Erkan Acar
Portrait — Erkan Acar
Frischer Wind im deutschen Film
Mit der Polizeikomödie »Faking Bullshit« hat Erkan Acar gerade sein neuestes Werk ins Kino gebracht. Der 42-jährige Filmemacher, der schon in Berlin-Neukölln einen eigenen Späti besaß, setzt auf ungewöhnliches Storytelling – und auf neue Gesichter statt auf Klischeebesetzungen und Einheitsbrei. Das wird in der deutschen Filmlandschaft auch langsam Zeit.
18. September 2020 — MYP N° 29 »Vakuum« — Text: Katharina Weiß, Fotos: Steven Lüdtke
Es gibt Filme, die man nicht erklären kann, ohne sie gesehen zu haben. Die abenteuerliche Buddy-Komödie „Ronny & Klaid“ von Erkan Acar gehört zweifelsfrei dazu. Das Besondere an dem Streifen, der 2018 auf dem Filmfest München seine Premiere feierte: Acar erzählt darin seine ganz persönliche Vergangenheit als Neuköllner Spätibesitzer. Außerdem führte er bei dem Projekt nicht nur Regie, sondern fungierte auch als Drehbuchautor und Produzent.
Und in der Tat: Die humoristische Eigenart und das multinational inspirierte Storytelling des 42-jährigen Urberliners bereichern das Baukastensystem des deutschen Kinos um eine erfrischende Alternative. Und so ist es nicht verwunderlich, dass bereits Anfang nächsten Jahres eine Fortsetzung der Geschichte gedreht werden soll.
Aber bleiben wir im Hier und Jetzt. Wir treffen Erkan Acar an seinem Arbeitsplatz, der geschichtsträchtiger nicht sein könnte: Auf dem Gelände der Babelsberger Filmstudios in Potsdam liegen die Büroräume von Mavie Films, Acars Produktionsfirma. Das Unternehmen legt nach eigenen Worten großen Wert darauf, Newcomer*innen einen Ort der kreativen Freiheit zu geben und sie darin zu fördern, ihre eigene Stimme zu finden.
»Selbst mal ein Filmschaffender zu sein war stets ein Traum, der mir unendlich weit entfernt vorkam.«
Damit hat Acar aus einem gefühlten Vakuum heraus, das der Filmbranche in diesem Land anheftet, genau den Raum erschaffen, nach dem er sich als filmbegeisterter Jugendlicher immer gesehnt hat: „Egal ob Deutsches Kino, Bollywood, die asiatischen Martial-Arts-Streifen oder türkische Filme: Ich habe sie alle geliebt,“ erzählt er und fährt fort: „Mit zwölf Jahren habe ich damit angefangen, eigene Kurzfilme aufzunehmen. Aber selbst wirklich mal ein Filmschaffender zu sein war stets ein Traum, der mir unendlich weit entfernt vorkam.“
So machte Acar zuerst eine bodenständige Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann und nahm anschließend eine Stelle bei der in den frühen Nullerjahren ultrahippen Jeansmarke Diesel an. Stammkunde dort war ein Produzent, der ihm eines Tages eine kleine Nebenrolle für den Sat1-Film „Ein Koala-Bär allein zuhaus“ anbot.
»Ich spielte meistens den Quotenkanaken.«
Die Arbeit machte dem jungen Berliner Spaß und er bemühte sich um weitere Möglichkeiten, nebenberuflich ein bisschen Filmluft zu schnuppern. Acar, Jahrgang 1978, begriff schnell, dass für nichtweiße Darsteller vorrangig Nebenrollen aus dem kriminellen Milieu vorbehalten waren. „Es gab nur Schlägertypen oder Drogendealer,“ erinnert er sich. „Ich spielte meistens den Quotenkanaken.“
Als eine Agentin auf ihn aufmerksam wurde, stellte sie ihm die Frage, die seinen Werdegang für immer verändern sollte: „In welchem Film, der jemals in Deutschland gedreht wurde, hättest du gerne die Hauptrolle gespielt?“ Ab dem Moment befasste Acar sich intellektuell mit dem Deutschen Film, durchforstete die Archive und kam mit einer Antwort zu seiner Agentin zurück: „Es gibt keinen einzigen.“ Sie entgegnete: „Erkan, dann kannst du lange warten, bis jemand dich anruft und dir eine Hauptrolle auf den Leib schneidert.“ Seine Schlussfolgerung: „Na gut, dann schreibe ich ab jetzt meine eigenen Filme.“
Aus der anfänglichen Ohnmacht emanzipierte Acar sich mit autodidaktischem Feingefühl und jeder Menge Energie. Die Anekdote über einen Verleih, der kürzlich eines von Acars Filmprojekten ablehnte, weil die beiden Hauptfiguren Migranten waren, versetzt ihn eher in amüsierte Rage. Solche Momente kann er heute leichter loslassen: Er ist es gewohnt, für mutige Ideen und ebenso mutige Besetzungen zu kämpfen.
»In den USA genügt die Antwort ›Ich bin Filmemacher‹.«
Die Frage, ob er sich eher als Darsteller, Drehbuchautor, Regisseur oder Produzent sieht, schmeckt dem vielseitigen Künstler gar nicht: „Das ist eine Frage, die ich ausschließlich aus dem deutschen Raum kenne. In den USA genügt die Antwort ‚Ich bin Filmemacher‘.“ Es werde dort viel seltener von einem erwartet, dass man sich für eine Berufsbezeichnung entscheiden müsse. Denn wer die Chance ergreife, eigene Filme ins Leben zu rufen, werde aus innerem Antrieb unweigerlich zum Mädchen für alles.
Dennoch wirkt Acar weniger wie ein chaotischer Künstler, der von genialen Geistesblitzen lebt. Er hat eine angenehme, pragmatische Art und macht insgesamt den Eindruck eines verlässlichen Geschäftsmanns. Über seine Arbeitsroutinen sagt er: „Zwei Monate im Jahr ziehe ich mich kreativ zurück und schreibe alles auf. Dann mache ich mir Gedanken darüber, wie man die rohe Idee umsetzten und finanzieren kann. Daraufhin starte ich Gespräche mit Schauspielern, Technikern oder Verleihern. Erst dann gehe ich auf die Jagd nach Geldgebern und Kreativpartnern.“
Im Rücken hat Acar dabei stets seine Filmfamilie. Dazu gehören unter anderem Drehbuchautor Arend Remmers, der Regisseur Adolfo J. Kolmerer, mit dem er bereits seit seiner ersten Co-Produktion, dem kontemporär-flapsigen Baller-Märchen „Schneeflöckchen“, cineastische Abenteuer ausheckt. Ein anderer fester Bestandteil eines jeden Projekts ist Acars Freundin, die Schauspielerin Xenia Assenza, die sich als Darstellerin und Drehbuchautorin einbringt.
»Es herrscht immer noch die Meinung, dass die ersten Türken, die sich in Mitteleuropa niedergelassen haben, die Gastarbeiter der 1960er Jahre waren.«
Ob sich die private Chemie auch auf die Leinwand projizieren lässt, wird ein breiteres Publikum spätestens im Herbst 2020 entscheiden können. Denn dann soll Acars neuste Eigenproduktion, die historische Liebesgeschichte „The Witch and the Ottoman“, in die Kinos kommen. Falls das Projekt ein Erfolg wird, könnte Acar beweisen, dass er nicht nur gegenwärtige Multikulti-Stoffe mit Kumpel-Slang beherrscht, sondern auch das Fassungsvermögen für einen komplexen Kostümfilm besitzt.
