Ludwig Simon

Interview — Ludwig Simon

Zeit der Veränderung

Im Kino ist Ludwig Simon gerade im Wendedrama »Im Niemandsland« zu sehen – und auf Netflix in der Serie »Wir sind die Welle«. Wir haben den 21-jährigen Schauspieler in New York City getroffen, wo er sich zur Zeit an einer Schauspielschule weiterbildet.

7. November 2019 — MYP N° 27 »Heimat« — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotos: Danny Jungslund

Wie fühlt sich eine Zeit an, die in unzähligen Familien erzählt, in unzähligen Geschichtsbüchern abgehandelt und in unzähligen Filmen aufbereitet wird? Und die am Ende doch nicht wirklich greifbar wird, wenn man sie selbst nicht erlebt hat?

Die Zeit um die Wende ist so eine. Als am Abend des 9. November 1989 die Mauer fiel, hatten sich Millionen von DDR-Bürgern nicht nur friedlich ihre Freiheit erkämpft. Sie waren auch damit konfrontiert, dass das Land, in dem sie geboren und aufgewachsen waren, in dem sie ihren Schulabschluss gemacht hatten, in dem sie einen Arbeitsplatz fanden, in dem sie geheiratet hatten, in dem sie Eltern und Großeltern wurden, in dem sie in Rente gingen, dass dieses Land ein knappes Jahr später nicht mehr existieren sollte. Was das mit 16 Millionen Menschen macht, diese Frage wurde im vereinten Deutschland viel zu spät gestellt – und ist heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall, brennender als je zuvor.

Dass mit dem Fall der Mauer nicht plötzlich alles gut wurde, vor allem nicht im Privaten, damit beschäftigt sich Regisseur Florian Aigner in seinem neuen Film „Im Niemandsland“. Der Streifen, der ab dem 7. November in den Kinos laufen wird, spielt im Berlin des Sommers 1990 und erzählt eine klassische Liebesgeschichte à la „Romeo und Julia“, in deren Zentrum die Teenager Thorben und Katja stehen. Thorben, gespielt von Ludwig Simon, ist im Ostteil der Stadt aufgewachsen und lebt mit seiner Familie seit Jahren in einem Haus, auf das Katjas Vater Anspruch erhebt. Dieser wuchs selbst in diesem Haus auf, musste es aber im Kindesalter verlassen, als seine Familie vor dem SED-Regime in den Westen floh. Nach der Flucht wurde die Familie enteignet, das Haus ging in sogenanntes Volkseigentum über und wurde Thorbens Eltern zugesprochen.

Wie also umgehen mit so einer ungeklärten Situation? Die „Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen vom 15. Juni 1990“ fand eine Antwort – und etablierte den Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“. Eine gesetzliche Chance für Katjas Vater, sein Elternhaus zurückzugewinnen. Und eine Katastrophe für Thorben und seine Familie, das langjährige Zuhause zu verlieren. So bricht der Film einen bürokratischen Sachverhalt auf die individuelle Ebene herunter, auf der – neben dem Übergang in einen neuen Staat und eine neue Gesellschaftsform – die alltäglichen Probleme selbstverständlich nicht aufhören zu existieren.

Springen wir vom Ostberliner Juni des Jahres 1990 in den November 2019 – und zwar den in New York City. Ludwig Simon verbringt hier gerade einige Monate, um seine Fähigkeiten an einer renommierten Schauspielschule weiterzuentwickeln. Der 21-Jährige, der neben seiner Rolle im Film „Im Niemandsland“ auch seit dem 1. November in der Netflix-Serie „Wir sind die Welle“ zu sehen ist, führt unseren Fotografen Danny Jungslund am frühen Morgen auf ein Flachdach im Stadtteil Brooklyn und präsentiert ihm den Blick auf die Skyline von Manhattan. Eine Aussicht, an die Millionen DDR-Bürger nicht zu träumen gewagt hätten. Und die mit der Nacht des 9. November 1989 zumindest in den Bereich des Möglichen gerückt ist.

»Mit diesem Projekt habe ich für mich nochmal ein ganz eigenes Gefühl für die Thematik entwickelt.«

Jonas:
Du bist 1997 geboren, acht Jahre nach dem Mauerfall. Hast du durch die Arbeit an dem Film etwas über die Zeit nach der Wende gelernt, was du vorher noch nicht wusstest?

Ludwig:
Das Meiste, was ich von dieser Zeit weiß, habe ich durch Erzählungen meiner Eltern, Großeltern oder Lehrer aufgeschnappt. Oder aus Filmen, die sich mit der Zeit befassen, zum Beispiel „Als wir träumten“, „Wir sind jung. Wir sind stark.“ oder „Good bye, Lenin!“. All diese Geschichten waren immer schon sehr spannend, aber ich hatte nie echte Bilder vor Augen oder konnte das Erzählte wirklich nachempfinden – einfach, weil ich die Wendezeit nicht selbst miterlebt hatte.
Daher bin ich sehr dankbar, dass ich mich durch diesen Film zum ersten Mal selbst in diese Thematik hineinfallen lassen durfte – alleine schon wegen der Klamotten, die meine Figur Thorben getragen hat. (grinst) Und ich bin dankbar, dass ich mit einem Regisseur wie Florian Aigner zusammenarbeiten durfte, der diese Wendezeit selbst erlebt hat. Mit diesem ganzen Projekt habe ich für mich nochmal ein ganz eigenes, nicht nur filmisches Gefühl für die Thematik entwickelt. Und ich habe viel gelernt, zum Beispiel über die Enteignungspraxis der DDR. Oder darüber, was nach der Wende mit den Leuten passiert ist, die als „Inoffizielle Mitarbeiter“ für die Stasi tätig waren und aufgeflogen sind. Diese vielen großen und kleinen Konflikte liefern unendliches Futter für Erzählungen und machen diese auch so spannend.

»Es geht darum, welche Familie letztendlich das Haus bekommt und darin wohnen darf – die ostdeutsche oder die westdeutsche.«

Jonas:
Euer Film macht gleich mehrere Konfliktfelder auf, vieles ist ungeklärt: die Eigentumsverhältnisse rund um das Wohnhaus, die persönlichen Beziehungen in den Familien, die Vergangenheiten einzelner Protagonisten. An welchen Stellen ist deiner Meinung nach der Film in der Lage, in all dem Schlamassel am meisten Orientierung zu geben?

Ludwig:
In diesem Schlamassel, wie du es nennst, gibt es einen Hauptkonflikt: den Streit um das Haus. Dieser Konflikt erzeugt diverse Nebenkonflikte, die erst dann aufgelöst werden können, wenn auch die Frage geklärt ist, welche der beiden Familie letztendlich das Haus bekommt und darin wohnen darf – die ostdeutsche oder die westdeutsche. Ein gutes Beispiel für einen solchen Nebenkonflikt ist die Affäre, die Katjas Mutter mit ihrem Nachbarn eingeht. Dadurch, dass sich ihr Mann so sehr in dem Ziel verbeißt, für sich und seine Familie das Haus zu erkämpfen, verliert er seine eigene Frau immer mehr aus den Augen – die sich dann Trost bei jemand anderem sucht.

»Als Kind musste er erleben, wie seine Familie nach der Flucht in den Westen vom SED-Regime enteignet wurde.«

Jonas:
Katjas Eltern wirken ohnehin wie zwei Schlüsselfiguren in dem Film. Während der Vater nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung sucht, wünscht sich die Mutter endlich Ruhe. Damit stehen sie für zwei grundlegend verschiedene Muster, mit der Vergangenheit umzugehen: Aufarbeitung oder Schlussstrich. Welche der beiden Charaktere verstehst du besser? Auf welche Seite würdest du dich persönlich schlagen?

Ludwig:
Beide Figuren haben ganz bestimmte Motivationen für ihr jeweiliges Verhalten. Den Vater treibt seine eigene Geschichte an, da er in diesem Haus aufgewachsen ist und als Kind erleben musste, wie seine Familie nach der Flucht in den Westen vom SED-Regime enteignet wurde. Das kann Katjas Mutter wahrscheinlich emotional gar nicht nachvollziehen, da sie dieses Trauma nicht selbst erlebt hat. Sie sieht nur ihre Ehe in Gefahr, da ihr Mann immer mehr den Blick für sie verliert. Und das ist für sie persönlich ein ebenso großes Drama wie die Hausangelegenheit für ihren Mann. Daher würde ich da gar nicht urteilen wollen, ich kann beide Figuren total gut verstehen – auch weil sie von Andreas Döhler und Lisa Hagmeister so gut gespielt werden.
Wenn ich allerdings in meinem eigenen, realen Leben mit so einer Situation konfrontiert wäre, würde ich versuchen, so wenig Reibung wie möglich zu erzeugen.

»Dieses ganze Ossi-Wessi-Ding ist mir nicht ganz verborgen geblieben.«

Jonas:
Neben all den Konflikten macht der Film auch diverse Ossi- und Wessi-Klischees sichtbar, die sich über all die Jahrzehnte in den Köpfen der gesamtdeutschen Gesellschaft festgesetzt haben. Nimmst du solche Klischees in deinem persönlichen Alltag überhaupt noch wahr – im Jahr 30 nach dem Mauerfall?

Ludwig:
Gott sei Dank bin ich mit diesen Klischees nicht mehr aufgewachsen. Und im Jahr 2019 bin ich einfach nur ein junger Mensch in einer anderen Zeit, in der mir das kaum noch begegnet. Aber wenn ich die Zeit damals selbst erlebt hätte, hätte ich vielleicht ähnliche Denkmuster entwickelt, wer weiß.
Trotzdem ist mir dieses ganze Ossi-Wessi-Ding nicht ganz verborgen geblieben. Beim Fußball zum Beispiel ist mir das immer besonders stark aufgefallen. Ich habe lange Zeit in einer Mannschaft aus Pankow gespielt, sprich aus dem ehemaligen Ostberlin. Wenn wir dann mal für ein Spiel in den tieferen Westen gefahren sind, gab’s dort permanent irgendwelche Ossi- und Wessi-Sprüche, vor allem von den jeweiligen Trainern.
Ich habe eben ja bereits erklärt, dass ich das Meiste über die Wendezeit von Erzählungen meiner Eltern, Großeltern und Lehrer weiß. Da wurden natürlich auch Unterschiede zwischen Ost und West thematisiert, allerdings immer mit einer sachlichen Erklärung und nie auf klischeehafte Art und Weise.

»Entweder du machst hier richtig Kohle – oder halt nicht. Und dann liegst du ganz schnell nachts auf der Straße.«

Jonas:
Der Begriff Niemandsland hat im Film gleich mehrere Bedeutungsebenen. Er bezieht sich einerseits auf den ehemaligen Grenzstreifen zwischen Ost- und Westberlin, der Thorben und Katja als Treffpunkt gilt. Er kann aber auch als Begriff für die vielen Schwebezustände verstanden werden, die der Film erzählt. Wo in deinem Leben, in unserer Gesellschaft oder vielleicht sogar auf dieser Welt siehst du heute solche Niemandsländer?

Ludwig:
Ich habe das Gefühl, dass die Schere zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen immer größer wird – zwischen rechts und links zum Beispiel. Gerade dass sich in unserem Land die extremen politischen Ränder wieder so sehr festigen können, finde ich bei der deutschen Historie erschreckend. Es werden plötzlich wieder Themen besprochen, die für mich aus moralischer Sicht überhaupt nicht mehr diskutiert werden dürften.
Aber auch zwischen arm und reich wird die Kluft immer größer, die Mittelschicht verschwindet, und das überall auf der Welt.
Darüber hinaus gibt es nach wie vor Rassentrennung. Das ist mir zum ersten Mal so richtig bewusst geworden, als ich 2018 nach Südafrika gereist bin. Obwohl die Apartheid dort eigentlich offiziell abgeschafft wurde, gibt es in Südafrika nach wie vor Gegenden, in denen fast nur Weiße leben – oft in reichen Gated Communities. Dagegen lebt ein großer Teil der Schwarzen Bevölkerung in Townships am Stadtrand – in ärmlichsten Verhältnissen. Die Rassentrennung existiert damit de facto weiter.
Übrigens kann man auch in Berlin immer mehr beobachten, wie der ärmere Teil der Bevölkerung, der sich die steigenden Mieten nicht leisten kann, an den Stadtrand gedrängt wird. Und das ist in New York nochmal eine ganz andere Liga. Entweder du machst hier richtig Kohle – oder halt nicht. Und dann liegst du ganz schnell nachts auf der Straße. Da ist doch irgendwo ein riesiger Fehler im System!

»Am Set konnten wir erleben, wie sich der fiktionale Stoff der Serie und die Realität immer nähergekommen sind.«

Jonas:
Kritik am Kapitalismus ist auch ein zentrales Thema der Netflix-Serie „Wir sind die Welle“, in der du seit dem 1. November zu sehen bist. Haben die Arbeiten an der Serie sowie am Film „Im Niemandsland“ deinen Blick auf die Gesellschaft verändert?

Ludwig:
Die Idee für die Serie wurde vor etwa zwei Jahren ins Leben gerufen, gedreht haben wir Anfang 2019. Für mich war es krass zu sehen, wie sich – parallel zu den Dreaharbeiten – in der realen Welt ähnliche Protestbewegungen entwickelt haben, etwa „Fridays for Future“ oder „Extinction Rebellion“. Alleine das Engagement für den Klimaschutz ist in wenigen Monaten so groß geworden, dass wir quasi am Set erleben konnten, wie sich der fiktionale Stoff der Serie und die Realität immer nähergekommen sind. Das liegt unter anderem aber auch daran, dass die Entwickler von „Wir sind die Welle“ im Vorfeld an Schulen gegangen sind, um persönlich von den Schülerinnen und Schülern zu erfahren, welche konkreten Themen sie antreiben.

Was ich aus diesen beiden Projekten für mich persönlich mitnehme, ist eine tiefe Dankbarkeit – dafür, dass ich überhaupt die Möglichkeit habe, so etwas in meinem Leben zu machen. Und gerade mit dem Wissen, dass es viele Menschen auf der Welt gibt, die diese Möglichkeiten nicht haben oder die gar nicht wissen, dass es solche Möglichkeiten überhaupt gibt, habe ich für mich erkannt, dass ich mein Leben umso mehr schätzen sollte. Und dass ich die Möglichkeiten, die sich mir bieten, umso mehr nutzen muss – weil sie ein Privileg sind. Don’t take it for granted!

»Ich bin jemand, der sehr viel Musik teilt.«

Jonas:
Michelle Barthel, die in „Wir sind die Welle“ an deiner Seite steht, hat mir verraten, dass du neben der Schauspielerei eine weitere große Leidenschaft hast: die Musik. Im Film „Im Niemandsland“ gibt es eine Szene, in der du Katja ein eigens für sie erstelltes Mixtape schenkst, das sie auf ihrem Walkman abspielt. Diese Mixtape-Kultur ist heute in Zeiten von Spotify und Co. mehr oder weniger ausgestorben. Dabei gibt es nichts Schöneres, als einem Menschen Musik zu schenken…

Ludwig:
Absolut! Aber dafür kann man heute für jemanden eine Spotify-Liste zusammenstellen, das mache ich total gerne. Und wenn ich auf einen geilen Song stoße und mit diesem Lied einen bestimmten Menschen in Verbindung bringe, schicke ich der Person den Song als Link. Ich bin jemand, der sehr viel Musik teilt. Und ich mache auch selbst ein bisschen Musik und schreibe Texte dazu. Manchmal richten sich diese Songs sogar an ganz bestimmte Menschen. Und wenn ich genug Mut zusammen habe, spiele ich ihnen die auch vor. (grinst)

»Wenn man selbst so angenommen werden möchte, wie man ist, sollte man das auch mit anderen tun.«

Jonas:
Im Film gibt es eine Person, zu der deine Figur Thorben eine besondere Beziehung hat: sein Handballtrainer Maik, der ihm immer wieder gut gemeinte Ratschläge und Lebensweisheiten mitgibt, wie etwa: „Wer sich nicht anpasst, geht unter.“ Kannst du persönlich diesem Satz etwas abgewinnen?

Ludwig:
Die Fähigkeit zur Anpassung ist etwas, was zumindest mir in meinem bisherigen Leben total geholfen hat. Die braucht man ja schon in der Schule. Wenn man dort in jungen Jahren Schwierigkeiten hat sich anzupassen, fällt einem alles viel schwerer. Ich bin sehr froh, dass mir meine Eltern da einiges an Rüstzeug mitgegeben haben – etwa die Überzeugung, dass jeder Mensch Respekt verdient. Wenn man selbst so angenommen werden möchte, wie man ist, sollte man das auch mit anderen tun. Daher habe ich immer versucht, auch auf andere zu achten und mich an ihre Bedürfnisse anzupassen. Wenn ich allerdings gemerkt habe, dass jemand in einer Gruppe gemobbt wurde, konnte ich mich überhaupt nicht anpassen – so etwas ging mir total gegen den Strich.
Anpassungsfähigkeit hat für mich übrigens auch etwas damit zu tun, offen zu sein und sich nicht hinter seinen festgefahrenen Mustern zu verstecken. Wir sehen in unserer Welt, dass alles immer in Bewegung ist und sich permanent ändern kann. Ich habe für mich gelernt, dass man einen besseren Zugang zu allem finden kann, wenn man dieser Bewegung einen gewissen Raum lässt und sich nicht zu sehr versteift.

»Ich habe gemerkt, dass es nicht so viel bringt, wenn man den Leuten erzählt, was sie zu tun haben.«

Jonas:
Als Thorben und Katja in Trainer Maiks Auto sitzen, lässt er sie wissen: „Ihr beide seid die Zukunft, ihr bestimmt, wo’s langgeht.“ Wenn du diesen Satz auf dein eigenes Leben überträgst: Hast du persönlich das Gefühl, dass du und deine Generation die Zukunft maßgeblich beeinflussen könnt? Oder fühlst du dich eher machtlos?

Ludwig:
Dieser Satz erinnert mich extrem an ein Zitat aus dem Film „School of Rock“: „I believe that the children are the future. Now, you can teach them well, but you have gotta let them lead the way.” Ich finde es allerdings immer etwas schwierig, von mir und meiner Generation zu sprechen. Wie soll ich persönlich einen Überblick darüber haben, was bei Millionen anderer junger Menschen auf dieser Welt so abgeht? Dementsprechend fühle ich mich auch nicht dazu in der Lage, ein Sprachrohr für die gesamte Generation zu sein.
Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass ich selbst meine eigene Zukunft bestimmen kann – und zwar indem ich versuche, aus mir das bestmögliche Ich zu machen und für andere ein gutes Beispiel zu sein. Ich glaube, nur so kann ich selbst den bestmöglichen Beitrag leisten, damit unsere Zukunft gut wird. Ich habe gemerkt, dass es nicht so viel bringt, wenn man den Leuten erzählt, was sie zu tun haben. Viel einfacher ist es, wenn man versucht, selbst ein gutes Vorbild zu sein.

»Ob ich nach Berlin zurückkomme, steht noch in den Sternen.«

Jonas:
Du wirst noch bis Ende Dezember in New York bleiben und kommst dann zurück nach Berlin…

Ludwig:
Ob ich dann nach Berlin zurückkomme, steht noch in den Sternen. Gerade reise ich wahnsinnig gerne – vielleicht geht’s daher zuerst noch irgendwo anders hin. Vor knapp zwei Jahren bin ich in meine erste eigene Wohnung gezogen, allerdings war ich da nie so wirklich oft. Mein Wohnzimmer war eher mein Rucksack. Aus diesem Grund habe ich die Wohnung bald wieder gekündigt und reise jetzt nur noch mit diesem riesigen Rucksack durch die Welt, in dem alles drin ist, was ich brauche. Damit komme ich gerade ziemlich gut zurecht. Mal schauen, wohin mich mein Rucksack noch so trägt.

Jonas:
Was nimmst du aus New York City für dich persönlich mit – und was lässt du gerne dort?

