enthält genug Wasser, um den weltweiten Meeresspiegel um mehr als sieben Meter zu erhöhen. Zusätzlich zum Schmelzwasser dehnt sich das Meer auch durch die höheren Temperaturen aus, was den Meeresspiegel noch weiter ansteigen lässt.

Folds: Der Rand des Eisschildes, wo sich das Eis langsam über einen Gletscher in Richtung Ozean bewegt.

Flow I: Schmelzwasser strömt über das Eis, dringt in das Eis ein und fließt stromabwärts in den Ozean.

Flow II: Flusssysteme aus Schmelzwasser überziehen die Oberfläche des grönländischen Eisschildes.

Die Arktis ist der sich am schnellsten erwärmende Ort unseres Planeten und liefert den ersten Hinweis darauf, wie sich der Klimawandel auf das Ökosystem der Erde auswirkt. Der grönländische Eisschild bedeckt etwa 82 Prozent der Oberfläche Grönlands. Die Oberfläche dieses Eisschildes ist jedoch keine durchgehende Eisdecke, vielmehr ist sie – ähnlich wie ein Schweizer Käse – bedeckt mit Tausenden von saisonalen Flüssen und Seen, durch die Schmelzwasser über das Eis fließt, in das Eis eindringt und schließlich im Meer mündet.

Flow III: Schmelzendes Eis aus der Arktis trägt wesentlich zum weltweiten Anstieg des Meeresspiegels bei.

River Systems: Die Oberfläche des Eisschildes ist bedeckt mit Tausenden
von Flüssen und Seen, die über ein komplexes hydrologisches System miteinander verbunden sind.

Meltwater Pools I: Schmelzwasserbecken in Gletscherspalten, die durch Ausdehnung des Eisschildes erzeugt werden.

Meltwater Pools II: Schmelzwasserbecken in Gletscherspalten, fotografiert aus 1.100 Metern Höhe.

Das Schmelzen der Eisoberfläche beeinflusst auch, wie viel Sonnenenergie von der Eisdecke reflektiert wird – bekannt als der Albedo-Effekt: Die strahlend weiße Oberfläche des Eises reflektiert den größten Teil der Sonnenenergie. Schmelzendes Eis deckt dunkles Land, Wasser oder Meer unter sich auf, das zu mehr Absorption von Sonnenlicht und damit zu noch mehr Erwärmung und folglich einem schnelleren Schmelzprozess führt. Ein Teufelskreis mit ernsthaften Auswirkungen für Wetter und Ökosysteme.

Sinkhole: Ein Schmelzwassersee auf dem grönländischen Eisschild. Über Gletschermühlen dringt das Schmelzwasser in das Eis ein.

Floating Giant: Manche dieser Seen haben einen Durchmesser von mehr als einen Kilometer.

Meltwater Lake I: Das dunkelblaue Wasser absorbiert mehr Sonnenlicht als weißes Eis, was zu mehr Erwärmung und somit zu einem noch schnelleren Schmelzvorgang führt.

Meltwater Lake II: Die verstärkte Erwärmung durch Schmelzwasserseen wird als Eis-Albedo-Rückkopplung bezeichnet.

Der globale Meeresspiegel wird sich bis zum Ende dieses Jahrhunderts voraussichtlich auf mehr als 60 Zentimeter erhöhen, was weitreichende Folgen für große Teile der Weltbevölkerung haben wird. Die „Zwei Grad Celsius“-Serie dokumentiert die Auswirkungen der globalen Erwärmung, die hauptsächlich durch menschliche Aktivitäten auf der Erde verursacht wird.

Rugged I: Aufgebrochene Ufterkante mit Eisschollen in einem See auf dem arktischen Eisschild.

Rugged II: Das kristallklare Wasser macht die Strukturen am Seegrund deutlich sichtbar.

Wave: Der grönländische Eisschild allein enthält genug Wasser, um den weltweiten Meeresspiegel um mehr als sieben Meter zu erhöhen.

Vanishing Surface: Die Eisschmelze in der Arktis findet in den Sommermonaten zwischen Juni und September statt.

Opal Blue I: Im Winter frieren die Seen wieder zu einer geschlossenen Decke zu.

Opal Blue II: Risse in einem zugefrorenen See in der Arktis, fotografiert aus 900 Metern Höhe.

Shoreline: Riesige Eisschollen treiben am Ufer eines Schmelzwassersees.