„Es herrscht immer noch die Meinung, dass die ersten Türken, die sich in Mitteleuropa niedergelassen haben, die Gastarbeiter der 1960er Jahre waren“, sagt Acar über seine Motivation. „Aber mich haben immer schon die Schicksale der sogenannten Beutetürken interessiert, die von 1356 bis 1858 im Rahmen der Osmanenkriege versklavt, anschließend aber häufig etabliert wurden.“ Eine dieser vergessenen Geschichtsperspektiven auf türkisch-deutsche Biografien mischt Acar in seinem Historienfilm mit einer feministischen Perspektive auf die letzte Welle der Hexenverfolgung im frühen 18. Jahrhundert.
Der Polizeidienststelle droht die Schließung – wegen mangelnder Kriminalität.
Etwas leichtere Kost ist hingegen das aktuelle Kinoprojekt von Acar, die charmante Polizeikomödie „Faking Bullshit“, ein Remake des schwedischen Erfolgs „Kopps“: Acar spielt darin den Polizisten Deniz, dessen Dienstelle in einem verschlafenen Nest in NRW die Schließung droht – wegen mangelnder Kriminalität. Also stachelt Deniz die Kleinstadtkollegen dazu an, die Seiten zu wechseln und wohl oder übel selbst für das nötige Maß an Straftaten zu sorgen.
Trotz einiger zäher Wendungen und einer etwas verwirrenden Auflösung schafft es die Komödie, eine innige Verbindung zum Zuschauer aufzubauen, in der der Spaß und das subtile Hinterfragen von Geschlechterrollen im Vordergrund stehen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion über Polizeigewalt beleuchtet der Film eine menschelnde Perspektive auf die Beamt*innen in Uniform.
»Große Produktionen trauen sich häufig nicht, ohne superprominente Zugpferde auszukommen.«
Besonders schön: Publikumsliebling Bjarne Mädel, der einen gewieften Obdachlosen spielt, wird mit einem Ensemble aus frischeren Gesichtern gepaart. Das war auch einer der Gründe, warum Acar so begeistert von dem Projekt war: „Ich finde es wahnsinnig schade, dass die Risikobereitschaft in Deutschland noch so gering ist. Große Produktionen trauen sich häufig nicht, ohne superprominente Zugpferde auszukommen. Obwohl wir keinen klassischen Starkult haben, wie das zum Beispiel in der Türkei der Fall ist, sieht man in so vielen Filmen die gleichen Gesichter.“
»Die Fokussierung auf große Namen und klassische Themen führt dazu, dass weniger mutige Filme gemacht werden.«
Ohne dass Acar es aussprechen muss, denkt man gleich an Platzhirschen wie Schweiger, Schweighöfer und M’Barek, die zweifelsohne ihre Berechtigung haben, die aber immer noch hell genug strahlen würden, wenn sie ihr Rampenlicht mit anderen teilen würden. „Die Fokussierung auf große Namen und klassische Themen führt dazu, dass weniger mutige Filme gemacht werden. Ich spüre aber, dass sich hier gerade viel verändert. Und ich hoffe, dass mehr Menschen aus Berlin oder München dem deutschen Kino und den Stoffen in ihrer Sprache eine Chance geben. Es gibt bei uns Projekte, die genauso gut aussehen wie ein vergleichbares amerikanisches Produkt. Vielleicht wäre der eine oder andere überrascht, welche spannenden Filme auf dem deutschen Markt auf ein kritisches und neugieriges Publikum warten.“
#erkanacar #katharinaweiss #stevenluedtke #mypmagazine
Mehr von und über Erkan Acar:
fpberlin.de
17durch2.de
@erk.acar
Text: Katharina Weiß
Fotos: Steven Luedtke
HAL
Editorial — HAL
Flesh Love Returns
The Japanese photo artist HAL packs couples of any kind in vacuum bags for his stunning pictures. Through this, he shows that love can be so strong that one would like to merge with the other person.
13. September 2020 — MYP N° 29 »Vacuum« — Photography & text: HAL
Eike & Melanie
Nobuyuki & Chiemi
I want to express love through my work—because everything in the world is based on love. Everyone loves family and lovers. But I think it is important whether it is directed around us. If it is not directed, it will sometimes create disparities or create conflicts. And only love may have the power to bring all things together, even across races and disparities. So, we should spread the sense of love outward and spread the link of love more and more across the various communities.
Taichi & Kazumi
Jon & Evelyne
People who love each other are instinctively attracted to each other, and they hope to become one. To represent this power of love, I have photographed couples vacuum-sealed—a project that I called “Flesh Love Returns.” For that, I shot the couples at their most important places. They decided on the location and I decided on the best angle there. Some couples chose their own room, some choose the workplace where they first met, and some chose a restaurant where they had their very first date. Two people, perfectly packed in their best place.
Kohmey & Keiko
Through the medium of photography, the couple has become my chosen vehicle to express the principle theme of the world: love. This of course requires a search to find subjects who are willing to participate. So, I use to go to Kabukicho in Shinjuku, underground bars in Shibuya and many other places which are full of activity like luscious nighttime beehives. When I see a couple of interest I start to negotiate. I’m sure that many people initially think of my proposal as unusual or even look through me like I am completely invisible, but I always push forward with my challenge to them. The models appear from all walks of life and individually have included musicians, dancers, strippers, laborers, restaurant and bar managers, photographers, businessmen, and women, unsettled and unemployed, et al.
Eddy & Ashbee
Kenta & Aki
As a couple, I have photographed a wide variety of variables which include being young and old, from the same or opposite sex, of different races, having different styles, girls from the north and men from the south, and many others who have been willing to participate. There have been occasions when the situation has become complicated, for example, if a couple has disagreements, begin to argue or even fight! There are also the inevitable no-shows and the couples who split up before I can complete the images. On one assignment I had to visit a prison later to obtain permission for the final print. Happily though, for the most part, I’ve had many joyful moments with many interesting scenes to capture. There was even a couple who married soon after one event, and it all began in a bathtub!
Johnnie & Kafka
Kaede & Attci
Marijntje & Jaap
Ryo & Tomomi
Ruby & Brian
Sho & Eri
Taiki-Shino
Sae & Kazuma
About HAL:
HAL aka Haruhiko Kawaguchi is a Tokyo-based commercial photographer. He chose his artist name not only because it is easier to remember internationally and differs from his commercial work. The name is also an homage to the HAL on-board computer from Stanley Kubrick’s legendary film “2001: Odysee in Space.”
Born in 1971, Kawaguchi originally studied automotive manufacturing technology in order to develop robots in the automotive industry like his father. On a trip at the end of his studies, however, he got to know the communicative power of photography; The shy Japanese learned to make contact with foreign-speaking people through photography. With this experience, he began to work in and for advertising agencies after completing his studies.
For his series “Flesh Love Returns” the couples were allowed to choose the places where they were photographed. That was often their own homes but also places where they met for the very first time. The series has been created from 2014 in Japan, Hong Kong, the Netherlands, and Belgium.
#HAL #fleshlovereturns #vacuum #mypmagazine
More from and about HAL:
photographerhal.com
instagram.com/photographerhal
facebook.com/photographerhal
FLOSS
Interview — FLOSS
Das Gegenteil von grau
Bombastische Bühnenoutfits und mit Synthie-Krokant überzogene Beats: Die Berliner Künstlerin FLOSS haut visuell und akustisch auf die Zwölf. Dass sie sich selbst dabei nicht allzu ernst nimmt, ist pure Absicht – die junge Frau strebt nach einer Art von Pop, die sie persönlich in der deutschen Musikszene schmerzlich vermisst.
31. Juli 2020 — MYP N° 29 »Vakuum« — Interview & Text: Katharina Weiß, Fotos: Nick Strutsi
Wer dem grauen Shirt- und Basecap-Look der deutschen Pop-Landschaft schon lange nichts mehr abgewinnen kann, sollte den Werdegang dieser Newcomerin verfolgen: Sängerin und Designerin FLOSS. Die Künstlerin steht mit ihrer Selfmade-Kunstfigur zwar noch ganz am Anfang, strotzt dafür aber nur so vor Lebenslust und Experimentierfreude.