Ludwig:
New York ist eine wahnsinnig inspirierende Stadt, alles fließt hier extrem schnell, und wenn man einmal hier ist, taucht man in diesen Flow sehr schnell ein. Zumindest für mich fühlt sich das überaus positiv an und macht sehr viel Spaß. Wenn ich an einem so inspirierenden Ort bin, gibt es so viele Dinge, die mich in meiner Kreativität des Schauspielens erweitern. Ich merke hier immer wieder, dass das, was ich vielleicht bisher über das Spielen gedacht habe, für mich gar nicht so funktioniert. Und ich erkenne, woran es gelegen hat, wenn ich mich früher für etwas kritisiert habe.
Was ich also mitnehme aus New York, sind wirklich existenzielle Fragen, denn ich will dieses Schauspiel-Ding einhundertprozentig durchziehen. Ich habe so viel dazugelernt und versuche, das alles mitzubringen. Genauso würde ich aber auch unzählige Dinge hierlassen – etwa die Muster, wie ich vorher etwas umgesetzt habe.
Man kann es aber auch philosophischer und spiritueller sehen (lacht): Es ist alles in Bewegung, und manchmal hat man Phasen, in denen man denkt: Ey, es bewegt sich gerade nicht so viel. Aber auch in diesen Momenten bewegt sich zumindest irgendetwas. Und selbst wenn es sich nicht gut anfühlt, gehört es dazu und wird sich, wenn man da rauskommen will, irgendwann auch zu etwas Gutem und Neuem verändern. Man muss nur dafür offen sein. Diese Zeit der Veränderung erleben zu können und sich in Geduld zu üben, bis etwas Neues kommt, ist eine gute Lektion.


Martina Geng

Reportage — Martina Geng

Geteiltes Land, geteiltes Herz

1971 verliebt sich Martina Geng in der DDR in einen Westdeutschen – und bekommt die Härte des SED-Staats zu spüren. Nach über zwei Jahrzehnten erlebt sie eine Wiedervereinigung der besonderen Art. Chronologie einer deutsch-deutschen Liebesgeschichte.

4. November 2019 — MYP N° 27 »Heimat« — Text: Katharina Weiß & Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke

Die Mauer. 30 Jahre ist es jetzt her, dass sie in sich zusammenfiel. Seit 1961 stand sie da, als wäre sie für die Ewigkeit gemacht. Oder zumindest für hundert Jahre, wie Erich Honecker mal fabulierte. Doch dann kam der Abend des 9. November 1989 und es dauerte nur wenige Stunden, bis ihr Beton unter dem Freiheitsdrang von Millionen Menschen einfach so zerbröselte. Und mit ihm der Beton in den alten Köpfen des SED-Regimes.

Die Mauer teilte nicht nur Ost und West, nicht nur Kapitalismus und Kommunismus, sie separierte auch Menschen voneinander. Freunde. Familien. Liebende. Wie Martina und Jens, deren Geschichte im Juli 1971 auf der Ostseewoche in Rostock begann und deren persönliches Schicksal von diesem Bauwerk bestimmt werden sollte.

Martina war damals 19 Jahre alt und arbeitete als Volontärin für die National-Zeitung, ein Ostberliner Parteiblatt. Kurz bevor die junge Frau zum Journalismus-Studium nach Leipzig gehen sollte, hatte ihre Redaktion sie zur Berichterstattung in die Hansestadt geschickt. In der DDR war die Ostseewoche ein Ereignis: eine politische Großveranstaltung, bei der man jedes Jahr alle anderen Anrainerstaaten des Baltikums zu sich einlud. Das erklärte Ziel war die Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den skandinavischen Ländern. Und in der Tat: Während dieser Woche sollten schicksalshafte Beziehungen geknüpft werden – wenn auch auf einer Ebene, die der ostdeutschen Führungsspitze kaum am Herzen gelegen haben dürfte.

Das Motto im Jahr 1971 lautete: „Die Ostsee muss ein Meer des Friedens sein.“ Frieden – ein groteskes Wort, wenn man an all jene denkt, die beim Versuch, die aufs Schärfste bewachte Grenze der Deutschen Demokratischen Republik zu überqueren, ihre Freiheit, ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben gelassen haben.

Daher ist die Geschichte der Mauer auch immer eine, die nicht nur auf der großen politischen Bühne erzählt werden darf. Sondern genauso auf der individuellen, persönlichen, da sie das Leben unzähliger Menschen fundamental verändert hat und noch bis heute beeinflusst.

Das Kennenlernen

»Ich war gerade mit meiner Suppe fertig, da setzte sich so ein Kerl an meinen Tisch.«

Wann und wo man sich auf dieser Erde in einen anderen Menschen verknallt, und dann noch über beide Ohren, wird wohl eines der letzten großen Geheimnisse des Lebens bleiben. Zumindest darin herrscht schon immer Einigkeit, egal ob Ost oder West.

Martina Geng sollte der berühmte Blitz treffen, als sie an einem Tag im Juli 1971 beim Mittagessen in der improvisierten Kantine des Rostocker Pressezentrums saß. „Ich war gerade mit meiner Suppe fertig, da setzte sich so ein Kerl an meinen Tisch und fing an, mich auszufragen. Er wollte wissen, wo ich herkomme und so weiter“, erinnert sich Martina Geng, die heute 68 Jahre ist und selber kaum fassen kann, dass sich diese Geschichte vor mehr als vier Dekaden zugetragen hat.

Damals, so zeigen alte Fotos, war sie blond, hatte sanfte blaue Augen und sinnliche Lippen. An jenem Tag, das weiß Martina noch, als sei es gestern gewesen, trug sie ein blau-weißes, kurzen Sommerkleid. Selbstgenäht, betont sie. Der Unbekannte mit dem spitzbübischen Lächeln, der sich ihr als Jens Jahnke vorstellte, war ganz in Cord gekleidet – inklusive der Schuhe, das war damals sehr in Mode. Martina erkannte sofort, dass der Mann aus dem Westen kommen musste.

»Abhängen! Sofort abhängen!«

Jens erzählte ihr, dass er in Frankfurt am Main arbeitete und von der Zeitung Konkret zur Berichterstattung nach Rostock geschickt wurde. Die Unterhaltung wurde immer netter und netter und mündete schließlich in einer Einladung: Jens bot Martina an, sie auf eine abendliche Schiffsfahrt mitzunehmen, die von Rostock aus aufs offene Meer führte. „Ich fand ihn sehr witzig und originell. Natürlich sagte ich sofort zu.“, erinnert sich Marina mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

Doch kaum hatte sich der junge Journalist aus dem Westen verabschiedet, stellte ein Kollege der National-Zeitung seinen Schnitzelteller genau an dem Platz ab, auf dem zuvor Jens gesessen hatte. Der Mann, den Martina kaum kannte, fragte mit seltsam unterdrückter Stimme, die Lippen kaum bewegend: „Wer ist denn das?“

„Journalist aus Westdeutschland“, antwortete sie, woraufhin er hervorpresste: „Abhängen! Sofort abhängen!“

»Meine Zweifel hätte ich vor einem Wessi nie zugegeben.«

Martina, damals noch überzeugte Sozialistin, war gar nicht begeistert von dieser Aufforderung. Zuvor, im Gespräch mit Jens, hatte sie mächtig damit angegeben, wie toll doch ihrer Meinung nach in der DDR die Gesundheitsversorgung und die niedrigen Mietpreise seien und wie freiheitlich das Mehrparteiensystem sei. Auch wenn sie schon erste Skepsis gegenüber dem System hatte, gesteht sie ein: „Meine Zweifel hätte ich vor einem Wessi nie zugegeben. Ich wollte nicht ihm auch nicht verraten, dass mir ein Kollege verboten hatte, mit ihm einen Ausflug zu machen. Das wäre mir viel zu peinlich gewesen.“

Also ging sie mit ihm aufs Schiff. Und während die anderen Passagiere gemächlich Stehblues tanzten und zur Melodie von „Wie ein Stern“ schunkelten, einem Lied, mit dem sich in jenem Jahr DDR-Schlagerstar Frank Schöbel durch die ostdeutsche Hitparade schmachtete, diskutierten Martina und Jens bis in die Morgenstunden über Politik. Und sahen sich dabei tief in die Seele.

Das Verlieben

»Für intelligente Männer, die mit Sprache umgehen können, hatte ich schon immer eine Schwäche.«

Am Tag nach dem Rendezvous am See unter funkelndem Sternenhimmel hatten Martinas Schmetterlinge im Bauch schon ordentlich Wellengang: Die beiden küssten sich zum allerersten Mal auf einer Mole in Warnemünde.

„Mir hat an ihm gefallen“, sagt sie, „dass er so wahnsinnig frech war. Jens konnte Dinge sagen wie ,Wann schläfst du mit mir?’ und es war immer noch charmant.“

Zu erotischen Stunden zu zweit kam es in der Woche allerdings nie: Martina war, wie die meisten ostdeutschen Journalistinnen und Journalisten, bei Privatpersonen untergebracht und schlief in einem engen Bett bei einer sechsköpfigen Familie. Jens war zwar in den Genuss eines Hotelzimmers gekommen, doch da sich ein Besuch von Erich Honecker ankündigte, musste das Hotel kurzfristig geräumt werden. So landete er schließlich in einem Seemannsheim mit Stockbetten, in dem er sich ein Zimmer mit drei anderen teilen musste.

Aufgrund fehlender Rückzugsmöglichkeiten suchten sich die beiden ruhige Orte in der Stadt, um lange Blicke und intensive Gespräche auszutauschen. „Für intelligente Männer, die mit Sprache umgehen können, hatte ich schon immer eine Schwäche. Und er war auch viel freier als alle, die ich bis dahin kennengelernt hatte – in seiner ganzen Beurteilung der Welt und des Lebens.“

»Wenn Martina wegen dir Ärger bekommt, dann beschütze ich sie.«

Jens hatte in den Sechzigern an der Universität Tübingen bei Ernst Bloch studiert. Der berühmte deutsche Philosoph und Neomarxist, der zur Zeit des Nationalsozialismus im Exil gelebt und sich nach dem Krieg für ein Leben in Ostdeutschland entschieden hatte, war 1961 nach dem Bau der Mauer von einer Reise in den Westen nicht zurückgekehrt und nahm eine Gastprofessur in Tübingen an. Später arbeitete Jens viele Jahre lang als persönlicher Assistent von Theodor W. Adorno, ein anderer berühmter deutscher Philosoph und Soziologe, der zu den Hauptvertretern der sogenannten Frankfurter Schule zählte, eine als Kritische Theorie bezeichnete Denkrichtung.

Das Ausmaß der Gefühle war beiden schnell bewusst: „Wir haben uns richtig ineinander verliebt“, erzählt Martina. Vor dem skeptischen Kollegen hielt sie ihr Rendezvous geheim.

Zwei Tage vor der Abreise wechselte das Personal und ein neuer Gesandter der National-Zeitung kam in Rostock an. Martina kannte diesen Kollegen bereits und mochte ihn. Kurzerhand entschied sie, ihn mit Jens bekannt zu machen. Die Chemie zwischen den Dreien stimmte sofort. „Wir gingen sogar zusammen einen saufen“, erzählt sie von einem Abend in der Kogge, der ältesten maritimen Kneipe der Stadt. Das Trio prostete sich ordentlich zu. Nach ein paar Gläsern trafen sich die Männer am Urinal und der ostdeutsche Kollege versprach dem westdeutschen Journalist: „Wenn Martina wegen dir Ärger bekommt, dann beschütze ich sie.“

»Ich muss Meldung machen.«

Am Ende der Woche fuhr Martina mit Jens zurück nach Ostberlin. Er schlief eine Nacht bei seinem Bruder, der im Westteil der Stadt studierte. Am nächsten Tag folgte die tränenreiche Verabschiedung vor der Wohnung von Martinas Familie in Berlin-Karlshorst. Als sich die beiden in den Armen lagen, sah ihre Mutter vom Fenster aus auf den suspekten Westler herab und beobachtete das Geschehen mit finsterer Miene.

Wenige Stunden später, es war Sonntagabend, klingelte das Telefon. Ein Anruf des Kollegen aus Rostock: „Du Martina, ich habe nochmal mit meiner Frau darüber gesprochen“, beginnt er seinen Satz. Er habe sich überlegt, dass er doch ziemlich Ärger bekommen könnte, falls die Geschichte mit der Liebelei auffliegt. „Ich muss Meldung machen“, beschloss er daher – auf Drängen seiner Frau. In Martinas Augen flackert noch heute der Blick eines trotzigen, verliebten Teeangers auf, wenn sie von ihrer Antwort erzählt: „Ich habe dann schnippisch gesagt: Wenn es sein muss, dann mach das.“ Am nächsten Tag war nichts mehr so wie davor.

Die Strafe

»Hat der Mann Sie angefasst? Haben Sie den geküsst? Haben Sie mit dem geschlafen?«

Am Montagmorgen stöckelte Martina in die Prenzlauer Allee, wo die Büroräume der National-Zeitung lagen. Das Blatt diente als Zentralorgan der National-Demokratischen Partei Deutschlands. Da das formale Mehrparteiensystem der DDR eine Farce war, installierte die sowjetgelenkte SED mehrere andere offizielle Parteien, die sich gegenseitig künstlich Konkurrenz machten. Die NDPD war eine dieser Pseudo-Parteien, aus der das demokratische Mäntelchen der SED-Herrschaft gestrickt war. Einst war sie gegründet worden, um Alt-Nazis in das sozialistische System einzugliedern. Die Arbeitsstelle bei dem NDPD-Blatt war definitiv nicht Martinas erste Wahl, aber journalistische Volontärsplätze waren in der DDR mehr als rar.

Kaum war sie im Büro angekommen und hatte ihre Tasche auf dem Schreibtisch abgelegt, teilte ihr die Sekretärin mit: „Frau Schirrmacher, bitte zum Chefredakteur!“ Den sah die junge Volontärin normalerweise nur alle vier Wochen bei einer großen Redaktionskonferenz.

Spätestens als sie sein Büro betrat, wusste Martina, dass sie in Schwierigkeiten war. Vor ihr saßen nicht nur der Chefredakteur, sondern auch der Personalchef und sogar der Verlagsleiter. Eine Reihe alter Männer, die ihren Autoritarismus noch aus dem Dritten Reich hinüber in das neue System gerettet hatten.

Eine Stunde arbeiteten sie sich verbal an der jungen Frau ab: „Was bilden Sie sich ein? Der Mann ist ein Spion! Glauben Sie, Sie hätten ihn vom Sozialismus überzeugen können?“ Martina wurde beschimpft und zunehmend in die Enge getrieben. Dabei wurden die Fragen immer indiskreter: „Sie sind ein politischer Versager! Hat der Mann Sie angefasst? Haben Sie den geküsst? Haben Sie mit dem geschlafen?“

»Das hättest du wissen können, wenn du mit einem Westler anbandelst.«

„Die haben mich regelrecht fertiggemacht“, erinnert sich Martina heute mit zittriger Stimme. Am Ende der Tirade wurde ihr mitgeteilt: So politisch unreif, wie sie sei, könne man ihr nicht gestatten zu studieren. Sie müsse noch ein Jahr in der Obhut der National-Zeitung bleiben, um sich zu bewähren. Zudem wurde gedroht: „Nehmen Sie keinen Kontakt mehr mit dem Mann auf, wir lassen Sie ab jetzt von der Stasi überwachen.“

Auf einmal stand Martina auf der Seite jener Menschen, die keinen sicheren Platz mehr im System der DDR hatten. Was muss das für ein Staat gewesen sein, der Angst vor dem Sommerflirt einer Teenagerin hatte?

Verständnis oder gar Verteidigung konnte sie nicht erwarten, noch nicht einmal von engen Freunden oder ihrer Familie. „Die gingen auf Abstand“, erzählt Martina und fügt hinzu: „Sie vertraten die Haltung, dass ich mir das selbst zuzuschreiben hätte. Es hieß: Das hättest du wissen können, wenn du mit einem Westler anbandelst.“ Dann zögert sie eine Weile und sagt: „Es ging mir ganz fürchterlich.“ Vor allem die Reaktion ihrer Mutter brannte sich Martina ins Gedächtnis. Kreischend und zeternd machte sie ihrer Tochter Vorwürfe: „Um Gottes Willen! Deinetwegen dürfen deine Geschwister jetzt auch nicht studieren und ich verliere meinen Job.“

»Ich war gezwungen ihm zu schreiben, dass ich einen anderen Typen hätte.«

Am nächsten Tag wurde die Mutter tatsächlich zu den „alten Säcken“ bestellt, um über die Verfehlung ihrer Tochter Bericht zu erstatten. Als sie von ihrem Verhör zurückkam, nötigte sie Martina, einen handschriftlichen Brief an Jens zu verfassen: „Ich war gezwungen ihm zu schreiben, dass ich einen anderen Typen hätte und daher nichts mehr von ihm hören oder sehen wollte.“

Nachdem der erzwungene, von vorne bis hinten gelogene Text abgeschickt war, tobte es in Martina. Dabei erinnerte sich wieder an Jens’ Abschiedsworte, die ihr damals in Rostock eher unwichtig erschienen waren: Wenn sie Ärger bekomme, sagte er damals, solle sie eine Nachricht an seinen Bruder in Westberlin schicken. Adresse: Knesebeckstraße 16. In den darauffolgenden Tagen stand Martina unzählige Male am sogenannten Tränenpalast, der berühmt-berüchtigten Grenzübergangsstelle am Bahnhof Friedrichstraße. In ihren Händen hielt sie die fertig formulierten Zeilen, doch am Ende traute sie sich einfach nicht, einen fremdem Westtouristen anzusprechen und ihn zu bitten, ihren Brief in den anderen Teil der Stadt zu schmuggeln.

„Ich gab mir selbst die Schuld an meinem Unglück“, berichtet Martina. „Ich warf mir vor, dass ich damals in Rostock so naiv war und mir keine Gedanken über die drohenden Konsequenzen gemacht hatte. Und so war ich mit meiner Situation absolut einsam und alleine“, sagt sie mit feuchten Augen. Aber trotz der enormen Einschüchterungen rebellierte Martinas eigenes Wertesystem gegen irgendeine Einsicht, gegen irgendeine Läuterung: „Ich hatte nicht das Gefühl, etwas Verwerfliches gemacht zu haben, dafür hatte ich mich in diesen Mann einfach zu sehr verliebt. Daher war ich fest davon überzeugt: Die haben gar kein Recht, daran irgendetwas Falsches zu sehen!“

Die Repressalien

»Als du auf Toilette warst, hat der Typ deine gesamte Handtasche durchwühlt.«

In den Wochen nach dem Vorfall wurde Martina in ihrem Arbeitsumfeld von vielen Menschen gemieden. Reden konnte sie mit niemandem. Eines Tages ging sie mit einem entfernten Kollegen aus der Redaktion ein Bier um die Ecke des Verlags trinken. Ein paar Schriftsetzer saßen am Nebentisch. Am nächsten Morgen erzählten ihr diese Mitarbeiter: „Weißt du, mit wem du da gesessen hast? Als du auf Toilette warst, hat der Typ deine gesamte Handtasche durchwühlt und deinen Ausweis rausgenommen.“

Von da an war Martina allen Menschen gegenüber misstrauisch. „Wenn jemand freundlich zu mir war, bin ich sofort auf Abstand gegangen. Ich fragte mich immer: Ist der von der Stasi oder ist das einfach nur ein netter Mensch?“, beschreibt sie ihr damaliges Bauchgefühl. Dieses grundsätzliche Misstrauen setzte sich lange in ihr fest. Sie lernte, ihre Gedanken zurückhalten und den Blick zu senken. Außerdem versuchte sie in den folgenden Monaten, so fleißig wie möglich zu sein, um sich zu „bewähren“ und doch noch studieren zu können. Immer wieder wurde sie von ihren Vorgesetzten dazu gedrängt, endlich in die NDPD einzutreten.