Smatka

Portrait — Smatka

Schönheit, frei von Konventionen

Nach einer Dekade wilden Lebens in London ist Sängerin Smatka zurück in Berlin. Im Gespräch erzählt sie uns von ihrem Debütalbum »Eden« und verrät, warum sie in Kitsch und skurrilen Gedanken an den Tod kreative Sicherheit findet.

27. August 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Text: Katharina Weiß, Fotos: Ansgar Schwarz

Smatka, dieser singende Kokainschub auf zwei Beinen, hat es endlich zurück nach Berlin geschafft – die Stadt, in der sie im Alter von 16 auf Bühnen stand, an deren Türstehern Gleichaltrige ohne falschen Ausweis gar nicht vorbeigekommen wären. Als Sklavenherrin und Frontfrau der Band Smatka Molot ließ sie sich bei ihren Liveshows von einem nackten Mann bedienen, während ihr Zeilen wie „Lolidiale Ideale, durchs Orale ins Anale“ mit einer Leichtigkeit über die Lippen flogen, als wären es pastorale Choräle.

Wer die Nullerjahre im ungezähmten Berliner Stadtteil Kreuzberg verlebt hat, erinnert sich vielleicht noch an dieses rotzige Electro-Punk-Lolitaprojekt, über das die Berliner Morgenpost im Jahr 2004 schrieb: „Smatka Molot spucken auf alle Schubladen, spielen im Zieh-dich-sexy-an-oder-besser-gleich-aus-Schuppen Kit Kat Club oder auf Motorradfreaktreffen.“ Das Kit Kat ist mittlerweile kein exotischer Geheimtipp mehr. Und die sagenumwobenen Anfänge der hedonistischen, heimlichen Berliner Electro-Szene gehören ebenso der Vergangenheit an wie das provokante Kunstkollektiv, zu dem sich Smatka Molot damals zählte.

Während sich die Spreemetropole zum Ibiza für Raver mauserte, hatte sich Sängerin Smatka eine neue wilde Heimat im Herzen der Londoner Musikszene gesucht. Jetzt, nach einem Jahrzehnt englischen Hauptstadtflairs, in dem sich Smatka einen internationalen Namen sowohl als Künstlerin als auch als Künstlercoach machen konnte, ist sie zurück in der Heimatstadt, die sie eigentlich nie verlassen wollte.

Zur Geografie ihrer Geborgenheit gehört auch das Studio R des Maxim-Gorki-Theaters, wo wir sie durch einen heißen Sommernachmittag begleiten. Wir flanieren mit ihr durch den Backstage-Bereich und lauschen ihrem A-capella-Gesang beim Soundcheck zu ihrem Konzert im Rahmen des bevorstehenden „Spark Festival“. Sie hat so viel Charisma, dass es für fünf Frontsängerinnen reichen würde. Deshalb stört es nicht, dass Smatka nach fast zwei Jahrzehnten des Getümmels die lauten Lieder etwas beiseite geschoben hat, um sich stattdessen auf Stücke zu konzentrieren, die – in ihrer zwischenweltlichen Schönheit – für die deutsche Karriere der Künstlerin ein neues Musikkapitel aufschlagen.

»Heute haben wir nur noch wenige Tabus, die Versuchungen sind nicht mehr so nett. Deshalb ist auf einmal die Keuschheit wieder spannend.«

„Eden“, ihr Debütalbum unter dem Namen Smatka, erschien Ende Juni auch in einer Live-Version. Es führt die Hörer durch den Transit-Bereich zwischen Himmel und Erde, Wachen und Träumen – und wird dabei von Smatkas eigenen Beschreibungen gerahmt, die das englisch- und deutschsprachige Werk mit einer beinahe katholisch anmutenden Imagination von Sünde und Keuschheit umwabert. „Die Sünde an sich ist ja schon sehr sexy, weil man dafür der Versuchung folgen muss. Aber heute haben wir nur noch wenige Tabus, die Versuchungen sind nicht mehr so nett. Deshalb ist auf einmal die Keuschheit wieder spannend“, sagt Smatka, die eigentlich nie trinkt, sich heute vor der Show im Maxim Gorki aber ausnahmsweise eine Weinschorle gönnt.