Nach dem Studium am Hamburger Modeinstitut HAW verschlug es die gebürtige Braunschweigerin zunächst nach Paris und schließlich nach Berlin. Dort bastelt die 28-Jährige gerade an einer Karriere als wandlungsfähige Pop-Prinzessin.
Der Einstieg in die Branche gelang ihr dabei eher zufällig: Aus familiären Gründen setzte sich die junge Frau für das Thema Organspende ein, das im Januar 2020 unter dem Stichwort Widerspruchsregelung im Deutschen Bundestag zur Abstimmung stand. Dafür dachte sie sich kurzerhand einen spritzigen Xmas-Tune aus und engagierte Starmoderator Joko Winterscheidt als ehrenamtlichen Santa Claus.
Vor kurzem legte sie mit dem humoristisch-mystischen Themensong „Floss Like A Boss“ nach. Dieser Track – in dem sie übrigens erklärt, warum sie sich einen Künstlernamen ausgesucht hat, der ins Deutsche übersetzt Zahnseide bedeutet – hat so gar nichts mit der hierzulande üblichen Bescheidenheit zu tun. Der Song und auch das Video dazu kommen so breitbeinig und selbstbewusst daher, wie man es sonst nur von RnB- und Hip-Hop-Acts aus dem angelsächsischen Raum gewohnt ist.
Wir waren beim Videodreh dabei und konnten unter anderem beobachten, wie sich die junge Künstlerin im glitzernden Latex-Body als menschliche Zahnpasta auf einer Riesenbürste räkelt. Oder wie sie eine Zuckerparty mit krassen Mundspülung-Cocktails feiert. Nicht nur Zahnärzte werden daran ihre helle Freude haben.
»Ich bin eher so die Maximalistin.«
Katharina:
Wenn Du so erfolgreich wie Michael Jackson wärst und Dir ein eigenes Heimparadies einrichten könntest: Wie sähe der FLOSS-Palast aus?
FLOSS:
Ein flossy Vergnügungspark? Ja, bitte! Visuell gibt dafür mein aktuelles „Floss Like A Boss“-Video ja die perfekte Farbpalette vor: Pastelltöne und Art déco-Vibes wie in Miami Beach. Ich bin ja eher so die Maximalistin – wer hätte das gedacht. Darum käme dieser Vergnügungspark einem „Willy Wonka trifft David LaChapelle“-Paradies extrem nahe. Popkultur-Überdosis!
In den Universal Studios in Orlando gibt es eine Achterbahn, die „Rock ’n’ Roller Coaster“ heißt. Dort kann man vor dem Start auswählen, welches Lied man während der Fahrt hören möchte. So eine Achterbahn bräuchte mein Anwesen auch. Ich persönlich hatte mich auf dieser Achterbahn übrigens für „Glamorous“ von Fergie entschieden.
Die Krönung wäre ein pinkfarbener und barock-schnörkeliger Süßwasser-Pool mit Wellenfunktion. So einer wird mir ständig auf Pinterest angezeigt. Wie weit darf ich noch träumen? Achso, und natürlich gäbe es im FLOSS-Vergnügungspark überall Zuckerwatte in Form meines Logos.
»Die Sprache des Pop hat viele Dialekte.«
Katharina:
Warum funktioniert Deine Musik so symbiotisch mit deinen Outfits? Was ist Dir überhaupt wichtiger: Fashion oder Sound?
FLOSS:
Ich mag es, Pop ganzheitlich zu denken. Wenn ich eine Idee für einen Song habe, kommen mir oft sofort Assoziationen für das Musikvideo. In „Floss Like A Boss“ zum Beispiel wollte ich unbedingt einen Lollipop-Soundeffekt haben. Warum? Das wird im Video humoristisch veranschaulicht. Die Sprache des Pop hat viele Dialekte.
Zur Frage, ob Fashion oder Sound: Ich kann mich nicht entscheiden, was mir wichtiger ist. Das ist, wie wenn Du mich fragen würdest, ob ich lieber blind oder taub wäre. Vielleicht würde ich auch nicht unbedingt den Begriff Fashion benutzen, sondern eher Visuals. In meinen Konzepten bedingt sich beides irgendwie gegenseitig – und ich brauche auch beides, um zu kommunizieren. Um mich zu kommunizieren.
»Meine Vision ist schillernder Pop mit einer tieferen Botschaft.«
Katharina:
Welche Vision steckt hinter Deinem Style und dem gesamten Kunstprojekt?
FLOSS:
Ich möchte einfach Musik machen, die ich auch selbst gerne hören würde und von der ich hoffe, dass sich viele andere damit identifizieren können. Und ich will zeigen, dass es wunderbar ist, geilen Kitsch und bunte Farben gut zu finden – or whatever your kink is! Wahrscheinlich ist das so, weil ich mich früher wegen meines Geschmacks oft als Outsider gefühlt habe. Aber diese Art von Kunst muss kein guilty pleasure sein!
Im Modedesign habe ich immer Humor und viele Farben benutzt, um dann mit einem Aha-Effekt eine tiefere Bedeutung zu vermitteln. Alles funktionierte mit einer „auf den zweiten Blick“-Ästhetik, so ein bisschen wie bei Bacon, Kirchner oder Matisse. Bei ihnen nimmt man auf den ersten Blick nur die schönen bunten Farben wahr, aber nach etwas längerer Betrachtung stell sich die Erkenntnis ein: „Moment, die sehen im Detail ja gar nicht so happy aus. Und ist das nicht ein pinkfarbener Totenkopf? Was bedeutet das wohl?“ Das ist ein Mechanismus, den ich unterbewusst immer wieder anwende. Um es in einen Satz zu packen: Meine Vision ist schillernder Pop mit einer tieferen Botschaft, oft angelehnt an female empowerment und zwischenmenschlichen Beziehungsshit, den ich versuche, in wohlklingende Worte und Melodien zu fassen.
»Ich war super aufgeregt, habe es aber irgendwie geschafft mich vorzustellen.«
Katharina:
Mit welcher Geschichte erzeugst Du auf jeder Party offenstehende Münder?
FLOSS:
Na, wenn ich die jetzt erzähle, kann ich sie nicht mehr auf Partys zum Besten geben! Aber eine Story verrate ich: Meinen ersten Job nach dem Studium habe ich bekommen, weil ich nach Paris gefahren bin und dort einfach an die Tür des Büros meines Lieblingsdesigners Jean-Charles de Castelbajac geklopft habe. Die Adresse hatte ich vorher gegoogelt. Er selbst war nicht da, dafür aber sein Sohn Louis-Marie und eine Assistentin. Ich war super aufgeregt, habe es aber irgendwie geschafft mich vorzustellen, ihm mein Portfolio zu zeigen und meinen Praktikumswunsch zu äußern. Ein paar Monate später bin ich hingezogen, wurde nach dem Praktikum übernommen und habe insgesamt zwei Jahre für ihn als kreative Assistentin und Designerin gearbeitet.
»Wir schöpfen aus der Wut neuen Mut.«
Katharina:
In welchem Punkt wirst du am häufigsten unterschätzt?
FLOSS:
Wenn ich mich in Situationen nicht hundertprozentig wohlfühle, wirke ich ziemlich verträumt und auch introvertiert. Ich bin nicht die, die am lautesten schreit, um Aufmerksamkeit zu erhalten.
Katharina:
Ende letzten Jahres wurdest Du durch Deinen Song „Earth To Santa (I Am My Own Gift)“ bekannt, mit dem Du dich für Organspende einsetzt. Welchen persönlichen Bezug hast du zu dem Thema?