Noch heute erinnert sich Martina an einen besonders unpassenden Überredungsversuch eines Parteimitglieds: „Sie müssen uns zeigen, dass wir füreinander gut sind. Das ist wie in einer guten Ehe: So kann man sich beweisen, dass man auch nach Verfehlungen wieder Vertrauen zueinander finden kann.“

»Meinen Sie denn, dass die Arbeiterklasse Schlamm wäre?«

Doch Martina weigerte sich jedes Mal, einen Mitgliedsantrag zu unterschreiben. Mit dieser Altnazi-Partei wollte das junge Mädchen nichts zu tun haben, auch nicht auf dem Papier. Die Strafe: Auch nach einem Jahr Bewährungs-Sanktion wurde ihr das Studium erneut verweigert und der Chefredakteur drohte: „Bilden Sie sich nicht ein, dass Sie irgendwo was anderes finden. Wir kennen uns hier und werden die Kollegen vorwarnen.“ In Gesamt-Ostdeutschland könne sie ohne das Wohlwollen der National-Zeitung keine Journalistin mehr werden.

Nach zwei Jahren Wartezeit und diversen Erpressungsversuchen schmiss Martina hin. Die Abschiedsworte aus dem Verlag: „Wir haben Ihnen alle Brücken gebaut, aber wenn Sie durch Schlamm waten wollen, bitte sehr!“ Martina nahm all ihren Mut zusammen und schleuderte folgende Frage zurück: „Meinen Sie denn, dass die Arbeiterklasse Schlamm wäre?“ Bevor sie sich umdrehte, sah sie noch die verdutzten Gesichter, die ihre vorbildliche sozialistische Antwort hinterlassen hatte.

Das Leben

»Das hatte nicht die gleiche Qualität wie mit Jens und mir.«

1973 fand die junge Frau eine Anstellung als Sekretärin an der renommierten Akademie der Wissenschaften. Ihr „politischer Fehler“, wie sie ihn nennt, begleitete sie auf Schritt und Tritt. Doch dann tat sich ein Jahr später eine ungewöhnliche Chance auf: An der Humboldt Universität wurde ein Lehrstuhl für Soziologie geschaffen. Martina bewarb sich umgehend um einen Studienplatz – mit Erfolg. Der Grund war simpel: An der Universität wurde die Personalakte nicht weitergeführt, sondern ein ganz neuer Ordner angelegt. Aus bürokratischer Sicht hatte sie wieder eine weiße Weste.

Auch wenn die Forschungsfelder streng von staatlicher Seite bestimmt und kontrolliert wurden, hatte Martina wenig Interesse an den Zielsetzungen der SED. So erinnert sie sich heute an glückliche und unbeschwerte Jahre, wenn sie an ihre Zeit an der Humboldt Universität zurückdenkt – auch weil sie gleich zu Beginn ihres Studiums ihren späteren Ehemann, Peter Geng, kennengelernt hatte. Jens war vergessen. Oder zumindest an einem Ort der Seele verschlossen, an den sich der Mensch im Alltag nicht mehr erinnert. Auch in Peter sei sie damals sehr verliebt gewesen, sagt Martina. „Aber das hatte nicht die gleiche Qualität wie mit Jens und mir.“

»Zu Ostzeiten war Scheidung noch viel einfacher.«

Dennoch ging das Leben seinen fast üblichen Gang. Das Paar bekam zwei Kinder, 1974 wurde die erste Tochter geboren, 1977 die zweite. Ein Jahr vor der Geburt des zweiten Kindes heirateten Martina und Peter – was übrigens zu dieser Zeit in Westdeutschland mindestens als unkonventionell angesehen worden wäre, wenn nicht sogar als unmöglich. Dem jungen Paar wurde eine eigene Wohnung zugewiesen und neben dem Studienstipendium gab’s vom Staat auch noch Geld für die Kinder. Jobben, wie man es heute auf Neudeutsch nennen würde, mussten sie nicht. Natürlich war das Geld immer knapp, dennoch hatten junge Familien im sozialistischen System oft bessere Ausgangschancen als im Westen.

Leider stellte sich im Laufe der Ehe heraus, dass Peter alkoholabhängig war. Nach Jahren der Co-Abhängigkeit ließ sich Martina 1986 scheiden. “Gott sei Dank noch vor dem Mauerfall! Zu Ostzeiten war Scheidung noch viel einfacher“, kommentiert sie den Vorgang aus der heutigen Perspektive.

Der Mauerfall

»In den letzen Jahren der DDR gab es ständig Abschiede, das waren immer große, traurige Feiern.«

Die Jahre kurz vor der friedlichen Revolution verbrachte Martina als Mitarbeiterin an der Akademie der Künste, wohin sie nach Abschluss ihres Studiums zurückkehrte. Die Akademie galt in dem sozialistischen Staat als eines der liberalsten Institute. „Für DDR-Verhältnisse war das eine Oase der Freiheit“, erinnert sich Martina. „Im Kollegium waren wir geistig frei. An den Sozialismus glaubten wir schon lange nicht mehr.“

Der Gedanke an eine Flucht kam ihr in all den Jahren aber nie. Dafür habe sie zu viel Verantwortung mit den Kindern gehabt, sagt sie. Und außerdem gab es zu viele Leute, an denen sie hing. Freunde, Bekannte, Familie. Dennoch hatte sie sich – wie viele andere – daran gewöhnt, Menschen an ein Leben im Westen zu verlieren. „In den letzen Jahren der DDR gab es ständig Abschiede, das waren immer große, traurige Feiern. Ich wäre gerne gegangen, aber das wollte ich weder meinen beiden Mädels zumuten noch mir selbst“, sagt sie.

Im Herbst 1989 beteiligte sich Martina mit Kollegen an den Ablegern der Leipziger Montagsdemos in Berlin. Als am 4. November 1989 eine Großdemonstration rund um den Alexanderplatz stattfand, lauschte sie nicht nur den Reden von Künstlergrößen wie Jan-Josef Liefers oder Ulrich Mühe. Sie wurde auch Zeugin, wie sich Günter Schabowski, damals Mitglied des Zentralkomitees der SED, auf der Bühne als einer der wenigen DDR-Führungspolitiker den tobenden Bürgern stellte.

»Ich stand im Supermarkt und wusste nicht, welche Zahnpasta ich kaufen sollte.«

Als am 9. November kurz nach 21 Uhr die Mauer schließlich fiel, war Martina überglücklich. Sie selbst wagte an diesem Abend jedoch noch nicht über die Grenze, da ihre beiden Töchter im Bett lagen und schliefen. „In diesen Stunden war alles so ungewiss, man wusste nicht genau, ob man wieder zurückkommen darf“, berichtet sie. Doch am nächsten Tag war auch ihre Neugierde so groß, dass sie sich mit Kolleginnen zu einem Spaziergang über den Grenzübergang Bornholmer Straße verabredete. Als sie die deutsch-deutsche Grenze passiert hatten, lagen sich die Frauen heulend in den Armen. Noch heute kommen Martina die Tränen, wenn sie im Fernsehen Berichte über den Mauerfall sieht.

Obwohl die alleinerziehende Mutter in der aufwühlenden Zeit nach dem 9. November 1989 auch erstmals wieder an Jens dachte, hatte für sie zunächst die Eingliederung in die neue Ordnung oberste Priorität. „Wir mussten uns ganz neu orientieren. Ich stand im Supermarkt und wusste nicht, welche Zahnpasta ich kaufen sollte“, beschreibt Martina die Erfahrungen vieler Ostdeutsche in den frühen Neunzigern. „In den Jahren war ich ganz schön damit beschäftigt, mich in diesem Wessi-Staat zurechtzufinden.“

»Der hat doch bestimmt Familie und erinnert sich gar nicht mehr an dich.«

Am meisten genoss sie die plötzliche Reisefreiheit. Nach der Grenzöffnung nahm sie die Bahn nach Hamburg oder fuhr mit ihren Töchtern von Kreuzberg aus nach Italien und Norwegen. Doch die Schattenseiten ließen nicht lange auf sich warten. Wie so viele Ostdeutsche wurde auch Martina bald nach der Wende arbeitslos. Die Akademie der Künste im Osten musste ihre Mitarbeiterzahl von 300 auf 30 reduzieren, nachdem sie mit ihrem Westberliner Pendant fusioniert war.

Ende 1992, das Leben im wiedervereinten Deutschland wurde allmählich zur Normalität, schob sich auch immer öfter das Gesicht von Jens vor Martinas geistiges Auge. Sie suchte die beiden Liebesbriefe heraus, die sie damals von ihm erhalten hatte. Die Sehnsucht nach diesem Mann pochte nach all den Jahren immer noch in ihr. „Ich habe überlegt, ob ich ihn suchen soll. Doch ich hielt mich zurück, weil ich mir dachte: Was für ein Quatsch, Martina! Der hat doch bestimmt Familie und erinnert sich gar nicht mehr an dich.“ In einem Moment des Loslassens verbrannte sie die wertvollen Briefe. „Inzwischen denke ich, dass ich ihn damit herbeigehext habe“, lacht Martina.

Die Wiedervereinigung

»Wenn das Telefon klingelt und ein Mann nach mir fragt, dann sag ihm, dass Mama nicht zuhause ist.«

Ein Vierteljahr später klingelte das Telefon zu einer ungewöhnlichen Tageszeit. Martina hatte damals einen ungewollten Verehrer, deshalb hatte sie ihrer jüngsten Tochter eingeimpft: „Wenn das Telefon klingelt und ein Mann nach mir fragt, dann sag ihm, dass Mama nicht zuhause ist.“

Als die Tochter das Telefonat annahm, saß Martina im Nebenraum und hörte, wie aus dem anfänglichen Abwimmelversuch ein immer längeres Telefonat wurde, von dem sie hier und da die bruchstückhaften Antworten ihrer Tochter mitbekam: „Mama ist nicht zuhause… Ich bin 14, meine Schwester ist 16… Nein, meine Eltern sind geschieden.“

Nachdem Martinas Tochter aufgelegt hatte, kommentierte sie den gespannten Blick ihrer Mutter wie folgt: „Ich soll dich schön grüßen – von einem Jens Jahnke. Ihr seid euch vor 22 Jahren mal begegnet. Er ruft wieder an.“

»Da ist mir schwarz vor Augen geworden.«

„Da ist mir schwarz vor Augen geworden“, erinnert sich Martina. Sie sank tief in einen Sessel und plötzlich kam alles wieder hoch: die zarte Leidenschaft der gemeinsamen Sommertage und die zerstörerischen Repressalien, die dem unschuldigen Flirt in Rostock folgten und den Lauf ihres Lebens für immer veränderten.

Marina saß wartend am Telefon. Kurz vor Mitternacht klingelte es erneut. Es war Jens. Zum ersten Mal seit 22 Jahren hörte sie wieder seine Stimme. Er sei zufällig auf einer Tagung in Potsdam, sagte er, und es sei ihm eingefallen, dass Martina in Berlin wohne. Jens hatte ursprünglich vor, das gesamte Berliner Telefonbuch nach dem Namen Schirrmacher abzutelefonieren. Da Martinas Schwester nie geheiratet hatte und mit Vornamen Andrea hieß, hatte er das Glück, gleich beim ersten Versuch an jemanden zu geraten, der ihm die Nummer von Martina nennen konnte.

In einem stundenlangen Telefonat erzählten sich die beiden, was sie in den letzen zwei Dekaden im Leben des jeweils anderen verpasst hatten. Es schmerze ihn sehr zu erfahren, dass ihre Rostocker Begegnung zu so viel Leid in Martinas Leben geführt hatte. Im Gegensatz zu Martina hatte Jens das Glück, dass er viele Jahre lang als Journalist für die Frankfurter Rundschau und das ZDF um die ganze Welt reisen durfte. Später lebte er im Rahmen längerer Projekte in Südamerika und Indien.

»Ich komme zu dir nach Hause. Du entkommst mir sowieso nicht!«

Auch wenn Jens auf der kapitalistischen Seite der Mauer ganz andere Erfahrungen gemacht hatte als Martina, so zeigten sich doch überraschende Parallelen. Beide hatten im selben Jahr geheiratet, beide wurden Eltern von zwei Kindern, die im selben Jahr und sogar im selben Monat das Licht der Welt erblickten. Jens wurde Vater eines Sohnes und einer Tochter. Dieser gab er den Zweitnamen Martina, ganz bewusst nach seiner verflossenen Sommerliebe – seine Frau kannte die Geschichte. Doch mittlerweile lag auch seine Ehe in Trümmern. Später gab er zu: Den Kongress in Potsdam hatte er nur vorgetäuscht. Er war ausschließlich nach Berlin gekommen, um Martina zu suchen.

Am Ende dieses ersten Telefonats fragte Jens, wann sie sich persönlich treffen könnten. Martina schlug ein Café im Prenzlauer Berg vor, um eine gewisse Distanz zu wahren. Doch Jens fasste einen anderen Beschluss: „Nein, ich komme zu dir nach Hause. Du entkommst mir sowieso nicht!“

Aufgeregt wie ein Teenager wartete Martina auf einen Mann, den sie zuletzt gesehen hatte, als sie gerade 19 und er 28 Jahre alt war. Sie wusste, dass sie sich auf einen Glatzkopf einstellen musste. Doch als er vor ihr stand und sein Kopf über einem riesengroßen Blumenstrauß auftauchte, entdeckte sie kaum Spuren des Alters. Stattdessen waren die Augen und das Lächeln genauso wie in ihrer Erinnerung.

»Es fühlte sich an, als hätten wir uns vorgestern zuletzt getroffen.«

Die beiden lagen sich sofort und sehr lange in den Armen: „Es fühlte sich an, als hätten wir uns vorgestern zuletzt getroffen. An dieser Begegnung war absolut nichts Fremdes.“ Nach einem langen Gesprächsabend in der Küche folgte eine leidenschaftliche Nacht – die erste von vielen. „Gefühlt ist er sofort bei mit eingezogen. Und nie wieder gegangen.“

Das wiedervereinigte Paar reiste viel zusammen und genoss einen großen, illustren Freundeskreis. Die wilden Jahre im Prenzlauer Berg wurden von schwärmerischen Ausflügen mit einem Campingbus abgelöst, ein uraltes DDR-Gefährt, das Jens eigenhändig umgebaut hatte. Irgendwann führte sie eine ihrer vielen Touren an den Werbellinkanal in Eichhorst, einem beschaulichen Brandenburger Örtchen eine Stunde von Berlin entfernt. Die beiden fanden es dort so schön, dass sie sich zuerst einen Garten an der Wasserstraße und später ein Haus in dem kleinen Dorf kauften.

Mitte der Nullerjahre wurde Jens, der Wessi, sogar Bürgermeister dieses ostdeutschen Ortes. Seine wichtigste Mission: Eichhorst hatte keine einzige Kneipe und das passte dem geselligen Lebemann überhaupt nicht. Noch in seiner Amtszeit machten drei verschiedene Gastronomien auf. Martina erzählt von einem bunten Leben in einem bunten Haus, voller Bücher und Katzen, mit einer gemütlichen Küche. Noch heute ist die Wand mit Fotos geschmückt ist, die Jens von Martina während der Zubereitung eines Festtagsvogels geschossen hatte. Auf der anderen Seite hängen zwei Portraitfotos der beiden – direkt nebeneinander. Während das Martinas Bild in jener Woche von Jens aufgenommen wurde, in der sie sich in Rostock begegneten, wurde sein Portrait von einem Freund in Kalkutta fotografiert.

»Es war nicht immer ganz einfach mit ihm. Aber mit den Dingen, die mir wichtig waren, habe ich mich durchgesetzt.«

Martina und Jens hatten noch 18 gemeinsame Jahre, bevor Jens, der Impulsmensch, 2011 an Herzversagen verstarb. Bereits Ende 1999 hatte er einen ersten Infarkt. „Es war nicht immer ganz einfach mit ihm, war er in seiner Art doch recht dominant“, sagt Martina und ergänzt: „Aber mit den Dingen, die mir wichtig waren, habe ich mich durchgesetzt.“ Sie schweigt für einen Moment, dann fährt sie mit ihren Erinnerungen fort: „Mit Jens war es immer unheimlich spannend, weil er wirklich ständig neue Ideen hatte. So einen Menschen habe ich weder zuvor noch jemals danach wieder erlebt.“

Auch wenn Martina es nie ganz verschmerzt hat, dass sie kein Leben als Journalistin führen durfte, empfindet sie sich doch als Gewinnerin über die DDR-Diktatur. „Jens wieder zu begegnen war ein später, aber toller Ausgleich für das, was ich damals verloren hatte. Es ist ein unfassbares Geschenk der Geschichte, dass wir doch noch so viele Jahre miteinander verbringen durften.“


Sebastian Schneider

Portrait — Sebastian Schneider

Anleitung zum guten Leben

Was wäre die Welt ohne das geschriebene Wort? Und was wäre das geschriebene Wort ohne die Menschen, die es auf die Theaterbühne bringen? Wir haben Schauspieler Sebastian Schneider fast ein Jahr lang begleitet und erfahren, warum ein Buch wie ein bester Freund sein kann. Und wieso es wichtig ist, das Unbekannte zu umarmen.

30. Oktober 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

Die folgende Geschichte – also alles, was sich über die Dauer von fast einem Jahr ereignen wird –, beginnt mit einem simplen Post auf Instagram. Am 3. November 2018 veröffentlicht dort Sebastian Schneider, Theater- und Filmschauspieler und zu dieser Zeit 27 Jahre alt, in einer Insta-Story folgende Textpassage, die er aus einem Buch abfotografiert hat:

„Popmusik ist die Form der Menschen, verstehen Sie? Wenn Intellektuelle mit den Menschen zu kommunizieren versuchen, scheitern sie in der Regel. Das ist, als versuchte man, in Japan in Althochdeutsch oder Französisch zu kommunizieren. Wenn man nach Japan geht, sollte man japanisch sprechen. Der ganze intellektuelle Müll dieses Ritual, das daraus gemacht wird, interessiert mich nicht. Man muss sich auf das wirkliche Gefühl – das einfache, menschliche Gefühl – besinnen und es in einer einfachen Sprache ausdrücken, die die Menschen erreicht. Ohne Firlefanz. Wenn ich den Menschen etwas mitteilen will, sollte ich deren Sprache sprechen. Popsongs haben diese Sprache. Sie sind eine sehr starke Form der Kommunikation.“

Es sind die Worte von Yoko Ono, die im Jahr 1980 zusammen mit John Lennon dem Journalisten David Sheff ein dreiwöchiges Interview gab. Dieses Interview, das das letzte gemeinsame des weltberühmten Künstlerpaars werden sollte, erschien am 6. Dezember 1980 im Playboy. Zwei Jahre später wurde es erneut veröffentlicht, in einem Buch mit dem Titel „Die Ballade von John und Yoko: Das letzte große Interview“. Und so fand dieses Gespräch irgendwann auch den Weg in die Hände von Sebastian Schneider, der es liebt, Texte als kleine Kostbarkeiten zu verpacken und sie anderen genauso nah ans Herz zu legen wie sich selbst. Wer ist wohl dieser Mensch? Und wie ist er?

1. Akt: Gorgonzola Club

Vier Wochen später, wir haben uns mit Sebastian zum Pizzaessen verabredet. Vorgeschlagen hat er das Restaurant Gorgonzola Club, das man im Berliner Stadtteil Kreuzberg in einer kleinen Seitenstraße zwischen Kottbusser Tor und Oranienplatz findet. Als wir das Lokal betreten, ist der junge Schauspieler bereits da und sitzt an einem kleinen Tisch mit dem Rücken zu einem großen Fenster. Seine aufrechte, leicht gespannten Körperhaltung hinterlässt zusammen mit den streng zurückgekämmten Haaren einen Eindruck, den man vor einigen Jahrzehnten wohl als aufgeräumt bezeichnet hätte. Sebastians Rücken wirkt so durchgedrückt, wie es sich bei Tisch wohl alle Omis dieser Welt von ihren bei Enkeln nur so wünschen würden.