In routinierter Professionalität hat sie zusammen mit ihrem Vertrieb RecordJet ihre Kreativität in zehn radiolange Songs gegossen, die ihre meditative Wirkung aber erst in ihrer Gesamtheit voll entfalten. Im Internet wird der Hörgenuss von bewegenden Visualisierungen unterstützt: Zu fast jedem „Eden“-Lied findet sich ein Video im Netz, dazu erhält jeder Song zur Veröffentlichung des Live-Albums nochmal einen eigenen Performance-Clip.

Der Kirchenchor bot Smatka die erste Bühne ihres Lebens.

Sowohl die Texte als auch die Videoideen stammen allein von der Künstlerin selbst – und transportieren dabei eine Bandbreite an emotionalen Erfahrungen, bei der man sich schnell fragt: Wie viel muss jemand gelebt haben, wie wahnsinnig und unglücklich muss jemand geliebt haben, um Stücke wie „Außer Mir“ oder „Ohne dich“ schreiben zu können?

Viele Anekdoten klingen so fantastisch, dass sie in ihrer Fülle fast unglaublich scheinen. Smatka, deren Name wie der Inbegriff einer urbanen Szene-Künstlerin klingt, wuchs mitten im Wald auf, im tiefen Forst der sächsischen Provinz. Noch heute zieht sie sich zum Musikschreiben in den Wald zurück. Manchmal trifft sie dann ältere Menschen aus umliegenden Orten, die sich daran erinnern, wie sie ihnen als Kind ein Lied vorträllerte – im Austausch gegen Süßigkeiten. Oder wie sie das „Ave Maria“ in der Kirche sang. Der Kirchenchor bot ihr die erste Bühne ihres Lebens. Sängerin wollte Smatka damals allerdings nicht werden, eher Detektivin oder Busfahrerin.

»Man hatte prognostiziert, dass ich mit 21 im Rollstuhl sitzen würde.«

In ihrer Kindheit und Jugend hatte sie ohnehin ganz andere Sorgen. Smatka leidet an einer Hüftdysplasie, eine Sammelbezeichnung für Fehlstellungen der Verknöcherung des Hüftgelenks. Aus diesem Grund war ihr bereits in jungen Jahren ein weniger bewegliches Leben prophezeit worden, insgesamt musste sie bisher dreimal laufen lernen: „Man hatte prognostiziert, dass ich mit 21 im Rollstuhl sitzen würde“, sagt sie. So hat sie sich relativ früh an Sprüche wie „Da kommst du niemals hin!“ gewöhnen müssen. Aber das hat Smatka nicht davon abgehalten, an ihren Träumen festzuhalten: „A dreamer is a believer“, lässt sie uns wissen. Durch Glück und viel Sport traten die Vorhersagen der Ärzte nicht ein. „Ich habe mich nicht verbittert durchgesetzt, sondern einfach gemacht.“

Mit 15 zog die Unerschrockene zuhause aus. Zuerst landete sie in Dresden. „Ich habe in Diskotheken geputzt, in Tankstellen oder bei der Post Geld verdient und in gefühlt jeder Bar gearbeitet“, erinnert sie sich. „Erlaubt war es natürlich nicht, in dem Alter Schnaps auszuschenken.“

Erst nach Monaten begriff sie, dass die Schokoladenpäckchen Haschisch beinhalteten.

Nach dem Schulabschluss marschierte sie in das Europäische Theaterinstitut an der Jannowitzbrücke in Berlin, legte in breitestem Sächsisch ihr Anliegen dar und füllte noch vor Ort die Bewerbung aus. Zu diesem Zeitpunkt war ihr erstes Bandprojekt bereits in vollem Gange. Im Alter von 16 Jahren gründete sie Smatka Molot. Mit dabei war die noch jüngere Bassistin Erika Maria. Bald wurde der doppelt so alte Produzent auf die ungewöhnlich dynamischen Mädchen aufmerksam. Er scheuchte sie durch die Kreuzberger Szene und leierte einen Umzug nach Großbritannien an. Dort landete Smatka schließlich eher widerwillig – und ohne ein Wort Englisch zu sprechen.

Das unfreiwillige Abenteuer ließ sie Teil der Szene um Pete Doherty, The Maccabees und später Amy Winehouse werden. Doch nicht nur ihre Konzerte waren für die junge Künstlerin aufregend, sondern auch ihre Lebensumstände in East London – manchmal mehr, manchmal weniger freiwillig. Smatka jobbte zum Beispiel in einem marokkanischen Café, das sich unterhalb eines besetzten Lagerhauses befand, in dem sie zu diesem Zeitpunkt einen Unterschlupf gefunden hatte. Erst nach Monaten begriff sie, dass die Schokoladenpäckchen, die sich in dem Café so wahnsinnig gut verkauften, Haschisch beinhalteten.