FLOSS:
Meine Mutter ist seit Anfang 2019 dialysepflichtig und wartet auf eine Spenderniere. In Deutschland beträgt die durchschnittliche Wartezeit aktuell etwa zehn Jahre – im Gegensatz übrigens zu Ländern wie Spanien, in denen die sogenannte Widerspruchsregelung greift und durch eine relativ kurze Wartezeit von ein bis zwei Jahren viele Leben gerettet werden.
Als der Bundestag im Januar gegen die Widerspruchsregelung gestimmt hat, war das ein schwerer Schlag für alle Wartenden. An diesem Tag waren wir mit „Junge Helden e.V.“, einem Verein, der sich für Organspende-Aufklärung einsetzt, und vielen Betroffenen vor Ort im Bundestag. Das war echt enttäuschend und ernüchternd. Aber gleich danach haben wir mit dem Hashtag #WirBleibenDran weitergemacht. Wir schöpfen aus der Wut neuen Mut und wollen weiterhin etwas bewegen. Wer uns unterstützen möchte, kann mir oder den Jungen Helden gerne schreiben.
»Ich habe immer die Hoffnung, jemanden zu erreichen, der mit seiner Meinung auf der Kippe steht.«
Katharina:
Mit „Earth To Santa (I Am My Own Gift)“ hast Du dich in den damaligen öffentlichen Diskurs eingemischt und wurdest dabei unter anderem von Joko Winterscheidt unterstützt. War dieses Engagement eher etwas Singuläres? Oder hast Du weitreichendere politische Ambitionen?
FLOSS:
Ich finde, man muss sogar politisch sein. Man kann gar nicht laut und oft genug herausschreien, wie Scheiße Nazis sind, und seine Stimme für das einsetzen, was einem wichtig ist, damit es auch alle Leute auf den billigsten Plätzen hören. Vielleicht wissen das manche Menschen ja einfach nicht. Oder sie haben noch nie darüber nachgedacht. Ich habe immer die Hoffnung, jemanden zu erreichen, der mit seiner Meinung auf der Kippe steht. Vielleicht wird ihm dadurch ein guter Gedanke eingepflanzt, aus dem wiederum gute Taten erwachsen können.
Ich persönlich war zwar nie eine große Rebellin, aber ich setze mich immer für Dinge ein, die mir wichtig sind. Ich versuche, mich so gut es geht zu informieren und nicht gleich zu urteilen – sondern zu beobachten und zu verstehen. Ich brauche immer etwas Konkretes, wenn ich mir eine Meinung zu verschiedenen Themen bilden möchte. Dabei hilft mir unter anderem mein Engagement im Team von „Curated by GIRLS“, eine Online-Plattform, die sich für Gleichberechtigung, Diversität und Inklusion starkmacht. Hier werden Künstlerinnen ins Scheinwerferlicht gerückt, die sonst oft übersehen werden.
»Wenn ich für ein paar Tage nach Saarbrücken fahre, ist das immer ein bisschen wie Arbeitsurlaub.«
Katharina:
Wie entsteht Deine Musik? Welche kreativen Köpfe sind daran noch beteiligt?
FLOSS:
Bei mir beginnt es meistens mit einzelnen Textzeilen, die sich dann zu Konzepten entwickeln. Aus einem Satz, der mir lange im Kopf herumschwirrt, entsteht in der Regel eine Geschichte, die entweder von meinen Erlebnissen inspiriert ist oder die ich mir ausdenke – einfach, weil es Spaß macht. Bei meinem Song „WIFI“ zum Beispiel stand zuerst der Satz: „Strong connection but no service“. Bei „Floss like a boss“ war es tatsächlich der Titel, der sich dann mit meiner Liebe zu Bildern von pinkfarbenen Süßigkeiten gepaart hat.
Manchmal tagträume ich auf dem Fahrrad und dann muss ich anhalten, um eine Zeile schnell in meinen Notizen festzuhalten. Vielleicht brauche ich deshalb immer etwas länger, um mein Ziel zu erreichen, wer weiß? Meist habe ich dann auch schon eine Melodie im Kopf und spiele sie meinen Produzenten vor, zu denen zum Beispiel das Duo „Tim & Matteo“ gehören. Wir sind da total auf einer Wellenlänge und können ohne große Egos, die uns im Weg stehen, zusammenarbeiten. Auf diese Weise ergeben sich die besten Sachen. Mit den beiden arbeite ich entweder in Fernbeziehung und nehme in Berlin auf, oder ich fahre für ein paar Tage zu ihnen nach Saarbrücken. Das ist dann immer ein bisschen wie Arbeitsurlaub, wenn man aus Berlin kommt. So etwas tut total gut.
In Berlin wird das FLOSS-Team auch langsam, aber sicher immer größer. Ich habe fantastische Unterstützung gefunden. Oder vielleicht haben wir uns gegenseitig gefunden? Egal, ob es um Hilfe beim Styling, bei Shootings oder um den musikalischen Feinschliff geht: Ich habe das große Glück, mit vielen Künstlern und Medienschaffenden zusammenzuarbeiten, die auch noch meine Freunde sind – und die an meine Visionen glauben.
#floss #katharinaweiss #nickstrusi #vakuum #mypmagazine
Mehr von und über FLOSS:
Interview & Text: Katharina Weiß
Fotografie: Nick Strutsi
Die Orsons
Interview — Die Orsons
Mit Schnaps, Stinkefinger und Schopenhauer
Mit »Tourlife4Life« präsentieren Die Orsons ein Album, das nicht weniger ist als eine Hommage an das gemeinsame Touren als Band, auch wenn das zurzeit etwas schwierig ist. Im Interview verraten die vier Rapper, welche Schnaps-Rituale sie hinter der Bühne zelebrieren, was das Tolle an Eisenbahnvideos ist und warum es nicht nur den Stinkefinger braucht, um sich gegen Rechts zu positionieren, sondern auch gute Argumente – wie etwa die des Philosophen Arthur Schopenhauer.
21. Juli 2020 — MYP N° 29 »Vakuum« — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke
Mit der Definition von Glück ist es so eine Sache. Mathematisch kann man es versuchen, biochemisch sicher auch. Und philosophisch sowieso. Doch am Ende ist und bleibt es eine ganz persönliche Betrachtung, was man unter Glück versteht. Macht bei knapp 7,8 Milliarden Menschen, die sich auf der Erde tummeln, genauso viele Definitionsversuche.
Doch keine Panik, ein kleines bisschen lässt sich diese Anzahl reduzieren. Denn zumindest bei vier Personen, alle Musiker von Beruf, lässt sich Glück als etwas beschreiben, das entsteht, wenn man zusammen in einem Doppeldeckerbus von Stadt zu Stadt fährt, Konzerte spielt und ab und zu mal einen Kurzen trinkt. Die Rede ist von den Orsons, jener illustren deutschen Hip-Hop-Gruppe, die aus den Rappern Tua, Kaas, Maeckes und Bartek besteht.
Ihr neues Album „Tourlife4Life“ – der Name lässt es schon erahnen – haben Die Orsons dem Leben auf Tour gewidmet, für das die vier Jungs gerne den Begriff Paradies bemühen. Doch damit nicht genug: Entstanden ist die neue Platte ebenfalls on the road, genauer gesagt während der Festival-Tour der Band im Sommer 2019 und wenig später, im Oktober, auf ihrer großen Tour zum Album „Orsons Island“, das im August des letzten Jahres erschien.
Am 17. Juli 2020 nun, keine zwölf Monate später, ist „Tourlife4Life“ gestartet. Und ja, auch dieses Album macht wieder sehr viel Spaß. Wie auf „Orsons Island“ gibt es etliche Hooklines und Melodien, die sich schnell ins Ohr bohren, wie etwa in den Songs „Leb schnell“ oder „Lovelocks“. Insgesamt bewegen sich die 14 Tracks des neuen Albums zwischen energetisch und relaxt, zwischen sorglos und nachdenklich, zwischen cool und noch cooler. Wir prognostizieren mal, dass nicht nur die treuen Orsons-Fans frohlocken werden.