A propos Omis: Noch bevor wir einen ersten Blick in die Karte geworfen haben, lässt uns Sebastian wissen, dass er nach der Pizza auf jeden Fall noch ein besonderes Dessert bestellen wird: Vanilleeis mit heißen Himbeeren – eine Nachtischbombe, die bei vielen von uns Erinnerungen an zuhause und an Omas gute Küche weckt.

Das Besondere an Sebastians Bestellhinweis ist nicht die Information an sich. Sondern die Art und Weise, wie er sie vermittelt. Der Schauspieler ist jemand, der die Gabe hat, das eher Beiläufige mal kurz zum Unbedingten zu erklären – allerdings ohne dabei Gefahr zu laufen, das Profane mit den wirklich großen Themen des Lebens auf eine Stufe zu stellen. Zu den wichtigsten Gehilfen seines Ausdrucks zählen außerdem die dunkle, akzentuierte Stimme und die wachen Augen, die sein jeweiliges Gegenüber im Gespräch wie Suchscheinwerfer in den Fokus nehmen – und dort lassen, bis das zu Sagende gesagt ist.

Wir bestellen Pizza und Weißwein. Sebastian greift in die Innentasche seiner Jacke, zieht ein Buch heraus und legt es vor sich auf den Tisch: Die Ballade von John und Yoko: Das letzte große Interview. „Zu der Zeit, als ich dieses Buch gelesen habe“, beginnt er zu erzählen, „habe ich auch sehr viel Musik von den Beatles gehört – wahrscheinlich, weil ich das in meiner Kindheit verpasst habe.“ Dabei sei vor allem der Song For No One bei ihm hängengeblieben. „Dieser Song handelt von einer Liebe, die vorbei ist“, erklärt Sebastian. „Die Melodie ist total einfach, der Text aber sehr tiefsinnig. Das macht den Song für mich so allgültig und zu einem der schönsten Liebeslieder, die ich je gehört habe“, gesteht er und fügt hinzu: „Dieser Song geht jedem direkt ins Herz – der Beat ist so schnell wie das Leben, das an einem vorbeirauscht, wenn man es nicht irgendwann mal packt.“

»Manchmal hat man ein Buch dabei wie einen besten Freund.«

Die besagte Textstelle, die er damals auf Instagram gepostet habe, thematisiere genau das, lässt uns Sebastian wissen. Wie in der Musik gehe es auch in der Schauspielerei darum, sich auf das wirkliche Gefühl – das einfache, menschliche Gefühl – zu besinnen und es in einer einfachen Sprache ausdrücken, die die Menschen erreiche. „Lies dieses Buch!“, stößt es aus ihm heraus. „Es ist voller großer, wichtiger Gedanken. Manchmal hat man ein Buch dabei wie einen besten Freund. Ich trage es seit Wochen in meiner Tasche und habe gerade in der U-Bahn nochmal darin gelesen. Das, was John und Yoko sagen, ist eigentlich recht einfach – aber trotzdem ist es extrem wichtig, dass es überhaupt jemand sagt.“

Bei diesem ersten Gespräch mit Sebastian Schneider trägt er einen dunkelgrauen Pullover, auf dem in Brusthöhe die Worte Don’t look back zu lesen sind. Wer in den Neunzigerjahren aufgewachsen ist und den Aufstieg und Niedergang der Band Oasis erlebt hat – und sei es nur beiläufig im Radio –, fühlt sich fast automatisch dazu hingerissen, in anger zu addieren. „Natürlich ist es auch wichtig, in die Vergangenheit zu blicken“, sagt Sebastian. „Viel interessanter finde ich es aber, nach vorne zu schauen.“ Ein Lebensmotto sei dieser Satz allerdings nicht, fügt er hinzu. „Don’t look back ist eine Verneinung. Wenn ich tatsächlich ein Motto für mich persönlich formulieren müsste, würde ich daraus immer ein Ja machen – etwas Positives.“

Aufgewachsen ist der Schauspieler im niedersächsischen Ottersberg, einem kleinen Dorf in der Nähe von Bremen, wo er eine Waldorfschule besuchte. Besonders in Erinnerung geblieben, so erzählt er, sei ihm ein äußerst engagierter Klassenlehrer, der in der 8. Klasse mit den Schülerinnen und Schülern sechs Wochen lang das Theaterstück Der Herr der Fliegen von William Golding einstudierte: „Dieser Lehrer hatte vor den Proben zwei Tonnen Sand besorgt und auf die Bühne gekippt. Wir Kinder sollten dann diverse Topfpflanzen von zuhause mitbringen, mit denen wir auf dem Sand das Bühnenbild errichtet haben: einen Dschungel.“

Ein leichtes Grinsen wandert über Sebastians Gesicht. „Wenn ich mich daran zurückerinnere, waren diese sechs Wochen für mich das Geilste“, erklärt er. „In dieser Zeit habe ich gewusst, warum ich zur Schule gehe – dafür habe ich mich sonst nie so wirklich interessiert.“ Ohnehin habe er sich als Kind viel gelangweilt, gesteht er und fährt fort: „Es gab damals nichts anderes, bei dem ich so viel Kraft, Begeisterung und Schonungslosigkeit aufbringen konnte wie in dieser Theaterzeit.“

»Ich bin ein Staunender bei allem, was ich erlebe.«

Schon in der ersten Klasse spielte Sebastian einen Feuergeist. Die Aufführung fand im Freien und bei starkem Regen statt, doch das war ihm egal. „Nach der Vorstellung haben mich die Leute dafür gelobt, dass sie mich trotz des schlechten Wetters bis in die letzte Reihe verstehen konnten. Das war ein tolles Kompliment und hat mir sehr geschmeichelt.“

Durch die Schulaufführungen hatte der Junge Blut geleckt. Und so dauerte es nicht lange, bis er auch außerhalb der Schulzeit Theater spielen wollte. Er lernte das Theater am Goetheplatz in Bremen kennen und übernahm dort wenig später erste Rollen. Das altehrwürdige Haus im Bremer „Viertel“ hatte es ihm aber nicht nur als Schauspieler angetan, sondern auch als Zuschauer. „Ich habe an diesem Ort wirklich sehr viel Zeit verbracht“, erzählt er. „Oft saß ich staunend im Publikum und dachte: Mein Gott, was macht ihr da! Ich war völlig beeindruckt von diesem besonderen Kosmos, den ich dort kennenlernen durfte, und wollte unbedingt Teil dessen sein.“

Dieses Staunen, von dem Sebastian berichtet, ist etwas, was ihm in den folgenden Jahren immer wieder begegnen sollte. „Ich bin ein Staunender bei allem, was ich erlebe – vor allem in Situationen, mit denen ich nie gerechnet hätte“, erklärt er und fügt hinzu: „Ich staune sehr oft und sehr viel in meinem Leben.“ Doch er habe ebenso feststellen müssen, sagt er, dass gerade dieses anfängliche Staunen, das er als jugendlicher Zuschauer im Bremer Theater immer wieder an sich selbst erlebte, mit den Jahren abgenommen habe. „Diese Art von Staunen ist mir auf jeden Fall abhandengekommen – oder hat sich zumindest sehr verändert“, sagt Sebastian. „Manchmal passiert es zwar wieder– aber das kostet etwas.“

»Wenn man aus so einer Liebe einen Beruf macht, verändert sich der Blick darauf.«

Der Grund, warum diese Art des Staunens mit der Zeit immer seltener geworden sei, sei ganz banal, erklärt er: „Wenn man aus so einer Liebe einen Beruf macht, verändert sich der Blick darauf.“ Dass es überhaupt so weit kam in Sebastians Leben, liegt an den Darstellerinnen und Darstellern, die er am Bremer Schauspielhaus kennengelernt hatte. Von ihnen erfuhr er, dass es so etwas wie Schauspielschulen gibt, an denen man diesen Beruf von Grund auf erlernen kann. Das wusste er bis dahin nicht – und so stand für den mittlerweile 18-Jährigen relativ schnell fest, was er nach der Schule machen wollte. Sein Abitur hatte er da gerade mit Ach und Krach bestanden.

Was folgte, waren vier Jahre Ausbildung an einer der renommiertesten Schauspielschulen Deutschlands, der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin. „Als ich angefangen habe, dort zu studieren, hatte ich keine Ahnung von nichts“, erinnert sich Sebastian „Ich war ein kleiner Junge. Und so war ich erst mal völlig weggefegt von dem, was mir dort entgegenkam.“

An der Schauspielschule, so erklärt er, befinde man sich in der besonderen Situation, dass man fast ununterbrochen mit Leuten zusammen sei, die das Gleiche machen und lieben wie man selbst. „Das sind Menschen, die alle einen ganz ähnlichen Weg gegangen sind – und die sich irgendwann entschieden haben, mit der Schauspielerei ernst zu machen“, sagt er und ergänzt: „Das war für mich manchmal auch schwierig, denn ich war jetzt nicht mehr der Einzige.“ Diese Zeit habe ihn sehr verändert, erzählt Sebastian. „In diesen vier Jahren Ausbildung bin ich irgendwie erwachsen geworden – falls ich überhaupt jemals erwachsen werde, ich weiß es nicht so genau.“ Und er fügt hinzu „Man lernt einen Beruf und ist gleichzeitig Teil einer Konstellation von Menschen, die alle von Anfang an das große Bedürfnis hatten, sich viel voneinander zu geben.“

»Uns hat interessiert, was wir in der heutigen Zeit mit Heiner Müller anfangen können – wir, die wir alle nach 1989 geboren sind.«

Diese Verbindung zu seinen Mitstudentinnen und -studenten war so stark, dass sie selbst bestehen blieb, als er im Jahr 2015 sein Studium an der „Ernst Busch“ erfolgreich beendete. Zusammen mit fünf anderen Schauspielern formte Sebastian eine Theatergruppe, die den Namen Neues Künstlertheater Berlin trägt und bis heute immer wieder gemeinsam Stücke erarbeitet und auf die Bühne bringt.

Ihre Geburtsstunde erlebte die Theatergruppe bereits 2014, als die jungen Künstlerinnen und Künstler sich mit dem Antikendrama Philoktet von Heiner Müller beschäftigten. Müller gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Dramatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerpersönlichkeiten der DDR. „An der Busch gibt es etliche Dozentinnen und Dozenten, die in der ehemaligen DDR lebten und arbeiteten“, erklärt Sebastian. „Dementsprechend kann dort jeder ganz genau sagen, wie man Heiner Müller macht – oder besser gesagt, wie man diese Sprache spricht und wie man seine Werke inszenieren muss.“ Das habe ihm und seinen Kommilitonen damals aber nicht gereicht: „Dieser Text ist ein sehr politischer. Daher hat uns vor allem interessiert, was wir persönlich in der heutigen Zeit mit diesem Stück und dem Autor Heiner Müller anfangen können – wir mit unserer kurzen Vergangenheit, die wir alle nach 1989 geboren und in Westdeutschland aufgewachsen sind.“

Die sechsköpfige Truppe nahm sich zu Beginn der Proben zwei Wochen Zeit und ging mit dem Text in Klausur. „Wir haben uns vorgenommen“, erzählt Sebastian, „dass wir uns 14 Tage geben. Sollten es uns in dieser Zeit nicht gelingen, irgendetwas mit dem Stück anzufangen, nehmen wir ein anderes.“ Sebastian macht eine kurze Pause, dann fügt er hinzu: „Aber wir haben uns in diesen Text wortwörtlich verliebt – und so haben wir daraus eine eigene Inszenierung gemacht. Und nicht nur das, wir haben dabei auch eine ganz eigene Arbeitsweise entwickelt. In dieser intensiven Probenzeit entstand zwischen uns ein besonderer Zusammenhalt, der bis heute besteht.“

»Mein Bauchgefühl hat mir gesagt, dass meine Arbeit in Bern nicht viel mit dem zu tun hat, was ich für mein Leben möchte.«

Seit 2014 hat das Neue Künstlertheater Berlin Heiner Müllers Philoktet immer wieder aufgeführt, in ständig wechselnden Konstellationen, Orten und Darstellungsweisen. „Unser Stück verändert sich dauernd“, erklärt Sebastian. „Das liegt daran, dass es einen inhaltlichen Bezug zur aktuellen Lage der Welt herstellt – und die verändert sich ebenso permanent.“ Was sich im Laufe der Jahre auch veränderte, war die Gruppe selbst. Bestand es 2014 aus sechs männlichen Schauspielern, verdoppelte sie in fünf Jahren nicht nur die Anzahl ihrer Mitglieder, sondern reduzierte auch signifikant die Männerquote von anfangs einhundert Prozent.

Auch wenn sich die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler mit dem Neuen Künstlertheater Berlin eine gemeinsame Plattform geschaffen hatten, trieb es sie nach ihrem Abschluss an der „Ernst Busch“ und auf der Suche nach einem festen Engagement in alle Himmelsrichtungen. Sebastian fand eine Anstellung am Konzerttheater Bern – und erlebte dort „viel Konfrontation mit der Realität“, wie er berichtet. „Nach vier Jahren Schauspielschule war ich hundertprozentig sicher, dass ich ans Theater gehen will, um dort so viel es irgendwie geht zu spielen. Ich dachte: Das ist genau das, was ich machen will.“ Doch nach einer Spielzeit beendete Sebastian sein Engagement. „Ich habe plötzlich gemerkt, dass es für mich woanders weitergeht – aber wo genau, habe ich damals noch nicht gewusst. Mein Bauchgefühl hat mir gesagt, dass meine Arbeit in Bern nicht viel mit dem zu tun hat, was ich für mein Leben möchte.“ Diesem Bauchgefühl folgte er und zog kurzerhand zurück nach Berlin. Dennoch, das sei ihm wichtig zu sagen, habe er die Zeit in der Schweiz nie bereut. Dieses Jahr sei eine sehr wichtige Erfahrung für ihn gewesen.

»Man entscheidet jeden Tag selbst, wie man leben möchte.«

Dass diese Phase des Suchens keine einfache war, merkt man ihm an, zumindest für einen Moment. Wenn es um das eigene Leben geht, kann Angst ein ständiger Begleiter sein – ein Begleiter, der mit Dauerkarte jeden Abend im Publikum sitzt. Und sitzen bleibt, auch wenn die Vorstellung schon lange zu Ende ist. „Für mich war irgendwie klar, dass ich gegen Ängste kämpfen will, und zwar dauernd“, sagt Sebastian und fährt fort: „Angst ist manchmal ein Riesenmotor und manchmal ein Riesenhindernis. Als ich noch ein Teenager war, war meine Entscheidung, in die Schauspielerei zu gehen, eine völlig unbewusste und dementsprechend angstfreie. Aber mittlerweile denke ich anders über die Dinge nach und frage mich immer wieder, was Angst bedeutet. Dabei bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Angst genau anzuschauen, sie ernst zu nehmen und zu fragen, wo sie mich hinführt. Ob sie reagiert. Ob sie mich vielleicht sogar anlächelt und sagt: Hey, ich bin auch da! Aber das ist ok. Man entscheidet ja jeden Tag selbst, wie man leben möchte.“

Es ist spät geworden an diesem ersten Gesprächstermin. Wirkte Sebastian zu Beginn noch überaus aufgeräumt, scheint es jetzt fast so, als hätte er eine zweistündige Theateraufführung hinter sich – auf der Bühne, wohlgemerkt. Die streng zurückgekämmten Haare haben sich im Laufe des Abends zu einer wilden Frisur verwandelt, seine Gestik wurde energetischer, die Mimik bestimmter, die Stimme noch entschlossener.

Die Kellnerin des „Gorgonzola Club“ serviert einen großen Eisbecher mit heißen Himbeeren und nimmt die mittlerweile leere Weinflasche mit. Ein breites Grinsen wandert über Sebastians Gesicht. Für heute soll es genügen.

2. Akt: Aunt Benny

Fünf Monate später, es ist der 28. April 2019 und Sebastian Schneider seit wenigen Tagen 28 Jahre alt. Um unser Gespräch aus dem Dezember fortzusetzen, haben wir uns mit dem Schauspieler bei Aunt Benny verabredet, einem kleinen Café zwischen Ostkreuz und Frankfurter Allee.

Wie bei unserem ersten Treffen kurz vor Weihnachten ist Sebastian bereits da und sitzt gedankenversunken und mit dem Rücken zur Wand an einem kleinen Tisch – wobei sitzt nicht das treffende Wort ist. Halb kauernd, halb lehnend hat er seinen Oberkörper so ungewohnt in einen kleinen Wandvorsprung verdreht, dass es scheint, als wolle er sich in die kahle Wand kuscheln. Von seiner eigenen Körperhaltung völlig unbeeindruckt, hat er sich in ein Reclam-Büchlein vergraben, das er mit seiner rechten Hand dicht vor seiner Nase hält. Ein Industriestrahler, der genau über seinem Kopf hängt, dient ihm dabei als Leselampe.

Während wir diese etwas skurril anmutende Situation für einen Moment beobachten, fühlen wir uns an Sebastians Worte aus dem letzten Jahr erinnert: „Manchmal hat man ein Buch dabei wie einen besten Freund.“ Und so ist es uns fast ein wenig unangenehm, dieses freundschaftliche Zwiegespräch zu unterbrechen.