»Persönlich mag ich mein englisches Ich lieber als mein deutsches.«

Wenn Smatka über London spricht, dann malt sie eine Zeit der wilden Wunder. In Berlin versucht sie nun, eine andere Art von Abenteuer zu finden. Unsere Hauptstadt sei und bleibe ihre große Liebe, sagt sie – und wer liebt, müsse sich keine Sorgen machen. Menschlich wieder Fuß zu fassen stellt für Smatka jedoch aktuell die größte Herausforderung dar: „Persönlich mag ich mein englisches Ich lieber als mein deutsches. Mit diesem bin ich jedoch in den ersten Monaten gar nicht gut angekommen, eher angeeckt. Bekannt für mein Feuer, meine positiv-aggressive Ausdrucksweise und mein explosives Durchsetzungsvermögen, hatte ich vor allem mit alten Bekannten, teilweise sehr alten Freunden, meiner Familie, aber auch neuen Bekanntschaften meine Schwierigkeiten.“

»Jetzt war ich ‘ne Spinnerin, ‘ne Verrückte, eine Wiedergekehrte, die es wohl da draußen nicht geschafft hatte.«

Auch wenn Smatka so wirkt, als könne man sie eine Dekade nicht sehen und sie trotzdem nicht vergessen: Die zehn Jahre, in denen sie weder als Mensch noch als Musikerin in Deutschland sichtbar war, fallen nun stärker ins Gewicht, als beim Auszug in die weite Welt vermutet. „Zu allererst bin ich als Sächsin nach Berlin gekommen – als Berlin noch voll von Berlinern war. Für die war ich ‘ne Sächsin. Und nun kam ich wieder und wollte genau da anknüpfen, wo ich in England aufgehört habe. Doch jetzt war ich ‘ne Spinnerin, ‘ne Verrückte, eine Wiedergekehrte, die es wohl da draußen nicht geschafft hatte. Für mich selbst war ich gefühlt eine Weltbürgerin und stolz auf mein scheinbar abgelegtes Ego sowie auf die Dinge, die ich menschlich sowie beruflich erreicht und gelernt hatte.“

»Zum Erfahrungen sammeln ist Urlaub das beste Mittel, aber zur Erholung ist er für mich eher ungeeignet.«

Smatkas Musik schwankt – je nach Perspektive der Hörenden – zwischen lyrischer Erhabenheit und sphärischer Dunkelheit. Sie selbst habe die hellsten Orte in der tiefsten Finsternis erfahren. Dafür muss sie sich aber schon lange nicht mehr als Draufgängerin stilisieren. Sie findet diese Nuancen in der Schwärmerei über vergangene Alltagsgeschichten. Deshalb passt es zu Smatka, dass sie nie in den Urlaub fährt. Das ergäbe für sie keinen Sinn und fühle sich furchtbar an: „Zum Erfahrungen sammeln ist Urlaub wahrlich das beste Mittel, aber zur Erholung ist er für mich eher ungeeignet. Meine Sehnsucht ist die Liebe und schon in meinem ersten Urlaub, kurz vor meiner Einschulung, habe ich mich in einen Jungen verliebt. Einen Jungen, den ich nach diesem Urlaub nie wieder gesehen habe, dessen Gesicht sich aber in mein Herz gebrannt hat.“

Er hieß Marco, hatte leuchtend grüne Augen und schwarzes Haar. Smatka lernte ihn während eines Winterurlaubs in Rehefeld kennen, ein damals beliebtes Ziel im Osterzgebirge. Smatka erinnert sich genau – und während sie erzählt, hat man die Szene genau vor sich: Das Hotel, in dem sie damals wohnten, sei ein alter DDR-Plattenbau gewesen, mit einer riesengroßen, freischwingenden Steintreppe, die von den oberen Etagen durch das Restaurant hindurch, den Eingangsbereich, den Club und schließlich bis zu den Kellerräumen führte. Dort unten, hinter den letzten Stufen, da habe Marco immer gesessen und mit seinen Spielzeugautos gespielt. „Erst später wurde mir bewusst, dass er sich versteckte und weinend Trost in seinem Spiel suchte. Das war der erste traurige Mensch, dem ich begegnet bin.“