Doch da ist noch was. Auf „Tourlife4Life“ feiern die vier Rapper nicht nur sich selbst und ihre Trips von Stadt zu Stadt im Doppeldecker. Sie skizzieren auch ihren ganz persönlichen Blick auf Deutschland, Europa und die Welt – und das ziemlich unverblümt. Dass sie beispielsweise im Song „Energie“ allen Nazis den Mittelfinger entgegenstrecken, war zu erwarten. Doch dass sie wie im Stück „Oioioiropa“ nicht nur ihr eigenes Privileg als gefeierte Band hinterfragen, sondern auch eine schonungslose Momentaufnahme der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation beschreiben, macht einen irgendwie ein bisschen stolz auf diese Orsons.
So lassen sie es sich auch nicht nehmen, in jenem Song den berühmten Philosophen Arthur Schopenhauer zu zitieren, der sich schon im 19. Jahrhundert wie folgt zum Phänomen des Nationalismus geäußert hatte:
„Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz, denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er angehört, stolz zu sein. Übrigens überwiegt die Individualität bei weitem die Nationalität, und in einem gegebenen Menschen verdient jene tausend Mal mehr Berücksichtigung als diese. Dem Nationalcharakter wird, da er von der Menge redet, nie viel Gutes ehrlicherweise nachzurühmen sein. Jede Nation spottet über die andere und alle haben recht.“
Wenige Wochen vor der Veröffentlichung ihres neuen Albums treffen wir Tua, Kaas, Maeckes und Bartek im Berliner Volkspark Friedrichshain.
»Wir drücken unseren Dank dafür aus, dass wir uns gegenseitig lieben, achten, ehren und auf Händen tragen.«
Jonas:
Euer neues Album startet mit einem Intro, in dem Ihr beschreibt, wie Ihr vor einem Auftritt einen großen Kreis bildet und allen Leuten dankt, die Euch auf Tour begleiten. Zelebriert Ihr dieses Ritual grundsätzlich vor jeder Show?
Bartek:
Ja, das könnte man so sagen. Auf diese Weise drücken wir unseren Dank aus – dafür, dass wir das alles überhaupt machen dürfen. Und dass wir uns gegenseitig lieben, achten, ehren und auf Händen tragen. (grinst)
Maeckes:
Andere Stimmen behaupten, dieser große Kreis sei nur dafür da, dass wir zusammen noch einen Schnaps trinken können, bevor die Show losgeht…
Tua:
… und einer von uns hält meistens eine richtig dämliche Rede.
Bartek:
Aber auch darin ist ja der Hinweis versteckt, dass wir um unser Privileg wissen und für alles eine große Dankbarkeit zeigen.
»Tua kann technisch aus allem etwas zaubern – sogar, wenn jemand mal in eine Socke aufnimmt.«
Jonas:
„Tourlife4Life“ erzählt nicht nur vom gemeinsamen Unterwegssein als Band, das Album ist auch weitestgehend auf Eurer letzten großen Tour entstanden. Dabei gibt es Menschen wie den berühmten Produzenten Rick Rubin, die behaupten, man könne kein gutes Album machen, wenn man auf Tour ist…
Bartek:
Bezogen auf uns hat das erstaunlicherweise sehr gut geklappt.
Jonas:
Wie hat das in Eurem Tour-Alltag rein praktisch funktioniert?
Bartek:
Wir hatten ja schon immer einiges an Produktionsequipment dabei, wenn wir auf Tour waren. Aber dieses Equipment hatten wir nie permanent genutzt. Klar, an einem Offday hatte man mal einen Beat gebaut oder so, aber das war’s auch. Bei unserer letzten Tour dagegen hatten alle so Bock, Musik zu machen, dass sich jeder eine eigene Workstation aufgebaut und Musik geschrieben hat. Außerdem hatten wir unsere Geheimwaffe Tua dabei, der technisch aus allem irgendwie was zaubern kann – sogar, wenn jemand mal in eine Socke aufnimmt. Am Ende waren wir selbst überrascht, wie gut das alles funktioniert hat.
»Es gibt nichts Besseres, als sich auf YouTube Eisenbahnromantik-Videos anzuschauen.«
Jonas:
Ist es richtig, dass Ihr euch im Tourbus über der Fahrerkabine ein kleines Studio eingerichtet hattet?
Tua:
Ja, das hatten wir tatsächlich. Diese Doppeldeckerbusse haben verschiedene Aufenthaltsbereiche, zum Beispiel gibt es oben sowohl vorne als auch hinten eine Lounge. Die vordere ist mit zwei Sofaecken ausgestattet, auf denen man sehr, sehr schön chillen kann – vor allem, wenn man nachts die Straße an sich vorbeifliegen sieht. Es gibt eigentlich keinen geileren Ort, um sich gedanklich treiben zu lassen und Musik zu machen. Vor allem Kaas hat dort sehr viel Zeit verbracht und geschrieben.
Jonas:
So, wie Du das beschreibst, erinnert das ein wenig an diese Eisenbahnromantik-Videos, die nachts im TV laufen.
Bartek:
Ich liebe diese Clips! Beste Strecke: Frankfurt – Köln. Es gibt wirklich nichts Besseres, als sich auf YouTube solche Videos anzuschauen, um besser einschlafen zu können.
»Wenn ein Typ mit der falschen Energie zur Tür reinkommt, kann das alles zerstören.«
Jonas:
Im Pressetext zu Eurem neuen Album sagt Ihr, dass Ihr „selten zuvor so instinktiv zusammen Musik gemacht“ habt. Was meint Ihr damit?
Bartek:
Die gesamte Produktion ist so harmonisch und reibungslos vonstattengegangen, wie es vorher nie der Fall gewesen war. Ich glaube, das liegt daran, dass wir uns spätestens mit unserem Vorgängeralbum „Orsons Island“ ein anderes Bewusstsein freigespielt haben, bei dem es in erster Linie darum geht, das Beste für den jeweiligen Song herauszuholen. Dadurch gibt es automatisch weniger Reibereien untereinander – während gleichzeitig natürlich jeder genau das ausspielen darf, worin er gut ist.
Tua:
Ich habe das Gefühl, dass wir ganz allgemein auch in dem Prozess besser geworden sind, wie Musik bei uns entsteht. Damit meine ich zum einen den kreativen Prozess, bei dem es darum geht, für einen Song eine Idee zu entwickeln und diese auch zu Ende zu bringen. Zum anderen denke ich da an das Operative, also die konkrete Zusammenarbeit untereinander, etwa wenn es um das gemeinsame Schreiben geht. Auf „Orsons Island“ haben wir das unterwegs Musikmachen für uns entdeckt – als Gegenentwurf zum im Studio sitzen und auf Knopfdruck Ideen ausspucken müssen. Wir haben uns dafür entschieden, Musik zu machen, wann und wo wir darauf Bock haben.
Bartek:
Wie oft wir uns früher auch Songs kaputtgemacht haben!
Maeckes:
Stimmt. Einfach nur durch falsches Timing und ohne jede Absicht, die Ideen eines anderen zu zerschießen… Beim Musikmachen gibt es manchmal Phasen, die so inspiriert sind, dass alles aus einem herausquillt. Dann wiederum erlebt man Phasen, die eher etwas ruhiger und nachdenklicher sind. In diesen Momenten braucht man immer den richtigen Vibe, um weiterzukommen – das ist wie klassisches Rätsellösen. Wenn da ein Typ mit der falschen Energie zur Tür reinkommt, kann das alles zerstören. Zumindest wir haben uns dadurch schon viele, viele Lieder kaputtgemacht. (lacht)
Tua:
Früher haben wir oft unwissentlich darauf gewartet, dass sich alle vier Bandmitglieder gleichzeitig in demselben Vibe befinden. Das kam zwar ab und zu mal vor, aber meistens war es doch so, dass mindestens einer eine andere Stimmung hatte. Das machen wir heutzutage sehr viel besser.