Aber die Sorge ist unbegründet. Sebastian empfängt uns mit einem freundlichen Blick und legt sein Büchlein zur Seite. Und bevor wir uns versehen, befinden wir uns auch schon wieder im Gespräch. Zurzeit arbeitete er mit seinem Neuen Künstlertheater Berlin an This Is Our Youth von Kenneth Lonergan, erzählt uns der Schauspieler. Das Stück, das im New York der frühen 1980er Jahre spielt und 1996 uraufgeführt wurde, erzählt die Geschichte des 19-jährigen Warren, der von seinem Vater zuhause rausgeworfen wird, diesem vorher noch 15.000 Dollar stiehlt und bei seinem älteren Freund und Drogendealer Dennis unterkommt. Die beiden laden zwei junge Frauen ein, mit ihnen Zeit zu verbringen, doch nur eine kommt: Modestudentin Jessica. Als sie in Dennis‘ Wohnung auftaucht, entsteht eine überraschende Dynamik zwischen den drei Protagonisten. Der Verlag S. Fischer findet dafür folgende Worte: „Es ist 1982 in New York, der Beginn der Reagan-Ära. Drei kiffende Teenager aus gutem Hause an der Schwelle zum Erwachsensein in einer Zeit, in der alles in Frage gestellt wird, was man ihnen in ihrer Kindheit beigebracht hat.“

»Man fängt an, sich locker zu unterhalten, und ehe man sich versieht, ist man bei den großen politischen Themen.«

„Das tolle an dem Stück ist“, sagt Sebastian, „dass es eine ganz außergewöhnliche Freundschaft erzählt. Dennis macht den drei Jahre jüngeren Warren eigentlich die ganze Zeit gnadenlos runter. Er schreibt ihm vor, wie er zu leben hat und erklärt ihm, wie die Welt funktioniert. Gleichzeitig merkt man zwischen den Zeilen, wie dringend sich beide gegenseitig brauchen.“ An dem Stück interessiere ihn vor allem, fügt er hinzu, dass es darin so viele Situationen gebe, die man selbst aus dem eigenen, realen Leben kenne. „Man fängt an, sich locker zu unterhalten, und ehe man sich versieht, ist man bei den großen politischen Themen“, erzählt Sebastian und verrät: „Im Original, das 1982 spielt, geht’s um Reagan. Vielleicht werden wir in unserer Inszenierung eher einen Bezug zu Trump herstellen, wer weiß.“

This Is Our Youth beeindrucke ihn und alle anderen Mitwirkende wegen der besonderen Konstellation der Charaktere, erzählt Sebastian. „Irgendwann werden von den drei jungen Leuten die großen Themen unserer Zeit diskutiert. Dabei entwickeln sie – in aller Beiläufigkeit – eine gewisse Wahrhaftigkeit. Das finden wir überaus spannend.“ Außerdem sei der Text so gut geschrieben, dass man sich da als Schauspieler „einfach reinfallen lassen und direkt finden“ könne, erklärt Sebastian und fügt hinzu: „Bis jetzt gab es beim Proben keinen einzigen Moment, in dem ich dachte: Wie machen wir das jetzt? Es ging immer sofort das Spiel los.“

Die gesellschaftspolitische Diskussion zwischen Dennis, Warren und Jessica spitzt sich im Laufe des Stücks immer weiter zu. Als die Situation zu eskalieren droht, schreitet Jessica ein und schlägt vor, einfach das Thema zu wechseln und unaufgeregt anzuerkennen, dass alle Beteiligten unterschiedlicher Meinung sind. „Ich finde diese Haltung großartig, vor allem von einer 19-Jährigen“, schwärmt Sebastian. „Unterm Strich heißt das doch: Du hast deine Meinung, ich habe meine – und das sagt überhaupt nichts über uns als Menschen aus. Ich finde, das ist eine Fähigkeit, die den meisten Leuten abhandengekommen ist. Wenn man das aufs große Ganze übertragen würde, bräuchte man am Ende vielleicht keine Kriege mehr.“

»Jeder Mensch hat eine andere Vorstellung davon, was ›das Böse‹ bedeutet.«

Folgender kurzer Dialog, so lässt uns Sebastian wissen, habe sich beim Lesen des Textes besonders in seine Erinnerung gebrannt: „Ich habe wirklich den Eindruck, dass in unserer Zeit das Böse triumphiert.“ – „Ja, das glaube ich auch.“

Auch wenn der Autor des Stücks, das in den frühen 1990er Jahren unter den Eindrücken der zurückliegenden Reagan-Ära entstand, nicht erahnen konnte, was in den USA und der Welt in den folgenden drei Jahrzehnten passieren sollte, wirkt dieser kurze Gedankenaustausch heute aktueller denn je. „Jeder Mensch hat eine andere Vorstellung davon, was das Böse bedeutet, daher ist es schauspielerisch sehr schwer, mit dem Begriff umzugehen“, sagt Sebastian. „Allerdings wurde gerade uns Deutschen geschichtlich eingemeißelt, was passieren kann, wenn das Böse triumphiert. Wenn ich Gottfried Benn, Mascha Kaléko oder Lion Feuchtwanger lese – also Autorinnen und Autoren, die die Zeit des Nationalsozialismus erlebt und in Texten verarbeitet haben –, da wird mir wirklich anders, insbesondere wenn ich Parallelen zu den Entwicklungen in unserer heutigen Gesellschaft denke.“

Trotzdem sei er kein Pessimist, versichert uns Sebastian: „Ich hoffe, dass wir Menschen in der Lage sind, uns zu entwickeln und aus den Fehlern der Generationen vor uns zu lernen. Ich persönlich glaube, dass uns das gelingen kann – wie Orestes, der schon in der griechischen Tragödie den ewigen Kreislauf der Blutrache durchbricht und sagt: Ich mache dem ganzen Elend ein Ende.“

»Wichtig ist nur, dass jemand selbstständig wird durch das, was er auf der Bühne sieht.«

Sebastian schweigt für einen Moment und verrät uns dann, dass er überaus glücklich sei, dass es in Deutschland eine so vielfältige und große Theaterlandschaft gebe. Alleine durch die unzähligen Bühnen im Land habe Theater so etwas wie einen gesellschaftlichen Auftrag. „Aber danach wird es gleich sehr individuell“, ergänzt er. „Wenn man als Schauspieler am Theater arbeitet, sucht man sich bestenfalls ein Thema, bei dem man das Gefühl hat, dass es einen etwas angeht. Und dann hat man sechs Wochen oder acht Wochen lang die Möglichkeit, sich mit diesem Thema intensiv zu beschäftigen. Als gesellschaftlich interessierter Mensch kann man durch die Konfrontation oder Auseinandersetzung mit einem Thema zu Fragen kommen, die einen mehr interessieren als man selbst“, erklärt er und fügt hinzu: „Dass man das tun darf, ist ein Ausdruck von Freiheit. Und dass man dafür sogar Geld bekommt, ein riesiges Privileg.“

Sebastian erzählt, dass es ihn mit Glück erfülle, wenn er die Zuschauer durch sein Spiel dazu bringen könne, etwas Bestimmtes zu assoziieren oder zu empfinden. „Das kann auch mal Scham oder Abscheu sein“, sagt er. „Wichtig ist nur, dass jemand selbstständig wird durch das, was er auf der Bühne sieht.“ Und er ergänzt: „Wenn allerdings niemand im Publikum etwas mit dem anfangen kann, was ich da tue, haben wir ein Problem.“ Sofort schießen einem wieder die Worte von John Lennon in den Kopf, die der junge Schauspieler damals auf Instagram gepostet hatte: „Man muss sich auf das wirkliche Gefühl – das einfache, menschliche Gefühl – besinnen und es in einer einfachen Sprache ausdrücken, die die Menschen erreicht.“

»Vielleicht wächst da eine Gesellschaft heran, die verlernt, Mitleid zu empfinden. Die verlernt, dass es etwas anderes gibt außerhalb von mir.«

A propos John Lennon: Wir kommen auf Daddy’s Car zu sprechen – ein Song im musikalischen Stil der Beatles, der im September 2016 von Wissenschaftler des SONY CSL Research Lab veröffentlicht wurde. Das Lied wurde vollständig von einer künstlichen Intelligenz komponiert und geschrieben – auf Basis eines errechneten Querschnitts aller existierenden Beatles-Songs. Und auch wenn der Song alles andere als authentisch klingt, lässt es doch erahnen, in welche Richtung sich die Welt entwickeln wird. „Ich glaube“, vermutet Sebastian, „dass wir uns in den nächsten Jahren durch neue Technologien noch viel stärker verändern werden, als wir das bereits in den letzten zwei Dekaden getan haben. Was das mit zukünftigen Generationen machen wird, weiß ich nicht. Vielleicht wächst da eine Gesellschaft heran, die verlernt, Mitleid zu empfinden. Die verlernt, dass es etwas anderes gibt außerhalb von mir – etwas, das genauso groß ist wie ich und genauso komplex.“

Sebastian sagt, er habe die Hoffnung, dass Theater dieser Entwicklung in irgendeiner Form entgegenstehen könne – da es schon immer den Menschen in den Mittelpunkt gestellt habe und das auch zukünftig tun werde. „Menschen können Fehler machen, Menschen sind nicht perfekt – und werden es auch nie sein. Maschinen vielleicht schon“, erklärt er. „Aber ein Beatles-Song ist ja nur deshalb ein wahnsinnig guter Song, weil er eben nicht perfekt ist. Wenn man wie bei Daddy’s Car alles zusammenwirft und zu versucht, daraus etwas Perfektes zu entwickeln, verliert es seine Außergewöhnlichkeit. Unvollkommen sein ist etwas, was nur wir Menschen können.“

»Glück und Elend können vielleicht im selben Moment auf dich zukommen.«

Außerdem falle ihm noch etwas anderes ein, was der Mensch einer Maschine voraushabe: das Empfinden von Neugier. Und Neugier, erklärt Sebastian, bedeute letztendlich, sich immer wieder der Unklarheit zu stellen und für sich und andere herauszufinden, was dieses Neue bedeute. Das sei eine Form von ständiger Bewegung. Und er fügt hinzu: „In Bewegung, im Wachstum zu sein – das ist das, was mich antreibt.“

Diese Neugier, so sagt er, sei etwas, was er selbst jeden Tag aufs Neue erlebe. Dabei gehe es für ihn darum, sich dem Glück genauso auszusetzen wie dem Elend. Beides sei unfassbar wichtig. „Glück und Elend können vielleicht im selben Moment auf dich zukommen. Ich glaube, dass genau diese Ambivalenz das Leben ausmacht.“

3. Akt: Treptower Park

25. August 2019, wir treffen Sebastian Schneider ein drittes Mal. Der Schauspieler hat uns eingeladen, ihn bei einem Sonntagsspaziergang zu begleiten, und so schlendern wir zusammen erst durch den Görlitzer, dann durch den Treptower Park. Eigentlich wollten wir unser Gespräch mit Fragen zum Theaterstück Herz der Finsternis beginnen, in dem Sebastian ab dem 10. Oktober an der Schaubühne Lindenfels in Leipzig zu sehen sein wird. Gerade hat er intensive Probewochen hinter sich.

Doch ein ganz anderes Thema drängt sich geradezu auf, auch weil es fast unmöglich ist, der medialen Berichterstattung dazu zu entgehen: Der brasilianische Regenwald steht in Flammen, eine Katastrophe biblischen Ausmaßes. „Ich dachte ja“, sagt Sebastian mit besorgter Stimme, „dass es keine Bilder gibt, die mich noch schockieren könnten. Aber auf diese Fotos, die die abertausenden Feuer im Amazonasgebiet zeigen, war ich wirklich nicht vorbereitet – auch nicht darauf, was das emotional mit mir macht. Ich kann das gar nicht in Worte fassen.“

»Der Mensch handelt immer erst dann, wenn es ihn persönlich angeht oder wenn es viel zu spät ist.«

Sebastian lässt seine Augen durch die sattgrüne Parklandschaft wandern. Dann fährt er fort: „Was mich extrem nachdenklich macht, ist, dass die Menschheit scheinbar immer noch nicht so weit ist, rechtzeitig zu reagieren. Es ist doch irgendwie komisch, dass der Mensch auf eine gewisse Art und Weise so gemütlich ist, oder? Er handelt immer erst dann, wenn es ihn persönlich angeht oder wenn es viel zu spät ist. Es fällt ihm extrem schwer, sich aus dieser Lähmung zu befreien, die auch unsere Generation so stark befallen hat.“ Sebastian erklärt, dass er normalerweise ein von Grund auf optimistischer Typ sei. „Aber ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht große Sorge habe, was die Zukunft unserer Welt betrifft,“ lässt er uns wissen.

Dennoch: Das Letzte, was der Schauspieler jemals aufgeben werde, sei die Hoffnung. „Ich glaube, dass wir – insbesondere die Leute im Alter zwischen 20 und 40 – eine extreme Kraft besitzen“, sagt Sebastian. „Noch hat das Böse nicht triumphiert. Aber um das zu verhindern, müssen wir uns aktiv die Frage stellen, was wir überhaupt wollen – und uns dann sehr schnell entscheiden, was wir tun können, um das zu erreichen.“ Und er ergänzt: „Wenn’s etwa ums Klima geht, braucht es ganz konkrete Entscheidungen, Verabredungen und Gesetze. Und Leute, die mutig genug sind aufzustehen und zu sagen: Ich denke anders!“

»Greta Thunberg tut nichts anderes, als sich selbst in dem ernst zu nehmen, was sie fühlt.«

Die in der Gesellschaft weit verbreitete Einstellung, als Einzelner könne man eh nichts ausrichten, lasse er nicht gelten: „Das ist eine Ausrede, um das eigene Nichtstun zu legitimieren“, sagt er. Man könne immer etwas tun, auch als einzelne Person. „Dass ein 16-jähriges Mädchen es schafft, mit den einfachsten Mitteln eine weltweite Jugendbewegung zu starten, die die zweitgrößte nach den Beatles ist, ist das beste Beispiel“, erklärt Sebastian und fügt hinzu: „Was macht Greta Thunberg denn letztlich? Sie tut nichts anderes, als sich selbst in dem ernst zu nehmen, was sie fühlt. Dabei geht sie in einer bestimmten Radikalität mit sich selbst um und sagt: Ich kann bestimmte Dinge nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Deshalb lasse ich sie sein. Das ist das Einzige, was sie tut.“

Wir laufen an einigen Ausflugsdampfern und Hausbooten vorbei, die im kleinen Hafenbereich am nordwestlichen Ende des Treptower Parks vor Anker liegen. „Heiterkeit“ und „Frohsinn“ steht auf zweien geschrieben. Was für eine schöne, Mut machende Geste! Und was für ein deutlicher Wink mit dem Zaunpfahl, endlich über Herz der Finsternis zu sprechen.

Der Literaturklassiker von Joseph Conrad aus dem Jahr 1899 beginnt passenderweise mit einer Szene, die sich an Bord einer Hochseeyacht auf der Themse abspielt. Dort wartet Kapitän Marlow zusammen mit ein paar anderen Männern auf die einsetzende Flut. Während sie dort ausharren, beginnt der Kapitän, eine Geschichte zu erzählen, die sich in seinem Leben vor Jahren ereignete und die er seitdem mit sich herumgetragen hat. Diese Geschichte handelt davon, wie er einst auf einem Flussdampfer im belgischen Kongo anheuerte – aus purer Abenteuerlust und Neugier. Bereits als Kind träumte er davon, die vielen weißen Flecken zu erkunden, die es damals noch auf der Landkarte gab. Das Innere des Kongo war ein solcher weißer Fleck.

Für den Kapitän wird das Erkunden dieses weißen Flecks zu einer bedrückende Reise in das „Herz der Finsternis“ eines unbekannten Kontinents, die er, so beschreibt es Joseph Conrad, „wie eine ermüdende Pilgerfahrt durch angedeutete Alpträume“ empfindet. Aber nicht nur das: Gleichzeitig entwickelt sich diese Expedition für Marlow auch zu einer Reise zu sich selbst – und er wird mitten in der unheimlichen Fremde mit seinem innersten Selbst konfrontiert.

»Im Leben geht es nicht darum, alles verstehen zu müssen. Sondern darum, das Unbekannte als etwas anderes wahr- und anzunehmen.«

„Für diese Übermacht der Natur, der der Kapitän auf seiner Reise ausgesetzt ist“, erklärt Sebastian, „fehlen ihm eigentlich permanent die Worte. Ihm gelingt es nicht zu beschreiben, was er da sieht – weil er es mit seinem westlichen Erkennungsmechanismus, der ihm inne ist, nicht greifen kann.“ Und er ergänzt: „Für mich ist dieser Roman ein Lobgesang auf das Nichtbegreifen, Nichtverstehen, Nichtordnen und Nichtunterwerfen der Natur. Wir Menschen streben ja danach, das Gegenteil zu tun – etwas zu unterwerfen, zu kontrollieren und uns an die Spitze zu setzen. Aber ist es nicht viel spannender herauszufinden, was genau passiert, wenn man das nicht tut? Wenn man diesen menschlichen Mechanismus reflektiert und versucht, das Unbekannte und Unvorhersehbare auszuhalten. Und wenn man beobachtet, was das Neue ist, das dabei entstehen kann.“

Diese Systematik könne man auf alles im Leben übertragen, sagt Sebastian – etwa auf die Liebe: „Am meisten interessiert mich doch, was mein Gegenüber von mir selbst unterscheidet. Wenn alle Menschen so wären wie ich, dann könnte ich ja permanent bei mir zuhause vorm Spiegel sitzen und mich anschauen. Das ist doch langweilig“ Und er erklärt: „Im Leben geht es nicht darum, alles verstehen zu müssen. Sondern darum, das Unbekannte als etwas anderes wahr- und anzunehmen und offen dafür zu sein, was dann passiert.“

Dieses Unbekannte war in Sebastians Leben vor einigen Jahren noch die Sparte Film und Fernsehen. Den Beruf des Schauspielers habe er in seiner Kindheit und Jugend nur über das Theater kennengelernt, erklärt er. Doch das änderte sich mit seiner Rückkehr aus der Schweiz. Kurz nachdem Sebastian in Berlin wieder Fuß gefasst hatte, übernahm er auch immer öfter Rollen in Film- und Fernsehproduktionen. „Film ist gerade etwas, was mich unfassbar umtreibt und sehr, sehr interessiert“, erzählt er. „Mich fesselt dabei vor allem die Art und Weise, wie man die Figuren anlegt und auf welche Reise man mit ihnen geht.“ Und er fügt hinzu: „Ich habe das Gefühl, dass ich da sehr viel lernen kann – nicht, dass das beim Theater nicht so wäre. Aber diese absolute Zuspitzung auf den Moment, wie es vor der Kamera passiert, empfinde ich als etwas extrem Reizvolles. Die Klappe fällt und man gibt 150 Prozent – für zwei Minuten. Dann folgt eine längere Phase der Entspannung, bis die nächsten 150 Prozent gefordert sind.“

»Was heißt es heute, im Jahr 2019, ein Mann zu sein? Was wird da von einem erwartet in unserer Gesellschaft?«

Momentan steht Sebastian für das ZDF-Format Helen Dorn vor der Kamera, in dem er „Lola, eine Frau mit männlichen Geschlechtsmerkmalen“ spielt. „Durch diese Rolle habe ich mir immer wieder die Frage gestellt, was die Begriffe Männlichkeit und Weiblichkeit überhaupt bedeuten“, erklärt er und fragt: „Was heißt es heute, im Jahr 2019, ein Mann zu sein? Was wird da von einem erwartet in unserer Gesellschaft? Ich persönlich habe für mich festgestellt, dass ich mit den Männlichkeitsbildern, die man aus der Vergangenheit kennt, nicht so viel anfangen kann – obwohl ich selbst ja ein Mann bin.“ Und er verrät: „Ich merke, dass Menschen oft überrascht sind, dass ich als Mann in irgendeiner Form sehr sensibel und gefühlvoll bin. Manche können das gar nicht so richtig einordnen. Aber zu den gängigen Klischees, die es so gibt, fühle ich mich einfach nicht zugehörig. Die habe ich zwei Jahre lang zuhause in Bremen erlebt – und vor allem gelebt –, als ich bei Werder im Stadion in der Ostkurve stand. Dort habe ich immer so geschrien, dass ich danach total heiser war. Das brauche ich heute nicht mehr.“

Oft ist Sebastian nicht mehr in Ottersberg bei Bremen, wo nach wie vor der Großteil seiner Familie lebt und wo er mal zuhause war. Aber wenn er dort mal wieder zu Besuch sei, lässt er uns wissen, dann sei er dort besonders gerne. Für ihn sei das Wort Zuhause eh nicht an so etwas wie Heimat gebunden, sondern habe eine ganz andere Bedeutung: „Zuhause sein heißt doch eigentlich, dass man so sein kann, wie man ist, ohne dass es gegen einen verwendet werden kann – weil Zuhause im Idealfall ein absolut sicherer Ort ist. Und auch ein Ort, an dem Zukunft möglich ist: Weil ich dort so sein kann, wie ich bin, bin ich in der Lage, von mir aus nach vorne zu gehen.“

Nach vorne, vorbei an „Heiterkeit“ und „Frohsinn“.
In ständiger Bewegung.
Und in der Tasche ein Buch wie ein bester Freund.

Klingt wie die Anleitung zu einem guten Leben.


Christian Scholz

In Memoriam — Prof. Christian Scholz

Natur, die ewig weitergeht

»Einen Ort mit Worten zu beschreiben, ist wie Farbe in Schwarz-Weiß zu beschreiben.« 2011 veröffentlichte Prof. Christian Scholz diese Zeilen in unserer zweiten MYP-Ausgabe. Vor wenigen Tagen ist er plötzlich und unerwartet verstorben. Mit seinem Text zum Thema »Mein Platz« erinnern wir an einen ganz besonderen Menschen, der viel zu früh von uns gegangen ist.

11. Oktober 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Foto & Text: Prof. Christian Scholz

Ein Zimmer mit großen Landkarten an den Wänden: Farbige Pins markieren besuchte Orte auf der ganzen Welt. Doch was ist „mein“ Platz? Für ihn gibt’s keinen Pin. Er liegt in der Mitte. Um ihn dreht sich alles. Ein kleines Holzhaus in Österreich mit Blick auf den Attersee. Ja, der Satz klingt kitschig. Trotzdem: Hier bin ich seit über 50 Jahren mehrere Wochen pro Jahr.

Am Anfang stand das Haus ganz alleine da. Inzwischen hat es viele Nachbarn bekommen. Am Anfang war ich froh, auf dem Grundstück irgendwo hinter dem Haus etwas Schatten zu finden. Inzwischen sind die Bäume so hoch, dass man das Haus mit Google Earth kaum noch erkennen kann. Aber jetzt hat es ein taubenblaues Metall-Dach. Doch das hat Google noch nicht erkannt.