»Die Hölle gibt es nicht mehr, zumindest nach ›Eden‹. Das, was war, kann nie mehr sein – und was nun?«

Smatkas Leichtigkeit im Umgang mit der Schwere des Lebens ist vielleicht ihr Markenzeichen. Eines der zentralen Themen in ihrem Album „Eden“ war der Tod. Nun befindet sie sich bereits in der Produktion für Album Nummer zwei, das den Arbeitstitel „Nichts“ trägt und ebenfalls zusammen mit ihrem musikalischen Partner Willi Sieger entsteht. Als Fortführung von „Eden“ wird „Nichts“ wieder ein Konzeptalbum sein. Die zentrale Frage darin: Was passiert mit uns, wenn es uns nicht mehr gibt? Im neuen Werk, so sagt sie, stünden Stillstand, Entstehen und Verwandlung im Mittelpunkt. „Die Hölle gibt es nicht mehr, zumindest nach ‚Eden‘. Das, was war, kann nie mehr sein – und was nun?“, fragt Smatka.

»Der Kitsch, der Traum, das Skurrile, der Dada oder der Surrealismus geben mir eine gewisse Sicherheit.«

Wenn die Musikerin nicht diverse Nachwuchskünstler unterrichtet, mit Kollegen an neuen Projekten bastelt oder eigene Songs schreibt, lebt sie gern in der Stille. Dann baut sie ihr eigenes Gemüse an, bereitet das Holz für den Winter vor oder denkt nach. Was dabei herauskommt, erstaunt sie oft selbst. „Leben und Tod kommen meistens unverhofft und nicht geplant. Egal, wie man es dreht und wendet, man sitzt vor diesem weißen Blatt Papier und verspürt Angst und Widerstand. Je mehr Menschen aus unserem Leben in den Tod gehen, desto stärker wird die Angst. Der Kitsch, der Traum, das Skurrile, der Dada oder der Surrealismus geben mir eine gewisse Sicherheit. Sie sind in der Lage, mir die Angst vor dem Umgang mit beispielsweise dem Tod – dem Unbekannten – und vor dem Realismus zu nehmen.“

»Von innen und außen schön zu sein, ist garantiert unendlich anstrengend, da die Gefahr des Verlusts so groß ist.«

Wenn sie diese Haltung auf ihren Musikstil überträgt, dann befindet Smatka, dass Authentizität in Stimme, Haltung und Sound für sie die Magie eines Songs ausmachen. Das Genre sei dabei absolut nebensächlich. Das Hadern mit den vielen Begrifflichkeiten der Schönheit sei hingegen ein ständiger und dabei produktiver Begleiter ihres kreativen Werdegangs. „Wenn man äußerlich schön ist, sollte man für sein Gegenüber zumindest innen etwas Hässliches haben oder leer sein. So kommt es mir zumindest häufig vor. Tatsächlich von innen und außen schön zu sein, ist garantiert unendlich anstrengend, da die Gefahr des Verlusts so groß ist“, philosophiert sie und verrät uns dann ihre Definition von Schönheit. Für Smatka verhält sich diese analog zur Weisheit: Sie sei rein, doch wer könne das schon von sich behaupten?

»Oft erfahre ich gerade in der Arbeit mit Musikern eine Abneigung gegen schöne Stimmen.«

Bei Smatka fließen die Assoziationsketten ineinander. Begriffliche Trennschärfe wird zu Gunsten einer fließenden Poesie vornübergekippt. Als nächstes springt sie zu einer popokulturellen Ebene: Unverständlich, so sagt Smatka, sei für sie nur die Abneigung gegenüber der Schönheit. „Schön singen, eingängig schöne Melodien, sich schön fühlen oder schön aussehen ¬– oft erfahre ich gerade in der Arbeit mit Musikern eine Abneigung gegen schöne Stimmen, vor allem in deutscher Sprache. Das ist dann immer gleich Schlager. Ja und? Dann ist es eben Schlager. Aber Schlager bedeutet für viele, hässlich zu sein. Warum können sie die Schönheit nicht akzeptieren? Woher kommt dieser Widerstand? Dann legen sie einen urbanen Beat drunter und schon wird aus Schlager böser HipHop.“

Smatka sagt, dass sie das einfach nicht verstehen könne. Es sei nicht mehr cool, schöne Musik zu machen. Die Angst davor, schön zu singen und dafür weniger im Trend zu liegen, hat sie mittlerweile verloren. Das Wunderbare sei, dass sie seit dieser Entwicklung nicht mehr den Druck verspüre, schreien zu müssen, sich schräg zu verhalten oder zu kleiden, nur um erfolgreich zu sein. Denn, so sagt sie: „Authentizität ist Schönheit, frei von jeglichen Konventionen.“


Aurora

Interview — Aurora

A Beautiful Soul

Norwegian music artist Aurora jumped out of a natural fairytale into our urban world to spread her message of connectedness and love—in a unique and utterly beautiful way.