»Wir waren von Anfang an ziemlich dicke – aber auch ziemlich beste Feinde.«
Jonas:
Dieser Vibe, von dem Du sprichst, ist etwas, das man direkt spürt, wenn man Euch zum ersten Mal begegnet – eine eingeschworene Gemeinschaft, die man als Außenstehender erst mal nicht decodieren kann. War dieser spezielle Orsons-Vibe von Stunde Null an existent? Oder ist er über die Jahre erst gewachsen?
Maeckes:
Ganz ehrlich, wir alle waren von Anfang an ziemlich dicke miteinander – allerdings auf eine andere Art und Weise als heute. Ich würde sagen, dass wir uns mittlerweile sehr viel besser checken, einfach weil wir schon seit so vielen Jahren Zeit miteinander verbringen.
Tua:
Stimmt, wir waren von Anfang an ziemlich dicke – aber auch ziemlich beste Feinde…
Bartek:
… eben ein sehr lebendiges Ding. Oder eher vibrant, um es auf Englisch zu sagen. Stets vibrant.
»Am Anfang einer Tour ist man noch etwas nervöser und will dementsprechend nüchterner sein – wie bei einem ersten Date.«
Jonas:
Euer neues Album wird sehr stark gefüttert von den Geschichten, die Ihr zusammen auf Tour erlebt habt. An welche ganz besonderen Momente erinnert Ihr euch?
Maeckes:
Genauso, wie es bei uns das Ritual gibt, vor einem Auftritt einen großen Kreis zu bilden, so pflegen wir auch direkt nach einer Show immer die Tradition, hinter der Bühne einen Schnaps zu trinken. Am Anfang einer Tour ist man noch etwas nervöser und will dementsprechend nüchterner sein – wie bei einem ersten Date. Aber von Gig zu Gig wird man entspannter. Konkret läuft das so ab, dass man sich nach dem Bühnenabgang irgendwen schnappt, der da gerade rumsteht, und mit dieser Person einen Kurzen trinkt. Dummerweise war unser Tourmanager immer der, der direkt hinter der Bühne wartete – das war sein Pech. Wie wir den kaputtgetrunken haben bei den Gigs, weil er mit jedem von uns mit Schnaps anstoßen musste! Wir haben zwei Kurze getrunken und er zehn – dabei hatten wir schon Feierabend und er musste noch funktionieren. Das ist die erste Erinnerung, die mir in den Kopf schießt, wenn ich an die Tour zurückdenke.
Tua:
Ich persönlich habe mittlerweile gar nicht mehr den Eindruck, dass sich dieses Album um eine ganz spezielle Tour dreht. Es erzählt eher ein generelles Tour-Gefühl, wie es sich in den letzten zehn Jahren unserer Bandgeschichte entwickelt hat. Für mich ist dabei übrigens nicht nur die psychische Komponente interessant, die das viele Touren mit sich bringt. Es geht mir auch um die Metapher des Ganzen: tourlife for life – im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist immer wieder spannend zu beobachten, wo sich dabei eine Schnittmenge zum normalen Leben auftut – und wo sie damit radikal bricht.
»In diesem klassenfahrtmäßigen Tour-Gefühl erleben wir auch immer wieder Momente, in denen wir darüber sprechen, was gerade in der Welt passiert.«
Jonas:
Ihr wart zuletzt im Oktober 2019 gemeinsam unterwegs. Das ist gerade einmal neun Monate her, doch gerade in diesen neun Monaten haben wir in Deutschland, Europa und der Welt viele einschneidende Ereignisse und Entwicklungen erlebt. Hat dies in irgendeiner Weise Euren Blick auf die zurückliegende Tour verändert – und in der Konsequenz auf das Album, das dabei entstanden ist?
Tua:
Absolut. Im letzten Jahr haben sich das Musikmachen und das gemeinsam unterwegs sein noch nicht ansatzweise nach etwas Extravagantem angefühlt. Das stellt sich jetzt natürlich völlig anders da – einfach deshalb, weil es nicht mehr möglich ist. Als wir das Album im Frühjahr 2020 fertiggestellt haben, waren wir in der Hochphase des Lockdowns. Nichts ging mehr. Wirklich nichts. Durch diese Ereignisse hat „Tourlife4Life“ nochmal eine ganz andere Bedeutung bekommen. Und das nicht nur wegen Corona, sondern auch wegen des ganzen Rechtsrucks und der sich weiter verschärfenden Flüchtlingskrise.
Wenn man es genau nimmt, haben wir nicht erst auf der Oktober-Tour damit angefangen, an unserem neuen Album zu schreiben, sondern bereits auf der Festival-Tour im Sommer. In dieser Zeit waren die Nachrichten voll von Meldungen, wie quasi jeden Tag Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. Aus dieser Situation heraus ist der Song „Oioioiropa“ entstanden. Darin beschreiben wir, wie wir in diesem klassenfahrtmäßigen Gefühl, das wir auf Tour generell haben, auch immer wieder Momente erleben, in denen wir darüber sprechen, was gerade in der Welt passiert – sprich außerhalb der Blase, in der wir tagtäglich unterwegs sind. Dadurch wissen wir auf jeden Fall unsere Privilegien nochmal mehr zu schätzen.
»Wir mussten uns kurzerhand überlegen, wie wir aus der Not eine Tugend machen können.«
Jonas:
Ohne den Corona-Lockdown wäre „Tourlife4Life“ wahrscheinlich etwas früher erschienen. Kann so eine Zwangsverzögerung auch Vorteile mit sich bringen, die man vorher nicht vermutet hätte?
Tua:
Ne, bei uns wird’s nur schlechter. (alle lachen) Aber im Ernst: Corona hat vieles erschwert und wir mussten uns kurzerhand überlegen, wie wir aus der Not eine Tugend machen können. Das betrifft in erster Linie Dinge wie Promotion, Videodrehs oder Fotoshootings – das war ja plötzlich alles nicht mehr möglich. Zu der Zeit, als wir all das gebraucht hätten, war absoluter Stillstand. Dabei hatten wir schon diverse Videoideen und entsprechende Drehs geplant. Aber diese Vorhaben sind von heute auf morgen geplatzt. Aus diesem Grund haben wir unter anderem beschlossen, für das Artwork unseres neuen Albums diese Aufblasästhetik, wie wir sie schon bei „Orsons Island“ verwendet hatten, einfach weiterzuführen.
Maeckes (grinst):
Dadurch hatte ich auf jeden Fall viiiel mehr Arbeit…
Tua:
Jaja. Maeckes ist bei uns normalerweise der, der sich federführend um die visuelle Komponente kümmert. Diesmal hat er wegen Corona nichts machen können – und dementsprechend auch nichts machen müssen.
Bartek:
Trotzdem sind wir immer noch sehr schnell mit unserem Release. Ob Corona oder kein Corona, wir haben noch nie in so kurzer Zeit nach einer vorherigen Albumveröffentlichung wieder eine neue Platte an den Start gebracht. Zwischen „Orsons Island“ und „Tourlife4Life“ liegen noch nicht einmal zwölf Monate.
Jonas:
Apropos Artwork: Das Design Eures neuen Albums wirkt mit seinen knalligen Farben wie eine Kaugummiwerbung und erinnert ein wenig an die Fotografie von David LaChapelle. Haben Euch seine Arbeiten in irgendeiner Form inspiriert?
Maekes:
Wir sind jetzt nicht die größten LaChapelle-Fans. Ich glaube, diesen Bezug stellen eher Leute von außen her.