Hier lernte ich Latein-Vokabeln, bereitete mich auf mein Diplom-Examen vor, feierte Promotion und Habilitation. Und saß stundenlang an Manuskripten. Bücher, Aufsätze, Kolumnen: Ganz vieles ist hier entstanden. Weit weg von Stress und nur mit einem weißen Blatt Papier oder einem nicht mehr weißen MacBook.

Vom Balkon aus kann ich auf den See schauen. Früher war ich dort wochenlang beim Windsurfen. Einmal einen Sommer lang, der aus drei Monaten bestand. Nicht der Summer of 69, aber so ähnlich.

Unterschiedliche Wetterlagen: klirrende Kälte, dick zugeschneit, Holz holen. Oder schwüle Sommerabende mit tobenden Gewittern, die von West nach Ost über den See ziehen. Auf der Terrasse sitzen: Blitze zählen, Grünen Veltliner trinken. Am Morgen: das Gefühl, langsam aufzuwachen. Klappernde Kaffeetassen aus Gmundner Keramik. Traditionelle Himbeermarmelade. Als ganz kleines Kind habe ich dort gespielt. Dann mit eigenen Kindern gespielt.

Jeden Sommer. Viele Ostern. Einige Pfingsten. Manche Winter. Immer dieser Ort. Einen Ort mit Worten zu beschreiben, ist wie Farbe in Schwarz-Weiß zu beschreiben. Es geht nicht.

Endlos schöne Sommertage. Routinen, die in einem halben Jahrhundert erlernt wurden. Sozial konstruierte Realität jenseits der realen Hektik der Welt. Gefühle? Natürlich Entspannung, Geborgenheit, Ausgelassenheit – aber auch Konzentration, Energie und Gestaltungswille.

Und Natur. Die ewig weitergeht. Auch noch in vielen Generationen. Irgendwie. Aber definitiv!

Prof. Christian Scholz † (1952-2019)


Josh Byer

Submission — Josh Byer

Ghosts Of The Lower Mainland

With his collection of British Columbian landscapes, Vancouver-based artist Josh Byer presents paintings that keep a secret: Each of them contains hidden images that become visible only when exposed to UV light. So they inform the viewer about the social, historical, or environmental context of the original composition.

8. Oktober 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Paintings: Josh Byer

English Bay In The Moonlight, mixed media on wood panel, 12” x 16”

The Owl Goddes, mixed media on cold press paper, 11” x 15”

An Abandoned Farm In Langley, mixed media on wood panel

Harrison Lake, mixed media on wood panel, 12” x 16”

Gabriola House No.3, mixed media on paper, 11” x 15”

Herons Above Stanley Park, mixed media on wood panel, 24” x 30”

Ironworkers Memorial Bridge No. 1, mixed media on wood panel, 12” x 16”

Ironworkers Memorial Bridge No. 2, mixed media on wood panel, 12” x 16”

Dead Man’s Island No.1, mixed media on wood panel, 12” x 16”


Tom Böttcher

Editorial — Tom Böttcher

Stilles Ensemble

Schauspieler Tom Böttcher ist nicht nur in der deutschen Film- und Fernsehwelt zuhause, sondern hat vor ein paar Jahren auch seine Liebe zur Fotografie entdeckt. Am liebsten portraitiert er Kolleginnen und Kollegen. Wir zeigen einige seiner nahbarsten Bilder.

27. September 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Fotografie: Tom Böttcher

Paul Boche

Johanna Polley

Alexander Sehan

Paul Boche

Kira Molter

Ingmar Böske

Sarah Schulze-Tenberge

Ludwig Simon

Justus Johanssen

Kira Molter

Kira Molter

Max Hegewald

Paul Boche

Justus Johanssen

Justus Johanssen

Paul Boche

Sarah Schulze-Tenberge

Justus Johanssen

Johanna Polley

Ludwig Simon

Zoë Valks


Simon Sumbert

Opinion — Simon Sumbert

#FreeCarola – und der Rest?

Ausgehend von den Ereignissen rund um die »Sea-Watch 3« nimmt Simon Sumbert, 21 Jahre alt und Mitglied des Freiburger Stadtrats, zu den »dringlichsten politischen und moralischen Aspekte der Geflüchtetenpolitik der Europäischen Union« Stellung – und appelliert für mehr Engagement und Humanität in der Gesellschaft.

21. September 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Text: Simon Sumbert, Fotos: Sea-Watch e.V.

Foto: Fabian Melber

»Ich will nicht auf Heldinnen und Helden hoffen müssen, damit ich mir sicher sein kann, dass die Europäische Union jedem Menschen sein Grundrecht auf Leben zugesteht.«

„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ [1]

„Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ [2]

Carola Rackete war vor ein paar Wochen in aller Munde. Die deutsche Kapitänin der „SeaWatch 3“ wurde von der italienischen Polizei auf Lampedusa festgenommen. Der offizielle Vorwurf lautete „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“. Dieser Vorwurf war rechtlich natürlich nicht zu halten, aber um all das geht es mir auch nicht. Vielmehr geht es mir darum, dass sich im Jahr 2019 in Deutschland, Europa und der sonstigen westlichen Welt Risse auftun, wo keine sein sollten, wo keine sein dürfen. Da, wo es um das elementarste Grundrecht eines jeden Einzelnen geht. Das Grundrecht auf Leben.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

Carola Rackete hat in einer konkreten Situation, als sie mit ihrer Crew und über vierzig aus dem Mittelmeer geretteten, erschöpften, teilweise suizidalen Geflüchteten unterwegs war, eine Entscheidung getroffen. Es war die Entscheidung, nicht länger zu akzeptieren, dass die Europäische Union mit ihren 500 Millionen Einwohner*innen und ihrem milliardenschweren Haushalt in 14 Tagen keine Lösung zur Aufnahme von 42 geflüchteten Menschen finden konnte. Eine Entscheidung, freiwillig ins Gefängnis zu gehen, weil sie ihre Crew und die Geretteten nicht weiter gefährden wollte. Carola Rackete ist zweifelsfrei eine Heldin. Für mich persönlich hat die Sache aber einen großen Haken:

Ich will nicht auf Heldinnen und Helden hoffen müssen, damit ich mir sicher sein kann, dass die Europäische Union jedem Menschen sein Grundrecht auf Leben zugesteht. Ich will Gesetze und Regeln und ich will, dass es nie wieder einen Riss in der europäischen Gesellschaft gibt, wenn es um die Frage geht, ob man Menschenleben retten soll oder auch nicht. [3]

Foto: Jon Stone

Das ist, glaube ich, nicht nur mein persönliches Ziel, sondern auch das von Carola Rackete und allen weiteren, vernünftigen Menschen, die etwas von den sogenannten europäischen Werten halten. Und dieses Ziel sollte auch verfolgt werden, wenn die Presse nicht voll von Berichten ist über eine deutsche, weiße Frau, die wegen ihres Engagements verhaftet wird.

Ich bin kein Held wie Frau Rackete, nicht einmal ansatzweise, aber ich weiß, dass der Weg zu diesem Ziel ein langer ist, der nur durch viel Bildungs- und Aufklärungsarbeit und klare Kante gegen menschenfeindliche Ideologien begehbar wird. Ich weiß auch, dass man das Erreichen dieses Ziels nicht nur an Fragen der Migrationspolitik messen kann.

Foto: Felix Weiss

Dennoch gibt es aktuell wohl kein besseres und gleichzeitig grausameres Beispiel für das, was passiert, wenn nicht zumindest mit allen Mitteln versucht wird, dieses Ziel zu erreichen: tausendfaches Sterben von Menschen im Mittelmeer in den letzten Jahren.

Tausendfaches, grausames, unvorstellbares Leid von Männern, Frauen und Kindern.

Als ich 13 Jahre alt war, habe ich das erste Mal passiv miterlebt, welche konkreten Auswirkungen politische Entscheidungen und der verallgemeinernde Umgang mit Geflüchteten für die Betroffenen haben. Seitdem engagiere ich mich ehrenamtlich und zeitweise auch hauptamtlich in verschiedenen Einrichtungen der Geflüchtetenhilfe in Freiburg. In dieser Zeit habe ich viele geflüchtete Menschen kennenlernen dürfen. Mit manchen habe ich mich überhaupt nicht verstanden. Mit manchen bin ich noch heute in Kontakt und befreundet. Manche zähle ich heute zu meiner Familie.

In jedem Fall habe ich in den letzten acht Jahren viele persönliche Erfahrungen gesammelt, zumindest sofern das aus meiner Perspektive möglich ist.

Foto: Fabian Melber

»Gerade beim Thema Geflüchtetenpolitik geht es vor allem um die Frage, ob wir wirklich nach den Werten leben und handeln wollen, auf die wir uns berufen und auf die wir stolz sind.«

Mit diesem Text will ich versuchen, jeden Menschen, der sich für eine humanere Geflüchtetenpolitik einsetzt, zu bestärken und zu unterstützen.

Gleichzeitig will ich auch versuchen, die Menschen, die sich bisher aus verschiedensten Gründen noch nicht an der Debatte beteiligen wollen oder können und keine Stellung beziehen, zu überzeugen, genau dies – mit einem faktenbasierten Grundwissen dazu – zu tun. Ich glaube nicht, dass es viele Zeitpunkte in der jüngeren Geschichte gab, in denen genau das wichtiger war.

Foto: Fabian Melber

Dafür möchte ich in folgendem Text meine Erfahrung, mein Wissen und meine Meinung zu den dringlichsten politischen und moralischen Aspekten der Geflüchtetenpolitik der Europäischen Union, ihren einzelnen Mitgliedsstaaten und ihren Konsequenzen erklären. Dazu gehören selbstverständlich sowohl die positiven als auch die negativen Seiten dieser Politik.

Gerade beim Thema Geflüchtetenpolitik geht es aber schlussendlich und vor allem um die Frage, ob wir wirklich nach den Werten leben und handeln wollen, auf die wir uns berufen und auf die wir stolz sind. Und das ist ultimativ immer eine moralische Frage.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

Foto: Sea-Watch e.V.

»Ein zentraler Bestandteil des Rechtsrucks in Europa in den letzten Jahren war das aktive, willentliche Verbreiten und das passive, naive Glauben von falschen Informationen im politischen Kontext.«

Die „Flüchtlingskrise“ – eine deutsche Geschichte

Deutschland ist heute ein tief gespaltenes Land. Die aktuelle Dekade wird als ein Jahrzehnt in die Geschichtsbücher eingehen, indem es Populisten, Nazis und Demagogen in Deutschland und europaweit geschafft haben, in Parlamente gewählt zu werden und zunehmend mehr Raum im gesellschaftlichen Diskurs einzunehmen.

Migrations- und Integrationspolitik ist definitiv nicht der alleinige Auslöser dieser traurigen Entwicklung. Sie ist viel mehr der Tropfen im berühmten übervollen Fass und gleichzeitig Katalysator dieser Entwicklungen. Ein zentraler Bestandteil des Rechtsrucks in Europa in den letzten Jahren war das aktive, willentliche Verbreiten und das passive, naive Glauben von falschen Informationen im politischen Kontext.

Ich denke, dass es essenziell wichtig ist, dass solchen „Fake News“ vehement entgegentreten wird. Der Trick an guten Lügen und „Fake News“ ist, dass oft nur ein kleiner Teil des Gesamtkontextes einer Situation ausgelassen oder geändert wird, sodass sich das wahrgenommene Bild einer Begebenheit komplett ändert, die Hintergrundgeschichte aber immer noch relativ plausibel erscheint. Um diese Lügen zu entkräften, muss man ebendiesen Gesamtkontext korrekt und anschaulich darstellen und klarmachen, wo genau entscheidende Details ausgelassen oder abgeändert wurden und das Gesamtbild verzerrt wird. Und auch, wo nicht.

Foto: Marcus Wiechmann

Die Geflüchtetenpolitik der letzten Jahre in Deutschland ist gescheitert, und zwar in den allermeisten Aspekten. Was bleibt, sind aktuell eine große Frustration und Resignation, sowohl bei vielen Menschen, die ihr Leben lang in Deutschland gelebt haben, als auch bei Geflüchteten. Ich halte es ganz grundsätzlich für falsch, nicht jeden Menschen als Individuum zu erachten und auch dementsprechend zu behandeln. Im Folgenden werde ich dennoch manches vereinfachen müssen und die äußerst heterogenen Gruppe von Menschen, die seit September 2015 nach Deutschland geflohen ist, ein Stück weit unter einen Hut stecken, um problematische und teilweise gefährliche Tendenzen ansprechen zu können, ohne dabei endlos auszuholen – und auch um jenen Menschen adäquat antworten zu können, die diese Verallgemeinerungen per se nutzen, um gegen Menschengruppen zu hetzen.

Foto: Marcus Wiechmann

»Die deutsche Verwaltung war mit der großen Anzahl an Geflüchteten komplett überfordert.«

In vielen exemplarisch genannten Politikbereichen entstehen Problematiken übrigens auch erst durch die konkrete Masse und nicht durch die einzelnen Individuen.

In Deutschland wurden seit Anfang des Jahres 2015 bis Mai 2019 1.704.837 Asylanträge gestellt, wovon 116.617 Asylfolgeanträge und 1.558.220 Asylerstanträge waren. Die damalige Entscheidung zur Aufnahme all dieser Geflüchteten hat Konsequenzen für quasi jeden einzelnen politischen und gesellschaftlichen Teilbereich der BRD.

Die deutsche Verwaltung war mit der großen Anzahl an Geflüchteten komplett überfordert. Dies lag – abgesehen von der schieren Anzahl an Menschen, die in Deutschland Asyl suchten – auch daran, dass vielerorts die Infrastruktur zur Aufnahme und Versorgung von geflüchteten Menschen, die in den 90er Jahren während der großen Konflikte in Osteuropa und der daraus resultierenden Fluchtmigration aufgebaut wurde, rund um die Jahrtausendwende nicht intakt gehalten oder sogar zurückgebaut wurde.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

Die bürokratische Überforderung führte indes nicht nur zu Schwierigkeiten im Bereich Verwaltung und Logistik, sondern auch zu sicherheitspolitischen Problemen und Risiken. Ab September 2015 bis September 2016 wurden jeden Monat mindestens 40.000 Asylanträge gestellt, die überwiegende Mehrheit davon Erstanträge. [4] Bei solch hohen Zahlen ist und war es den deutschen Sicherheitsbehörden nicht möglich, die Identität jedes einzelnen geflüchteten Menschen genau zu überprüfen. Das Resultat dieser Situation war wiederum, dass es durchaus eine ungewisse Anzahl an Menschen gab, die sich an deutschen und europäischen Grenzen als Geflüchtete und Schutzsuchende ausgegebene haben, in Wahrheit aber terroristische Anschläge planten und oft genug leider auch durchführten. [5] Diese Tatsache darf meiner Meinung nach niemals dazu führen, dass man in Deutschland Menschen mit berechtigtem Fluchtgrund nicht aufnimmt. Sie darf aber auch niemals verschwiegen werden.

In jedem Land, das Geflüchtete aufnimmt, werden die staatlichen Sozialsysteme dadurch beansprucht. In Deutschland erhält ein Mensch, dessen Asylantrag in Bearbeitung ist, aktuell das „Existenzminimum“ nach deutschen Standards. Dies bedeutet für einen alleinstehenden Menschen Regelleistungen zwischen 359 Euro im Monat nach dem AyslBLG, oder – nach Abschluss des Asylverfahrens oder dem Ende einer bestimmten Frist – eine monatliche Regelleistung im Rahmen des Hartz 4-Regelsatzes von 424 Euro pro Monat durch das zuständige Jobcenter. Zusätzlich wird zu beiden Regelleistungen natürlich noch die Unterkunft des Menschen bezahlt, solange sich die Kosten dafür nach den Standards der jeweiligen Kommune im angemessen Rahmen befinden. Außerdem werden für geflüchtete Menschen, deren Asylantrag anerkannt wird, auch sogenannte „Integrationskurse“ und diverse andere Bildungsangebote finanziert.

Foto: Erik Marquardt

»Die Aufnahme von geflüchteten Menschen darf in keinem Fall durch ein Kostenargument verhindert werden. Die Wahrung von Menschenrechten ist unbezahlbar.«

Nun kann man lang und breit und berechtigterweise über die Höhe und Angemessenheit dieses Existenzminimums und der Finanzierung der Integrationskurse etc. diskutieren. Dabei kann man dann zum Beispiel darauf hinweisen, dass aktuell immer mehr geflüchtete Menschen in Ausbildung und Arbeit finden und dass die daraus resultierenden Steuereinnahmen, wenn man diese Entwicklung stärker und effizienter politisch unterstützt, hoch genug sein können, um die aktuellen Ausgaben mittelfristig mindestens auszugleichen.

Ich persönlich möchte mich auf so eine Diskussion aber nicht einlassen, denn für mich steht fest:

Die Aufnahme von geflüchteten Menschen darf in keinem Fall durch ein Kostenargument verhindert werden. Die Wahrung von Menschenrechten ist unbezahlbar.

Die soziale Frage ist aber nicht auf die finanziellen Kosten beschränkt, denn es entstehen durch die Aufnahme von Geflüchteten auch zahlreiche andere gesellschaftliche Spannungsfelder. Der gefühlte Konsens, dass in Deutschland jeder Mensch Anrecht auf genügen Geld zum (Über-)Leben haben sollte, ist schwer zu vermitteln, wenn ein Mensch einen Großteil seines Lebens gearbeitet hat, in die Langzeitarbeitslosigkeit fällt und dann erfährt, dass er vom Staat dieselbe Unterstützung bekommen wird wie die geflüchteten Nachbarn, die seit einem Jahr in Deutschland sind.

Foto: Fabian Melber

Foto: Fabian Melber

»Die deutsche Wohnungs- und Bildungspolitik war in Teilen auch schon vor 2015 äußerst fragwürdig und steuerte geradewegs auf die aktuelle Situation zu.«

Ähnliche Situationen ergeben sich auch in der Wohnungs- und Bildungspolitik, denn natürlich hat der fluchtbedingte Zuzug von über 1,5 Millionen Menschen drastische Auswirkungen auf diese Bereiche und trägt zur aktuellen Lage, sprich Wohnungsnot und Lehrer*innenmangel bei. Auch hierbei ist es jedoch wichtig, immer wieder zu betonen, dass die Aufnahme von Geflüchteten diese Problematiken zwar verschärft, insbesondere wenn man die Demographie und durchschnittliche Geburtenrate der geflüchteten Menschen in Deutschland berücksichtigt. Sie ist aber auf keinen Fall die einzige Ursache oder auch nur der entscheidende Faktor dieser Probleme.

Menschen, die den Großteil ihres Lebens gearbeitet haben, verdienen meiner Meinung nach mehr als das nackte Existenzminimum, falls sie arbeitslos werden sollten. Die deutsche Wohnungs- und Bildungspolitik war in Teilen auch schon vor 2015 äußerst fragwürdig und steuerte geradewegs auf die aktuelle Situation zu. Geflüchtete werden in diesem Kontext zu oft als der alleinige Sündenbock gesehen.

Foto: Ruben Neugebauer

»Repressionen gegenüber Geflüchteten und im extremem Fall Abschiebungen gehen die Wurzel des Problems nicht wirklich an, sondern verlagern dieses bestenfalls.«

Abgesehen von der Nennung konkreter und schwieriger Sachverhalte durch die Aufnahme von so vielen geflüchteten Menschen, muss ich an dieser Stelle auch noch anmerken, dass es oftmals nicht nur politische und soziale Probleme sind, sondern auch kulturelle.