19. August 2019 — MYP N° 26 »Style« — Interview: Katharina Weiß, Photography: Steven Lüdtke

When Norwegian music artist Aurora Aksnes published her debut album, “All My Demons Greeting Me As Friends,” in 2016, the success was kind of overwhelming. From one day to another, her music has caught the eye of outsiders, light beings, nonbinary people and even mainstream audiences. The result: endless tours and TV appearances.

More noteworthy, however, are the encounters with her fans, who entrust everything to Aurora, bring her gifts wherever she is—from mobile phones to dead insects. In no time, she has been gathering “warriors and weirdos” around her and became a projection screen for so much.

With her third album, “A Different Kind Of Human – Step 2,” Aurora wants to empower every listener for the world we’re living in. Compared to her second record, “Infections Of A Different Kind – Step 1,” the sound became louder, more demanding, and more upright. While the melodies seem more carefree and pleasing, Aurora’s lyrics couldn’t be more pointed: She precisely describes us, our soul life and the way we treat ourselves.

Consuming that album is no less than looking in a mirror while being fully embraced. And meeting Aurora personally is an unusual experience: Her voice is as soft as a mountain spring and her sentences are as light as a natural drug trip. Let’s immerse in the thoughts of this beautiful soul!

»Humans are so diverse, but the world has forgotten that we have to embrace more than one kind.«

Katharina:
In the past, you stated that your songs are “more a story of the world’s experiences”—rather than your own. What feelings are attached to that quote?

Aurora:
It’s a very emotional world. But it’s not really made for humans like us, for quiet people and weird people. Humans are so diverse, but the world has forgotten that we have to embrace more than one kind. My musical world wants to be a safe place for people where everything is allowed, where you can just exist and be accepted.

»I feel that my followers and I are very equal and full of light.«

Katharina:
You have a very strong community of passionate listeners who bring up a lot of personal stories in their comments and posts regarding you. How have you created this followership of “weirdos and warriors?”

Aurora:
I did not create anything. It just happened. They did it themselves. I don’t know how we became so many. But now we are this big army of love. I think I try to speak to all of them at the same time and I meet many of them in person. And at my shows, I actually feel them emotionally through their energy. I try to signal them that I want every single one of them to be here with me for experiencing this exact moment, as perfect as it is. I think they know that I appreciate them. It’s magical: We have a very loving relationship. They understand when I am tired, and they respect it. I feel that my followers and I are very equal and full of light.

»It is easier to love yourself when you realize how important you are—and that you have a lot to do in this world.«

Katharina:
We always read about people telling us to love ourselves, now it‘s you—but how can we deal with it when we’re failing that task?

Aurora:
Failing is good. To embrace that is a very good approach for falling in love with the people around you as well: We are all kind of failures in the process of learning to love ourselves the way we really are. And this unites us. If you just imagine being old and lying on your deathbed, having spent your whole life trying to love yourself—that’s a bit sad, isn’t it? A human life is quite long these days and we have a lot of time to learn about. What can we change and what can we not change? But the most important thing is to learn acceptance. If you are not the way you hoped to be, you are the way you are anyway—don’t waste your valuable energy, spend it on beautiful things! It is easier to love yourself when you realize how important you are—and that you have a lot to do in this world.

»I am very excited for humankind to make itself proud again.«

Katharina:
You draw major inspiration from nature, so it is no wonder that you also speak up against environmental cruelty. Would you consider yourself an environmental activist?

Aurora:
Absolutely. It is the responsibility of all of us to fix what the people before us have damaged—because they did not know what we know now. We have claimed that we are the most intelligent species on the planet. So it’s about time that we act that way. I am very excited for humankind to make itself proud again.

»If you have love in you, you need to share it.«

Katharina:
You sound very passionate now. What else makes you so passionate?