Tua:
An der Stelle übrigens liebe Grüße an unseren Grafiker Daniel Wenhardt von Chimperator, der diese Kampagne für uns realisiert hat.
Bartek:
Ja, liebe Grüße an Dani. Ein schöner Mann, ein schöner Mann!
»Die Zeile solidarisiert sich mit einer Gruppe von Menschen, die ständig unterwegs ist und überall aufs Neue einen Platz findet – und gleichzeitig auch nicht.«
Jonas:
Zu den ersten Singles, die Ihr aus Eurem neuen Album veröffentlicht habt, gehört der Song „Leb schnell“. Darin singt Tua: „Meine Crew ist jenisch / Irgendwann ist jede Stadt ähnlich“. Bezieht Ihr euch damit inhaltlich auf das Nomadentum, das man mit der Volksgruppe der Jenischen verbindet? Oder geht es in der Zeile auch ein wenig um den Umstand, dass es sich bei Jenischen um Menschen handelt, die von der Mehrheitsbevölkerung schon immer mehr oder weniger ausgeschlossen wurden?
Tua:
Ich habe die Sorge, dass ich mich mit dieser Textzeile ein wenig aus dem Fenster gelehnt habe. Dabei fand ich einfach die Idee des Fahrenden Volks gut – und der Begriff jenisch erschien mir da am sympathischsten. Vielleicht hätte Fahrendes Volk doch besser gepasst, weil das Wort jenisch fast schon eine Etno-Komponente besitzt. Auf jeden Fall ist es null despektierlich gemeint, sondern vielmehr bewundernd und solidarisierend mit einer Gruppe von Menschen, die ständig unterwegs ist und überall aufs Neue einen Platz, ihren Platz, findet – und gleichzeitig auch nicht. Also: ein freundliches Rüberwinken an alle Jenischen! Ich fühle Euch!
»Ich habe eine große Faszination für sogenannte Randgruppen.«
Jonas:
Ich wollte Dich auch gar nicht in die Defensive drängen, ganz im Gegenteil: Ich kann mir vorstellen, dass spätestens nach der Veröffentlichung Eures Albums am 17. Juli viele Leute erstmal googeln werden, was es mit dem Begriff auf sich hat. Und vielleicht setzen sie sich dadurch auch etwas ausführlicher mit einer Gruppe von Menschen auseinander, die mehr oder weniger aus dem gesellschaftlichen Blickfeld geraten ist.
Maeckes:
Absolut! Ich muss gestehen, dass ich selbst bis zu diesem Interview nicht wusste, was der Begriff bedeutet. Ich dachte immer, das sei eine Zeiteinheit.
Bartek:
Oder Leute, die aus Jena kommen.
Tua:
Jenische sind eine nationalitätenunabhängige, „fahrende“ Bevölkerungsgruppe, die man hauptsächlich in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz findet. Korrekterweise würde man sie als transnationale europäische Minderheit bezeichnen. Irgendwann bin ich mal über die Geschichte dieser Menschen gestolpert und fand das alles sehr spannend. Ich habe eh eine große Faszination für sogenannte Randgruppen und hatte diese Gedanken lange im Kopf. Der Titel unseres Albums – „Tourlife4Life“ – klingt für mich ein bisschen wie der Slogan für einen solchen Lebenswandel. Deswegen kam ich auf die Zeile.
»Entweder man kommt mit unseren Kindsköpfen klar oder eben nicht. Aber grundsätzlich machen wir an andere erst mal eine Einladung.«
Jonas:
Ihr habt im Laufe der Jahre eine recht spezifische Art und Weise entwickelt, wie Ihr miteinander umgeht. Das merkt man alleine an Eurer Sprache, die für Außenstehende wie ein Code wirkt. Wie schwer ist es, als Neuling in dieser eingeschworenen Gemeinschaft aufgenommen zu werden? Wie offen seid Ihr gegenüber anderen?
Bartek (lacht):
Fast unmöglich! Wir sind erst mal ganz schlimm. Nein, im Ernst: Wir sind eigentlich supernett.
Tua:
Davon abgesehen haben wir in der gesamten Crew die unterschiedlichsten Menschen und Charaktere, da ist von A bis Z alles dabei. Ein wichtiger Punkt ist allerdings immer der Humor – und eine gewisse Offenheit. Ich finde, man merkt als Außenstehender relativ schnell, ob man mit uns auf einer Wellenlänge ist oder nicht. Davon abgesehen gibt es echt schlimmere Gruppen, mit denen man unterwegs sein kann. Und mit Leuten, die nicht gerade Teil des innersten Kreises sind, gehen wir auch nicht so ellenbogig um wie untereinander. Da sind wir eher respektvoll.
Bartek (grinst):
Zu allen anderen sind wir höflich. Nur nicht zu uns.
Maeckes:
Es passiert tatsächlich relativ schnell, dass wir alle Türen aufmachen und sagen: Lasst uns eine gute Zeit zusammen haben – und dabei so normal und unaffektiert sein, wie es nur irgendwie geht.
Tua:
Entweder man vibet mit und kommt mit unseren Kindsköpfen klar oder eben nicht. Aber grundsätzlich machen wir an andere erst mal eine Einladung.
Maeckes (lacht):
Und dann schlagen wir die Tür zu und fahren weiter in die nächste Stadt!
»Wir sehen die Welt als Ganzes und merken, dass außerhalb unserer hedonistischen Bubble die Hölle los ist.«
Jonas:
Ebenfalls im Song „Leb schnell“ singt Kaas folgende Zeilen: „Womit hab‘ ich das verdient? / Leben wie im Paradies“. Ist für Euch das gemeinsame Touren tatsächlich die höchste Form von Glück?
Kaas:
Ja, auch. Es ist ein riesiger Segen, auf diese Art und Weise leben zu dürfen. Und mit Musik so viel Erfolg haben zu dürfen. Das ist alles andere als selbstverständlich. Daher ist der Begriff Paradies in erster Linie als Wertschätzung gemeint.
Tua:
Uns war es auf dem neuen Album wichtig, die Zeilen „Leb schnell, stirb jung / Womit hab‘ ich das verdient / Leben wie im Paradies“ nicht so unreflektiert stehenzulassen. Wir sehen die Welt schon als Ganzes und merken, dass außerhalb unserer hedonistischen Bubble die Hölle los ist. Daher reicht es uns als Band auch nicht mehr, einfach nur abzufeiern, wie gut es uns geht. Wir wissen das alles echt zu schätzen und fragen uns immer wieder, ob wir dieses Leben überhaupt verdient haben. Aus diesem Grund machen wir uns auch so viele Gedanken darum, wie wir etwas zurückgeben können. Oder sehe ich das falsch? (dreht sich zu den anderen)
Maeckes:
Wir tun das seit über zehn Jahren – seit es Die Orsons gibt.
»Schopenhauers Text bricht auf ganz nüchterne Art und Weise herunter, warum Nationalismus Quatsch ist.«
Jonas:
Diese Ambivalenz thematisiert Ihr auch im Song „Oioioiropa“. Dabei ist der Track auch auf eine ganz andere Weise interessant, weil er demonstriert, wie Ihr auf der Platte auf verschiedenen Wegen Position gegen rechts bezieht. Während Ihr beispielsweise im Song „Energie“ allen Nazis wortwörtlich den Mittelfinger entgegenstreckt, bemüht Ihr in „Oioioiropa“ Zitate des Philosophen Arthur Schopenhauer zum Thema Nationalismus – womit Ihr den Mittelfinger intellektuell unterfüttert. Wie seid Ihr auf diese Schopenhauer-Stelle gestoßen?