Zumindest persönlich habe ich erlebt, dass Antisemitismus, Rassismus, Frauenfeindlichkeit sowie Homophobie und Queerfeindlichkeit unter Geflüchteten weit verbreitet sind und auch aktiv weitervermittelt werden. Dies betrifft Geflüchtete untereinander, wenn sich beispielsweise in Geflüchteten-Wohnheimen Hierarchien nach der Herkunft der Menschen bilden, Frauen innerhalb der Familie häusliche Gewalt erleben, oder jüdische Spätaussiedler aus Russland vor der eigenen Zimmertür antisemitisch angefeindet werden. Vor allem aber richtet sich dieser Hass gegen jedes Mitglied unserer offenen Gesellschaft, insbesondere gegen Angehörige marginalisierter Gruppen. An dieser Tatsache gibt es nichts klein- oder schönzureden.

Repressionen gegenüber Geflüchteten und im extremem Fall Abschiebungen gehen die Wurzel des Problems aber auch nicht wirklich an, sondern verlagern dieses bestenfalls. Was wirklich hilft gegen Hass dieser Art, ist Aufklärungsarbeit und Bildung. Und zwar mit der Gießkanne. Und zwar schon ab der frühen Jugend, damit zumindest jedem Kind rassistischer, antisemitischer, sexistischer und homophober Eltern in Zukunft zumindest ansatzweise die Möglichkeit und das Wissen um Unterstützung vermittelt wird, das nötig ist, um sich von solchen Ressentiments und deren Umfeld loszusagen.

Foto: Marcus Wiechmann

»Schon der Weg nach Europa ist für die meisten Geflüchteten mit unzähligen, tödlichen Gefahren und Wagnissen gepflastert.«

„Flüchtlingskrise“ – eine Geschichte voller Ungerechtigkeit

Es gibt hunderte Probleme auf der Welt, die dadurch entstehen, dass Menschen nicht mehr in ihren Heimatländern leben wollen und können. Der aktuelle Umgang mit diesen Problemen verschlimmert diese aber mehr, als zu helfen. Im ersten Kapitel dieses Textes habe ich versucht, die Probleme der Aufnehmenden darzustellen. Aber zu jeder umfassenden Problemdarstellung gehören zwei Seiten und in der Politik eigentlich mindestens siebenundzwanzig.

Viele Geflüchtete in Freiburg sind beispielsweise aus Gambia geflohen. Ein Land, das laut der Einschätzung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge relativ sicher ist.

Ich habe einmal zu oft gehört, was Geflüchteten in Gambia, auf dem Weg durch Zentralafrika und die Sahara und in Europa passiert und wie mit ihnen überall auf der Welt umgegangen wird.

Foto: Marcus Wiechmann

Ich will versuchen, gemeinsame Punkte und Erlebnisse innerhalb dieser Biographien zu erzählen und zusammenzufassen. Denn genau durch diese Biographien habe ich gelernt, dass Migrationspolitik in Deutschland mindestens zwei Seiten hat und dass nicht nur die Aufnehmenden genug Gründe haben, sich zu beschweren.

Schon der Weg nach Europa ist für die meisten Geflüchteten mit unzähligen, tödlichen Gefahren und Wagnissen gepflastert. Gambier nennen den Weg über Zentralafrika und Libyen bis nach Italien und Deutschland gerne die „Backway-Route“.

Die Route führt durch Mali, Burkina Faso und Niger nach Libyen und von dort, wenn mensch viel Glück hat, nach Europa. Die Durchquerung und der Aufenthalt innerhalb dieser Länder als geflüchteter Mensch mit dunkler Hautfarbe sind eine Odyssee aus Misshandlungen, Korruption, Androhung von und durchgesetzte Gefangennahme und zahllosen weiteren Menschenrechtsverletzungen. Im schlimmsten Fall Folter, Vergewaltigung und Mord.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»Die Menschen fliehen nicht, um sich zu bereichern. Sie fliehen, weil Armut und Elend ihre Existenz so sehr bedrohen, dass eine lebensgefährliche Flucht nach Europa für sie den einzigen Ausweg aus einer verzweifelten Situation darstellen.«

In Deutschland nennt man Geflüchtete aus Gambia oft „Wirtschaftsflüchtlinge“.

Die Bezeichnung suggeriert meiner Meinung nach, dass es den Geflüchteten um einen finanziellen Gewinn oder einen tollen Job geht, wenn sie ihre Heimatländer verlassen. In Gambia lebt die Hälfte der Bevölkerung in extremer Armut, viele Kinder sterben noch bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichen. Ich habe für mich gelernt, dass der Begriff „Armuts-„ oder „Elendsgeflüchtete“ die Situation und die Gründe für Flucht aus Gambia deutlich besser beschreibt als „Wirtschaftsflüchtling“. Die Menschen fliehen nicht, um sich zu bereichern. Sie fliehen, weil Armut und Elend ihre Existenz so sehr bedrohen, dass eine lebensgefährliche Flucht nach Europa für sie den einzigen Ausweg aus einer verzweifelten Situation darstellen. [6] Ich glaube, auch Du würdest fliehen.

Foto: Nick Jaussi

Falls geflüchtete Menschen aus Gambia den ersten Teil ihrer Reise durch Zentralafrika, die Sahara, Libyen und die Fahrt auf dem Mittelmeer auf einem meist nicht wirklich seetauglichen Schlauchboot überleben (und sich die EU-Mitgliedsstaaten auf eine Verteilung der ankommenden Menschen geeinigt haben), erwartet sie eventuell der Aufenthalt in einer deutschen Landeserstaufnahmestelle, während über ihren Asylantrag verhandelt wird. Mitspracherecht über ihren neuen Wohnort haben die Geflüchteten dabei zumindest auf rechtlichem Wege nicht. Auch wenn ein geflüchteter Mensch in Paris Familie hat, die ihm eine Wohnung stellt und Stütze bei der Integration ist, spielt das keine Rolle, wenn in Bremen gerade ein Platz freigeworden ist und das BAMF meint, dass dort der richtige Platz für den Menschen sei. Aus Gründen.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»Gerade beim Sicherheitsdienst habe ich den Missbrauch solcher Macht auch persönlich viel zu oft miterlebt und mitbekommen. Konsequenzen gab es quasi nie.«

In diesen sogenannten LEAs oder Ankerzentren gibt es nur zu bestimmten Zeiten am Tag Essen, eine finanzielle Versorgung unter dem, was in Deutschland als Existenzminimum gilt und kaum Privatsphäre, da sowohl Polizei als auch die zuständigen Sicherheitsdienste unangekündigt und verdachtsunabhängig Zimmer kontrollieren dürfen. Gerade beim Sicherheitsdienst habe ich den Missbrauch solcher Macht auch persönlich viel zu oft miterlebt und mitbekommen. Konsequenzen gab es quasi nie. [7] Aus Gründen.

Auch in einer Sammelunterkunft, in die Geflüchtete nach dem Ablauf einer Frist oder Beendigung des Asylverfahrens überwiesen werden, sind die Bedingungen nur begrenzt besser, denn auch hier gilt: Jeder Person stehen 7qm zu, oftmals in einem Container, in dem es im Sommer ruhig mal 40 Grad Celsius hat. Das Bad und die Küche werden mit den Zimmernachbarn geteilt und wer diese sind, entscheiden oftmals weder die Sozialarbeiter*innen vor Ort, die die (soziale) Situation kennen, noch die geflüchteten Menschen selbst. Das entscheidet das Amt. Aus Gründen.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»Der durchschnittliche Prozess eines Asylverfahrens in Deutschland ist für Geflüchtete eine enorme bürokratische und emotionale Zumutung.«

Zu dieser Ausgangslage kommt noch hinzu, dass der durchschnittliche Prozess eines Asylverfahrens in Deutschland eine enorme bürokratische und emotionale Zumutung für Geflüchtete ist. Eine Zumutung in vier Akten.

Erstens: Die Basis für die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, welcher Aufenthaltsstatus einer geflüchteten Person zugewiesen wird, bildet ein Interview. In diesem Interview werden zunächst einige standardisierte Fragen wie beispielsweise nach dem Herkunftsland, der Adresse, Familie, Geburtstag der Person etc. gestellt. Anschließend wird der Person die Möglichkeit gegeben, sich frei zum Asylantrag und seinen Gründen zu äußern. Dieser Termin kann über die gesamte weitere Existenz der geflüchteten Person entscheiden. Angesichts dieser Tatsache ist es für mich erschreckend, dass es bei den Interviewterminen oftmals an professionellen Dolmetscher*innen und psychologisch geschulten Personal fehlt.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»Unter solchen Umständen wird kein 19-jähriger Junge aus Gambia davon erzählen, dass sein Vater ihn seit seiner Kindheit immer wieder vergewaltigt, geschlagen, zur Kinderarbeit gezwungen und schlussendlich aus ›Kostengründen‹ aus dem Haus geworfen hat.«

Manchmal müssen Geflüchtete sogar nahezu den ganzen Tag vor ihrem Interview in einem Warteraum ohne anständige Verpflegung verbringen, nachdem sie bereits früh morgens stundenlang zur Stadt gereist sind, in der das Interview stattfindet. Dies ist oft nämlich nicht die Stadt, in der sie leben – und ein konkreterer Termin als „ab 8.30 Uhr“ wird auch nicht genannt.

Unter solchen Umständen wird kein 19-jähriger Junge aus Gambia davon erzählen, dass sein Vater ihn seit seiner Kindheit immer wieder vergewaltigt, geschlagen, zur Kinderarbeit gezwungen und schlussendlich aus „Kostengründen“ aus dem Haus geworfen und auf den „Backway“ geschickt hat. Wahr sind solche Geschichten leider dennoch.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»Der gesamte Asylprozess rund um das Interview ist ein Sumpf aus Papierkram – für die Ämter und Geflüchteten gleichermaßen.«

Zweitens: Der gesamte Asylprozess rund um das Interview ist ein Sumpf aus Papierkram – für die Ämter und Geflüchteten gleichermaßen. Auf Bürokratie schimpfen ist zwar manchmal berechtigt, aber oftmals ist eine schriftliche Festmachung solcher Prozesse unabdingbar und hilft beiden Seiten. Um durch diesen Sumpf durchwaten zu können, braucht es aber entweder sehr gute, deutsche Sprachkenntnisse, die logischerweise nicht vorhanden sind, oder eine gute und ausreichende Betreuung durch Sozialarbeiter*innen für geflüchtete Menschen. In meiner hauptamtlichen Zeit in der Geflüchtetenhilfe in Freiburg schwankte der Betreuungsschlüssel „Geflüchtete Person zu Sozialarbeiter*in“ zwischen 85:1 und 130:1. Das schadet nicht nur den Geflüchteten, sondern auch den Sozialarbeiter*innen enorm.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»Die Zeit des Wartens und Hoffens bedeutet für geflüchtete Menschen Dauerstress und eine große emotionale Belastung.«

Drittens: Asylprozesse in Deutschland dauern zwischen wenigen Monaten und vielen Jahren. Das ist ein Problem, weil diese Zeit des Wartens und Hoffens für geflüchtete Menschen Dauerstress und eine große emotionale Belastung bedeutet – und weil sie auf diese Dauer nur schwer aushaltbar ist, besonders wenn gleichzeitig von den Menschen zurecht erwartet wird, sich gesellschaftlich zu integrieren. Ein viel größeres Problem ist die lange Dauer aber im Falle eines negativen Asylbescheids. Die Abschiebung einer Familie in den Kosovo, die zwei Wochen in Deutschland war, ist meiner Meinung nach an sich schon extrem grenzwertig, weil mit ihr fast immer menschliche Härten verbunden sind. Aber die Abschiebung einer Familie in den Kosovo, deren Kinder seit drei Jahren in den deutschen Kindergarten gehen, die Sprachen sprechen und in Fußballvereinen spielen, in denen sich ihre Eltern ehrenamtlich nach ihrer Arbeit engagieren, ist nicht nur komplett unlogisch. Es ist unmoralisch und grausam.

Foto: Fabian Melber

Viertens: Viele Asylprozesse in Deutschland führen teilweise zu falschen Ergebnissen. Es ist allgemein bekannt, dass es inoffizielle Leitlinie des BAMF ist, möglichst wenigen geflüchteten Menschen einen Aufenthaltsstatus zu gewähren. Rund ein Fünftel der ausgegebenen Asylbescheide, gegen die Einspruch erhoben wird, ignorieren das deutsche und das Menschenrecht und halten einer Klage der Geflüchteten nicht stand. [8] Das ist ein trauriger Höhepunkt deutscher „Abschreckungspolitik“.

Man muss dem BAMF lassen, dass sich die Situation in vielen Punkten, wie beispielsweise den Ort der Interviews und der Dauer der Asylprozesse in den letzten Jahren, sehr langsam, aber stetig auf den Weg der Besserung befand.

Foto: Fabian Melber

»Die bekannten Stigmata des ›Flüchtlings‹ und der strukturelle und gesellschaftlich inhärente Rassismus in Deutschland machen eine erfolgreiche Integration um einiges schwerer.«

Auch abseits des rechtlichen Asylprozesses trifft Geflüchtete in Europa oftmals im aufnehmenden Land die harte Realität, dass es zwar durchaus berufliche und gesellschaftliche Perspektiven gibt, diese aber mit vielen unheimlich frustrierenden „Abers“ und „Wenns“ verbunden sind.

Die Schulbildung der meisten ankommenden Geflüchteten reicht vergleichsweise selten aus, um eine echte Perspektive zu ermöglichen, die mehr als einen Vollzeit-Aushilfsjob beinhaltet. Und selbst wenn, ist nicht garantiert, dass das zuständige Amt die entsprechenden Zeugnisse und die damit verbundene Leistung zertifiziert und anerkennt.

Foto: Felix Weiss

Meine persönliche Erfahrung ist, dass die meisten Arbeitsmöglichkeiten für Geflüchtete dort entstehen und gefördert werden, wo entweder akuter Arbeitskräftemangel herrscht, oder in Arbeitsbereichen, für die sich kaum deutsche Staatsbürger*innen bewerben wollen.

Bevor ein C1-Sprachkurs gefördert wird, wird eine einjährige Ausbildung gefördert. Ich halte dieses Vorgehen für sehr kurzsichtig und ehrlich gesagt habe ich ein bisschen Angst, welche Dynamiken dies langfristig gesellschaftlich auslöst.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

Foto: Fabian Melber

»Ich bin mir sicher, dass der Anteil an Geflüchteten, die nicht den Stereotypen entsprechen, die immer wieder in Medien oder am Stammtisch repliziert werden, chronisch unterschätzt wird.«

Die bekannten Stigmata des „Flüchtlings“ und der strukturelle und gesellschaftlich inhärente Rassismus in Deutschland machen eine erfolgreiche soziale und wirtschaftliche Integration natürlich auch um einiges schwerer. Offensichtlich sind nicht alle Stereotypen und Stigmata per se ganz unbegründet. In Freiburg beispielsweise ist der Anteil an gambischen Drogendealern im Vergleich zum Durchschnitt sehr hoch – und für diese Erkenntnis braucht man wirklich kein*e ausgebildete*r Kriminolog*in sein. Der Punkt dabei ist aber, dass ein Stereotyp des „drogendealenden Gambiers“ in Freiburg entsteht, bei dem a) jegliche sozialen Faktoren außer Acht gelassen werden und sich nur auf die Nationalität/Hautfarbe konzentriert wird. und dass b) allen Gambiern und gambisch aussehenden Menschen in Freiburg dadurch geschadet wird. Insbesondere denen, die mit Drogenhandel überhaupt nichts zu tun haben. Ich persönlich bin mir sicher, dass der Anteil an Geflüchteten, die nicht den Stereotypen entsprechen, die immer wieder in Medien oder am Stammtisch repliziert werden, chronisch unterschätzt wird. Falls ich damit Recht habe, ist das tragisch. Und gefährlich.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»Psychisch kranke und labile Menschen werden in Länder wie Afghanistan abgeschoben. Horst Seehofer konnte an seinem 69. Geburtstag darüber lachen.«

Die deutsche Regierung hat aufgrund von Stereotypen und der gesellschaftlichen Stimmung, die auf ihre Verbreitung folgt, einen Weg eingeschlagen, der dazu führt, dass viele komplett unschuldige geflüchtete Menschen kaum mehr eine Chance haben, ihre Familien aus Kriegsgebieten nach Deutschland nachzuholen. Ein Weg, der dazu führt, dass psychisch kranke und labile Menschen in Länder wie Afghanistan abgeschoben werden. Horst Seehofer konnte an seinem 69. Geburtstag darüber lachen. Jamal Nasser M. wird nie mehr lachen.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»Eine grundlegende Verbesserung der Lebensrealität von Geflüchteten fängt weder bei der Seenotrettung an noch hört sie dort auf.«

Die Geschichte von Dilemma und Dialog

Ich habe mir selbst einmal versprochen, dass ich als politischer Mensch keine einfachen, verkürzte Antworten auf komplizierte Fragestellungen geben will. Und die Frage, was sich an Migrationspolitik ändern muss, um jedem Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, ist aktuell vielleicht die komplizierteste politische Frage, die man sich stellen kann.

Auf diese Frage gibt es nicht die eine kohärente, logische Antwort.

Foto: Erik Marquardt

Klar ist, dass eine grundlegende Verbesserung der Lebensrealität von Geflüchteten weder bei der Seenotrettung anfängt noch aufhört. Es muss es endlich vernünftige und angepasste Entwicklungshilfeprogramme ohne diplomatische Hintergedanken in den Herkunftsländern geben. Genauso müssen auch Menschenrechtsverletzungen innerhalb von Europa und die menschenunwürdigen Bedingungen in vielen Sammelunterkünften angegangen werden. Genauso muss jegliche Kooperation mit Fluchtverursachern gestoppt werden, auch wenn diese wirtschaftlich verlockende Waffendeals möglich machen. Die Liste könnte an dieser Stelle noch sehr viel länger weiter gehen.

Foto: Marcus Wiechmann

»Der gesellschaftliche Dialog ist an Unsachlichkeit und Hass erkrankt. Das wird im Netz besonders sichtbar.«

Ein Punkt, der unter all diesen Problemfeldern viel zu selten angesprochen wird, ist, wie sehr der gesellschaftliche Dialog an Unsachlichkeit und Hass erkrankt ist. Das wird im Netz besonders sichtbar.

Viel zu oft kann man dort, oftmals unwidersprochen, Thesen lesen wie:

„Wenn wir die Menschen im Mittelmeer retten, dann werden immer mehr Menschen versuchen, übers Mittelmeer zu fliehen.“ (Ganz abgesehen von der menschenverachtenden Logik dieses Arguments ist der sogenannte „Pull-Effekt“ eine populistische, unwissenschaftliche Erfindung. [9])

„Es kommen immer nur junge, afrikanische Männer hier nach Deutschland, die ihre Familien zuhause im Stich lassen.“ (Im Jahr 2019 wurden 43% aller Asylanträge von Frauen* und 45% von/für Kindern unter 16 Jahren gestellt. [10])

„Warum bringen sie die Geretteten nicht wieder zurück nach Nordafrika? Dort sind die wirklich nähergelegenen sicheren Häfen.“ (Die meisten Geflüchteten werden einige Seemeilen von Tripolis entfernt in internationalen Gewässern auf Rettungsschiffe aufgenommen. Die nächstgelegenen Häfen sind von dort aus fünf tunesische Häfen, die allesamt mitten in der Wüste liegen und weder über die rechtlichen Voraussetzungen noch über die Infrastruktur verfügen, um die Geretteten unter menschenwürdigen Umständen aufnehmen zu können. Danach kommen die Häfen in Lampedusa und Malta.)

Foto: Fabian Melber

»Niemand wird die ›Flüchtlingskrise‹ als Einzelperson lösen können. Zu widersprechen, wenn leise Rechtsradikale Gerüchte und Unwahrheiten über Menschen mit Fluchthintergrund und nicht-weißer Hautfarbe verbreiten, halte ich trotzdem für einen sehr guten Anfang.«

Auch an dieser Stelle könnte die Liste leider noch sehr lange weitergehen. Die Folgen dieses erkrankten Dialogs spüren übrigens nicht nur geflüchtete Menschen (weil offener, struktureller und auch leiser, verdeckter Rassismus immer salonfähiger in Deutschland wird), sondern auch all diejenigen, die sich für Sachlichkeit und Menschlichkeit diesbezüglich einsetzen. Zu diesen Menschen zähle ich auch Walter Lübcke.