Aurora:
I am a very thirsty person. Among the many things that make me passionate, making music is the biggest one. When I am in this process, it feels like making love with something divine. Another important topic: respect. To treat all living things equal. No matter of gender or species. And of course: love. If you have love in you, you need to share it. And you should be allowed and proud to do so. We wasted so many years on establishing that only same-sex love is ok. But this worldview will lose in the end.

»When I was little, I was very inwards. I noticed people’s pain and when they tried to hide stories and vulnerability.«

Katharina:
How can we imagine your upbringing? Was your environment always so politically aware?

Aurora:
When I was little, I was very inwards. I noticed people’s pain and when they tried to hide stories and vulnerability. And I was always interested in the most intimate and personal emotions, especially my own. But I started looking outwards just after I finished my first album, “All My Demons Greeting Me as a Friend.” That was when I realized how big the world is. And that there is so much to support. There are issues beyond self-care that we have to fight for. And we have to hold on to our victories. Because some time a man or woman will gain power again and use it to make love and self-empowerment illegal again.

»Growing up in the forest makes you a philosopher.«

Katharina:
Very true. But back to the first part of the question: How did your childhood look like?

Aurora:
I grew up in a very small town. I lived in a fjord. When you translate it, it is called “the fjord of light.” Sounds like a fairytale place, I know. I grew up there with my two sisters and my mum and dad. And we had many cats, they were all grey. We moved there when I was three and for me, it was a true gift. For my older sisters, it must have been a really difficult experience to change all their surroundings, but for me, it was just beautiful. Your eyes can linger and travel over the sea and the mountains when you look out of the window. And behind the house, there was a big forest. I used to play there every day until a big bell next to the house was rang by my parents to tell me that diner was ready. Growing up in the forest makes you a philosopher.

Katharina:
Let’s take the time for a philosophical game then. All my next questions are about “last times” in your life. First question: When was the last time you got surprised?

Aurora:
I did get surprised when we landed in Oslo recently. It was about packing your suitcase. I opened it and realized: I just packed things that looked good, colorwise. But when I unpacked it, I recognized that I have nothing useful with me. So I had to buy some new panties.

»One night I wrote a song in my dreams.«

Katharina:
When was the last time you remembered a dream very well?

Aurora:
This morning. I used to have a dream journal and I remember my dreams very well. One night I wrote a song in my dreams. It was the title track from my album “Infections Of A Different Kind – Step 1.” I woke up in the middle of the night and went down to my piano. I pushed the record button on my phone and played the melody. And then I went to bed again.

Katharina:
When was the last time you experienced pleasure?

Aurora:
This morning. When I masturbated in the hotel room.

Katharina:
When was the last time you had to say goodbye to someone—or something?

Aurora:
I am often traveling with my sisters. One of them is in town with me right now, but we had to say goodbye to the other one two days ago. It is always sad, even though we are only separated for a little while.

»My supporters are really attracted to me because they resonate with what I say.«

Katharina:
When was the last time a listener of your music—I don’t like the word fan—really touched you?

Aurora:
I feel this way too, fan sounds so cocky. I have a big issue with it. It is not a fair word to these amazing people. Maybe we can use supporter instead? My supporters are really attracted to me because they resonate with what I say. We are similar people in some ways. Many of them are extremely artistic. Sometimes when I meet a person, they are too excited to talk to me. They can’t say anything. We all know that struggle. But they give me their letters and their words are so poetic and creative. And often I am taken aback when reading it, just thinking: What a beautiful soul!


Nils Leithold

Editorial — Nils Leithold

The Beauty Of Scotland

German geographer and photo artist Nils Leithold has lost his heart to the beauty of nordic landscapes. Especially Scotland doesn't seem to let him and his lens go.

14. August 2019 — MYP N° 26 »Style« — Photography & Text: Nils Leithold

My work as a geographer and photo creator takes me to many unique places around Europe and the world—always inspired by the beauty of nature, especially by the rough landscapes of the north. As a geographer, I perceive a landscape in the context of its genesis and development. For myself, photography is not just a photo—it’s a never-recurring moment.

Scotland is just breathtaking. The endless space, gorgeous landscapes and lovely people everywhere make this country one of my favorite destinations.

Three facts about Scotland. Fact 1: The world’s first color photograph was taken in Scotland. The subject was a tartan ribbon. Fact 2: The small village Fortingall is home to the oldest tree in Europe (about 3,000 to 9,000 years old). Fact 3: There are approximately 800 Scottish islands, but only about 130 are still inhabited.