Niemand wird die „Flüchtlingskrise“ als Einzelperson lösen können. Dazwischen zu gehen und zu widersprechen, wenn leise Rechtsradikale Gerüchte und Unwahrheiten über Menschen mit Fluchthintergrund und nicht-weißer Hautfarbe verbreiten, halte ich trotzdem für einen sehr guten Anfang. Und dabei kommt es auf jeden einzelnen Menschen an.

Foto: Marcus Wiechmann

»Es gab nicht viele Zeitpunkte in der jüngeren Geschichte, in denen es wichtiger war aufzustehen, politisch zu werden und sich zu wehren gegen jeden Versuch, menschenfeindliche Ideologien wieder gesellschaftsfähig zu machen.«

Die Moral von den Geschichten

Dieses ist das entscheidende Kapitel meines Textes. Ich habe in allen vorhergehenden Zeilen versucht, die aktuelle Situation aus Sicht einer einundzwanzigjährigen deutschen Kartoffel zu schildern, die vielleicht ein paar mehr ausländische Freunde mit Fluchthintergrund und Erfahrung im politischen Bereich hat als der Durchschnitt.

Doch warum das alles?

Zu Beginn dieses Textes habe ich geschrieben, dass ich glaube, dass es nicht viele Zeitpunkte in der jüngeren Geschichte gab, in denen es wichtiger war aufzustehen, politisch zu werden und sich zu wehren gegen jeden Versuch, menschenfeindliche Ideologien wieder gesellschaftsfähig zu machen.

In den letzten Jahren habe ich durch mein Engagement und meine persönliche Verbundenheit mit vielen geflüchteten Menschen einen Einblick bekommen, was passiert, wenn zu viele Menschen sich entschließen, Verstöße gegen die internationalen Menschenrechte zu ignorieren, zu rechtfertigen oder sogar zu unterstützen.

Foto: Marcus Wiechmann

»Die allermeisten deutschen Menschen haben das Glück, dass man in ihrem ganzen Leben wahrscheinlich niemals ihre Menschenrechte auch nur annähernd so grundlegend verletzen wird, wie das bei geflüchteten Menschen der Fall ist.«

Menschenrechtsverletzungen. Das ist ein Wort, dass man oft in den Nachrichten hört und das zu vielen Menschen zu locker über die Lippen geht.

Die allermeisten deutschen Menschen, inklusive mir, haben das Glück, dass man in ihrem ganzen Leben wahrscheinlich niemals ihre Menschenrechte auch nur annähernd so grundlegend verletzen wird, wie das bei geflüchteten Menschen der Fall ist.

Der Auslöser meines persönlichen und politischen Engagements in der Geflüchtetenhilfe war immer der direkte Kontakt.

Persönlich, weil ich durch mein Engagement mit die liebsten Menschen in meinem Leben kennengelernt habe und es mir einfach unglaublich viel Freude bereitet, Zeit mit ihnen zu verbringen.

Politisch, weil ich ihr Leid gesehen habe und sehe und nichts tun konnte, außer dumm daneben zu stehen und zu versuchen, ein bisschen Trost zu spenden.

Foto: Marcus Wiechmann

»Am Telefon erzählt ihm seine Frau, dass sie von einer Miliz gefangen genommen wurde und täglich gefoltert und vergewaltig wird.«

Was bedeuten Menschenrechtsverletzungen?

Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass ein guter Freund von mir aus Eritrea in einem deutschen Flüchtlingswohnheim von einer unbekannten Nummer angerufen wird. Am Telefon erzählt ihm seine Frau, dass sie von einer Miliz gefangen genommen wurde und täglich gefoltert und vergewaltig wird. Und dass alles nur aufhören wird, wenn ein Lösegeld gezahlt wird, das mein Freund nicht in kurzer Zeit zahlen kann.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass ich diesen Freund verzweifelt weinen und innerlich zerbrechen sehe, weil er weiß, was das alles bedeutet, und sich selbst die Schuld daran gibt.

Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass man suizidale, an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidende Menschen zwingt, sich mit einem unbekannten Menschen ein 14qm großes Zimmer zu teilen, weil ihr Einzelzimmerantrag vom Amt abgelehnt wurde.

Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass der Vater eines Arbeitskollegen in seiner Wohnung in Syrien an Bombensplittern stirbt, weil sich der Familiennachzug trotz bestmöglichen Aufenthaltsstatus über Monate und Jahre hinzieht.

Foto: Chris Grodotzki / jib collective

»In Libyen werden Männer wie Frauen aufs Brutalste eingesperrt, wie Sklaven an den Höchstbietenden verkauft, gefoltert und vergewaltigt.«

Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass ehrenamtlich Engagierten von verzweifelten Menschen Geld angeboten wird, dass sie nicht besitzen, um Familienmitglieder legal oder illegal ins sichere Deutschland zu bringen.

Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass ungeborene Kinder in Libyen oder auf dem Mittelmeer wegen mangelnder medizinischer Versorgung sterben, dass Männer wie Frauen in Libyen aufs Brutalste eingesperrt, wie Sklaven an den Höchstbietenden verkauft, gefoltert und vergewaltigt werden.

Ich habe all diese Geschichten und die Gesichter dazu viel zu oft persönlich erzählt und bewiesen bekommen. Oder sie miterlebt. Mir reicht es.

Ich will keine einzige Narbe mehr aus Afghanistan, keine einzige Träne aus Gambia, keine einzige Sorgenfalte aus Syrien mehr sehen, ohne diesen Menschen sagen zu können, dass sie jetzt in Sicherheit sind und sie keine Angst mehr haben müssen – und dabei ehrlich zu sein. Ich will nie wieder hören, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken, weil die EU nicht helfen will.

Foto: Marcus Wiechmann

»In einer funktionierenden Demokratie sind alle Menschen Politker*innen – wenn sie es wollen.«

Ich glaube, ich bin aktuell zum ersten Mal in meinem Leben in der Position, in der ich zumindest einen minimalen Beitrag dazu leisten kann, dass der Tag kommt, an dem ich mir selber diesen Wunsch erfüllen kann. Und ich habe hiermit versucht, genau das zu tun.

In einer funktionierenden Demokratie sind meiner Meinung nach alle Menschen Politker*innen – wenn sie es wollen.

Das solche Dinge auf unserer Welt passieren, im Mittelmeer, in Libyen und in Deutschland, das ist die Schuld all jener, die sich für eine Politik aussprechen, die nicht jedem Menschen ein Grundrecht auf ein Leben in Sicherheit und Freiheit zugesteht. Es ist aber auch die Schuld all jener, die sich nicht gegen diese Menschen stellen. Und die schweigen im Angesicht solcher Grausamkeit.

Bitte hör auf zu schweigen, wenn Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in Deutschland wieder auf dem Vormarsch sind. Es geht um alles.

Dein Simon


Sam Fender

Interview — Sam Fender

Some Reason To Believe

With »Hypersonic Missiles,« British singer-songwriter Sam Fender has just introduced an energetic, soulful and wise debut album to the world. We talked with him about archaic patterns, real beauty, and the reason why many people are »so blissfully unaware of everything.«

13. September 2019 — MYP N° 26 »Style« — Interview: Jonas Meyer, Photography: Maximilian König

When Bruce Springsteen played a show in Pittsburgh on September 22, 1984, he dedicated his song “The River” to union steelworkers in Pennsylvania who, at that time, were fighting for better wages and working conditions.

Springsteen said: “There’s something really dangerous happening to us out there. We’re slowly getting split up into two different Americas. Things are getting taken away from people that need them and given to people that don’t need them, and there’s a promise getting broken. In the beginning, the idea was that we all live here a little bit like a family, where the strong can help the weak ones, the rich can help the poor ones. I don’t think the American dream was that everybody was going to make it or that everybody was going to make a billion dollars, but it was that everybody was going to have an opportunity and the chance to live a life with some decency and some dignity and a chance for some self-respect. So I know you gotta be feelin’ the pinch down here where the rivers meet.”

Reading his words today, we wonder if anything has really changed in the last 35 years. And to be honest, it seems even worse today. Climate change is real, the crisis of democracy is real, the repression of truth by “alternative facts” is real. And to top it all off, the world seems to have become a playground for a league of elder men who take pleasure in competing with their egos. At least one of them can be found on every continent, in every country—even in the United Kingdom, where something known as “British understatement” was once created.

But here comes the good news—virtues like decency, sincerity, and reflectiveness aren’t dead. They’re only drowned out by those who are permanently screaming and shouting in public, on TV or on Twitter. We have to listen more closely to those who really have something to say—like Sam Fender. The singer-songwriter from North East England became visible to much of the world two years ago when he published “Play God,” a true earworm of a song that branded him as energetic, soulful and wise.

One year later, Sam gave us “Dead Boys,” a powerful yet heartbreaking piece of music where he talks about the frighteningly high suicide rate of young men in the U.K. The issue is personal for Sam, as he has also lost some friends who decided to take their lives.

With Hypersonic Missiles, Sam Fender has now presented his very first album—including a song of the same name which deals with the threat of war. This record not only shows where the young man stands musically, but it’s also a status quo description of the world out there. We met him one day before his 25th birthday for an interview.

Oh, by the way: On April 25, 1996, when Sam Fender was born, Bruce Springsteen played a concert on British ground, at Brixton Academy in London. It is said that they heard the music as far as North East England.

»When I was a kid, I felt very claustrophobic in my hometown and I thought making music was kind of an unrealistic idea.«

Jonas:
A couple of weeks ago, you were a guest on the German TV show Aspekte. You told the host Jo Schück that you just try to write songs from the perspective of a 24-year-old that grew up in North East England. What kind of perspective is that exactly?

Sam:
I’m born and raised in North Shields which is a very blue-collar town. It’s a place for working-class people—a little crazy, but pretty normal in general. When I was a kid, I felt very claustrophobic there and I thought making music was kind of an unrealistic idea. I was very lucky to be discovered by my manager at a time when nobody was caring about me or my career. So, what’s my perspective? I mean, I’m from there, I come from a place that is not the cultural hub of the world and that is predominantly white. There aren’t many other ethnicities in my hometown which is crazy. When I was in London for the very first time as a kid, everything felt more than amazing. Compared to the rest of England, London is very different…

Jonas:
… like Berlin compared to the rest of Germany.

Sam:
Exactly, that’s the thing. The area I come from isn’t densely populated, there are just a few thousand people living in my hometown. My perspective on everything I’m singing about is defined by that—which means I can only say what I know. And that’s probably not very much because I’m only 24 and I’m just trying to absorb as much as I can. When you listen to the songs on my album, you’re going to see that most of them are coming from me as an actual person. But there are other songs as well that are not written from the perspective of a 24-year-old, I created them from the perspective of a character. “Hypersonic Missiles,” for example, is one of those songs.

»There’s a lot of ignorance in the world. And to be honest, I’m ignorant to myself.«

Jonas:
I learned that, at the time that you wrote “Play God” a few years ago, you were very anxious about the future and feeling paranoid. Are you still that anxious today?

Sam:
Yeah, definitely. We’re in a very dangerous place politically, we’re in a very dangerous place economically in the U.K., and we’re in a very dangerous place environmentally. There’s a lot of ignorance in the world. And to be honest, I’m ignorant to myself. Somehow, it switched off, but the reality is that there’s only like ten years left that we have to make change in the environment—or the damage is going to be irreversible. This planet will collapse, our species will die. The human race won’t be able to sustain itself if we don’t make some big changes in the next ten years.

»We’re in a place now where we urgently need change. Immediately.«

Jonas:
Do you think we will be able to avert the catastrophe?

Sam:
I don’t really know. I don’t trust that our government is going to change anything. I don’t trust that, when you’ve got someone like Trump at the head of the United States, anyone is going to change anything. I mean, this guy doesn’t even believe that climate change is real. He completely denies its existence. And there are thousands and thousands of people who follow him. He’s very open to all that fuckin’ coal shit and is interested in keeping all the fossil fuel factories running.

I come from a town which is built on fossil fuel, a town where the industry is thriving on coal mines and all the other stuff that’s not good for the environment. That’s the reason why I understand what it is when politicians or others say that they’re just trying to save jobs. These industries are giving people work, that’s understandable. And for sure, I personally would be very happy if the mines could be kept open just so people would not lose their work. When all the shipyards in my area were closed in the 1980s, thousands of men lost their jobs, some even committed suicide because they didn’t see a way out. My dad and all my uncles were working there, I totally understand the arguments because I grew up in a world that had seen the effects of industry closing down. But the big problem is: It’s not going to sustain. We’re in a place now where we urgently need change. Immediately. We need to do everything we can to stop what is happening right now before our eyes. Or the world is done.

»While we praise the technology for the fact that it gave us Netflix, it enables, on the other hand, the rise of right-wing movements in the U.S., the U.K. and everywhere else in the world.«

Jonas:
In “Hypersonic Missiles” you sing “I am so blissfully unaware of everything,” and in the accompanying music video you show how young people of your age literally don’t care. That’s a behavior pattern that doesn’t seem so unfamiliar to most of us, to be honest. Why are so many people “so blissfully unaware of everything?”

Sam:
Because of damn reasons—because of that little thing (points his finger at his smartphone). We’ve got every piece of media on the planet in it, and our entire life is in it too: our work, our family, our friends, our music, absolutely everything. We can do whatever we want with it. Online. We fuck this little device up that we can live our life through. Even the head of the United States, the biggest power on the planet, needs this little machine to spread his racist messages to the world. And while we praise the technology for the fact that it gave us Netflix, it enables, on the other hand, the rise of right-wing movements in the U.S., the U.K. and everywhere else in the world—thanks to people like Donald Trump or Nigel Farage.
But what do I do? But what do I really do, personally? Instead of protesting in front of 10 Downing Street, I’m signing some online petition on my phone which goes to the parliament and then directly to the bin—and nobody talks about it anymore. I’m also a hypocrite. I’m just as ignorant, lazy and politically inactive.

»What we need is a government that is engaged with the new generation.«

Jonas:
But you’re writing wise and encouraging songs…

Sam:
Yeah, but I’m not clever enough to lead any social charge, I’m not smart enough to challenge the political leaders of the world. I don’t know enough about economics or all the other topics to actually have an intellectual debate. I would get destroyed. Even Nigel Farage would publicly destroy me, would destroy us.
What we do need is a government that is engaged with the new generation. Brexit was voted for by the old, as well to continue with fossil fuels or to force fracking technologies. We need to engage the new generations to finally have an environmentally conscious government which we don’t have yet. This ten-year forecast is fact, that’s absolutely terrifying. But do you see anyone getting annoyed? Do you see anyone kicking up the vibe?

»Gym memberships are the new cocaine. But, in our world, it has always been about that.«

Jonas:
In the first seconds of the “Hypersonic Missiles” video, you can see a tiny sticker on the clapperboard with the words “You are beautiful” written on it. Is the problem of today’s Instagram society that being beautiful is the only thing that really counts?

Sam:
Potentially. There’s definitely a massive influx in physical health and things like that. Everyone is at the gym now, everybody is really good-looking. Gym memberships are the new cocaine. But, in our world, it has always been about that. The difference with today is: We’ve now got devices where we can talk to everybody and see everybody all the time. All of our friends can permanently post really good-looking photos of themselves, so everybody creates this facade. And to be honest: I’m addicted to it too.

»There are people who bring actual beauty to the world. My godfather is one of them.«

Jonas:
What’s your personal definition of the term beauty? Where do you find real beauty in your life?

Sam:
In goodness and kindness—these are the most beautiful things I’ve ever experienced. I’m not mentioning me, I’m a selfish prick. I’m talking about people who are genuinely selfless, who go out day by day just to do things for others. These people bring actual beauty to the world. My godfather is one of them. He would literally do anything for anybody. So many people go to him for advice or help. He’s just a normal guy who works in a normal job, but he’s the most straight-down-the-line guy. He’s very active in politics because he’s interested in creating a better future for his children. The only thing he cares about is his kids and helping others out. And he cares about me. He is the ideal of beautiful for me.

»If you ram enough hatred down the throats, people start to believe it.«

Jonas:
There are people that don’t see any beauty, and sometimes, when there’s only darkness left, they decide to take their lives. Last year you released a song called “Dead Boys” that is dealing with the sad phenomenon of so many young men committing suicide in the U.K. That’s a tragedy you also personally experienced in your hometown—you lost a couple of friends who grew up with you. Why is there such a big silence in our society about that topic? Do we need a different definition of “being a man” to reduce the suicide rate?

Sam:
There are a lot of things out there that still exist due to archetypes that have been held on for centuries. We still think it’s bullshit for boys to cry. We still try to emasculate them by saying “Don’t be a fag!” or “Don’t be a little girl!” And simultaneously we accuse others to be sexist. Isn’t that ridiculous?

I spent an entire life around that kind of bullshit bravado that people haven’t got rid of. If you’ve got people like Piers Morgan on daytime TV spitting hatred all day long, or people like Katie Hopkins, nothing changes. We’re not going to have any change until these old archaic cunts fuck off. These people talk to the general public every day—and the audience eats up everything they say.
That’s the whole point on media, with any piece of it we digest, even with music. Music isn’t played on the radio because it’s popular. It’s played there to make it popular. I’m not popular because lots of people like what I do, I’m popular because the radio stations rammed my songs down people’s throats until they are going to stop liking it. That’s how it is with every piece of media. If you ram enough hatred down the throats, people start to believe it. It’s very frustrating and I don’t have any idea how to change it.

»When Bruce Springsteen talks about his own town, it sounds like he would talk about mine.«

Jonas:
Let’s talk about Bruce Springsteen—an artist whose songs, on the radio, have been rammed down people’s throats for decades, as you would say. He seems to be a big inspiration to you. What does his music mean to you?

Sam:
Bruce Springsteen is from a very blue-collar town with a lot of industry, just like me. When he talks about his own town, it sounds like he would talk about mine. There’s a song called “Born To Run” with the lines “Beyond the palace, hemi-powered drones / Scream down the boulevard / The girls comb their hair in rearview mirrors / And the boys try to look so hard”—that is a hundred percent my hometown. And, besides that, he’s the fuckin’ god of music. I love his album The River, I love Darkness On The Edge Of Town, and I love Nebraska, especially the song “Reason To Believe.”

Jonas:
A pretty melancholic Springsteen album…

Sam (smiles and starts singing the song’s refrain):
“Still at the end of every hard day, people find some reason to believe.”


Jonas Gülden

Editorial — Jonas Gülden

Andersartige Betrachtungsweise

Die einen finden Barcelona eindrucksvoll und außergewöhnlich, die anderen halten die Stadt für trist und nicht anziehend. Dabei hat Barcelona viele schöne Ecken, man muss sie nur finden – und die Stadt abseits der bekannten Tourismusattraktionen erkunden.

10. September 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Fotografie & Text: Jonas Gülden


Tom Hegen

Editorial — Tom Hegen

Toxic Water

Mit seiner »Toxic Water«-Serie dokumentiert Fotograf Tom Hegen die Auswirkungen des Braunkohleabbaus auf das Grundwasser, das sich dadurch absenkt und schließlich verfärbt.

4. September 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Fotografie & Text: Tom Hegen

Tom Hegen beschäftigt sich in seiner Fotografie mit dem starken Einfluss des Menschen auf die Umwelt. Mit Hilfe von Luftbildaufnahmen gelingt ihm eine besondere Abstraktion und Ästhetisierung der Natur – oder dessen, was davon übrig ist.

Die hier gezeigten abstrakten Landschaften dokumentieren die Folgen des Braunkohleabbaus. Durch die Absenkung des Grundwassers kommen Mineralien wie Pyrit oder Markasit mit Sauerstoff und Wasser in Kontakt. In der Folge bilden sich Eisenhydroxid und Sulfat, die zu starken Verfärbungen des Wassers führen.