Tua:
Ich mag Schopenhauer. Und da gibt es im Internet wunderschöne Lesungen. Eines Tages bin ich auf jene Stelle gestoßen, die wir in den Song eingebaut haben. Der Text stammt aus dem Buch „Aphorismen zur Lebensweisheit“ und bricht auf ganz nüchterne Art und Weise herunter, warum Nationalismus Quatsch ist. Ich mochte einfach, wie das sprachlich klingt. Und wir fanden es wesentlich klüger ausgedrückt, als wir selbst das hätten tun können.
»Der Stinkefinger ist zwar wichtig, aber gegen Rechts braucht es eher Argumente – und vor allem die richtigen Taten.«
Jonas:
Ist „Mittelfinger und Schopenhauer“ die einzig wirksame Strategie, um gegen Rechts erfolgreich anzukommen?
Tua:
Was die Kombination aus dem Stinkefinger und den klugen Argumenten angeht, braucht es meines Erachtens eher die Argumente – und vor allem die richtigen Taten. Der Stinkefinger ist zwar ebenfalls wichtig, aber er allein löst das Problem des rechten Gedankenguts nicht. Was dieses Problem letztendlich lösen kann, dafür bin ich selbst nicht weise genug. Aber ich finde es zum Beispiel sehr schön, was Kaas in seinem Part auf simple Art und Weise zur Sprache bringt – im Sinne von: Hey, wir sind auch nicht die, die dieses traurige Phänomen erklären können. Aber zwischenmenschliche Nähe, Empathie, Toleranz und aufeinander zugehen sind für uns auf jeden Fall die richtigen Werkzeuge, auch wenn das jetzt floskelhaft klingt. So leben wir das privat, so leben wir das auf der Bühne, so werden wir das immer von uns geben.
Außerdem wünschen wir uns, dass diese Haltung in Europa wieder mehr zum Standard wird. Zumindest mehr, als es gerade jetzt zu sein scheint. Seit einiger Zeit hat man ja das Gefühl, dass die Angst regiert. Und dass viele Leute lieber die Türe zumachen wollen statt auf. Vielen Menschen erscheint die völlige Abschottung plötzlich wie eine Zuflucht, obwohl sie eigentlich wissen müssten, dass das so nicht funktionieren kann.
»Wir wollten aufzeigen, wie wir uns fühlen: links, tolerant und als Europäer.«
Jonas:
Vielleicht sollten sich diese Menschen mal Euren Song anhören.
Tua:
Wir haben wirklich lange darüber geredet, was man in dem Lied überhaupt sagen kann, sagen soll. Ich meine, wer sind wir, dass wir irgendjemandem sagen können, wie was zu funktionieren hat oder was eventuelle Lösungen sind? Wir selbst können ja auch nicht wirklich etwas erklären. Aus diesem Grund wollten wir lediglich unsere Verwirrung zum Ausdruck bringen und aufzeigen, wie wir uns fühlen: links, tolerant und als Europäer – in der Hoffnung, dass die Geisteshaltung, in der wir Europa als einen offenen Ort verstehen, wieder erstarkt und in die Köpfe zurückkehrt. Momentan gibt es einfach zu viele Stimmen und zu viel Geschrei. Und wenn man nicht aufpasst, droht sich die Geschichte in gewisser Weise zu wiederholen. So etwas wie jetzt gab es in den 1930er Jahren ja schon einmal.
»Am Ende geht es nur darum, die richtige Haltung zu haben.«
Jonas:
Findet Ihr selbst bei anderen Bands und Musikern einen ähnlichen Mehrwert, den Ihr als Die Orsons für Eure Fans schafft?
Tua:
Welchen Mehrwert meinst Du?
Jonas:
Den Mehrwert, dass mir ein Künstler auf der einen Seite mit seiner Musik tatsächlich etwas Sinnhaftes sagt und ich dabei gleichzeitig wahnsinnig viel Spaß und Energie erfahren kann.
Maeckes:
Ich finde, beides kann auch zusammen funktionieren, wenn die Lieder nicht per se politisch sind oder eine klare Agenda haben. In meiner Twitter-Timeline beispielsweise bekomme ich viele kluge Anstöße von Musikerkollegen, die sich öffentlich ganz klar aussprechen und positionieren. Diese Haltung muss jetzt nicht zwanghaft in einem Liedtext stattfinden. Mir reicht es auch schon, wenn jemand etwas Sinnhaftes retweetet, was mich persönlich in irgendeiner Form aufklärt. Am Ende geht es nur darum, die richtige Haltung zu haben. Und die kann man auch auf der Bühne zwischen zwei Tracks kundtun – und danach zehn Lieder lang tanzen.
#dieorsons #tourlife4life #maeckes #tua #bartek #kaas #mypmagazine
Mehr von und über die Orsons:
dieorsons.de
instagram.com/orsonsdie
facebook.com/dieorsons
twitter.com/dieorsons
Interview & Text: Jonas Meyer
Fotos: Steven Luedtke
Alexis Maçon-Dauxerre
Editorial — Alexis Maçon‐Dauxerre
Camargue
In Camargue, a vast and thinly populated natural region in the South of France, photographer Alexis Maçon-Dauxerre wanted to capture the influence of humans on nature. Thereby he got into a big gathering of horse breeders.
29. Juni 2020 — MYP N° 29 »Vacuum« — Photography & Text: Alexis Maçon-Dauxerre
I shot this series just before the confinement, end of February.
I’ve always been fascinated by wilderness, primeval forests, deserts, wastelands. I am interested in places where you can find very few people, that have been abandoned or have always been wild. And I knew that Camargue would be that kind of place.
Furthermore, I heard about an event which took place in the village of Aimargues. Each year, horse breeders gather up and pay tribute to the memory of Fanfonne Guillierme, the first female horse breeder. I went there to meet these people and to take pictures of the ceremonies.
The longer time goes on, the more I try to question myself on the relationship between humankind and its environment. In Camargue, I’ve been trying to highlight the influence of humans on nature. I also wanted to enhance the Camargue’s culture, which is unique and out of time.
Driving and walking alone on the trails of Camargue made me feel peaceful. Time passes slowly and each meeting, each discovery becomes an important moment.
#alexismacondauxerre #france #camargue #vacuum #mypmagazine
Photography & text: Alexis Maçon-Dauxerre
amd-photo.com
instagram.com/alexis.macon.dauxerre
instagram.com/alexismd.studio
Milk.
Interview — Milk.
A Lack of Fear
In early 2019, Milk., a four-piece pop band from Dublin, Ireland, arrived on the scene with their debut single, »Drama Queen.« A couple more catchy songs later and they now find themselves ready to release their first EP. An interview about the meaning of pop, the importance of having no fear, and the charm of a glass of milk full of drugs.
17. Juni 2020 — MYP N° 29 »Vacuum« — Interview & text: Jonas Meyer, Photography: Gerry Balfe Smyth
Imagine you had fallen in love with someone and you had to describe that person to someone else—but not based on their own individual attributes, but only in comparison with others: hair like friend X, smile like friend Y, humor like friend Z. The more you compare, the closer you get to the result. But in the end, it remains an approximation that cannot really describe the human as they truly are.
This is a problem that young bands face, at least since music journalism began. As soon as new talents enter the stage, the Great Book of Comparisons is opened, and equivalencies are trotted out. Milk., a self-described “four-piece pop band based in Dublin,” also went through that very experience. As soon as they released their debut single “Drama Queen” in early 2019, the first references to major bands placed upon them (at this point we do not mention them by name).
But these comparisons are not necessary at all. The music that Mark McKenna, Conor “Gormy” Gorman, Conor King, and Morgan Wilson have created stands on its own—because it thrives on duality. Their songs sound dreamy but determined, with melodies both light-hearted and sticky, and a language both sloppy and honest. “Opposites attract”—there seems to be something in this saying.
Anyone who hasn’t stumbled across Milk. on one of the numerous music reviews or official Spotify playlists may have found the band by following Gerry Balfe Smyth on Instagram, a Dublin-based photo artist with a talent for portraying people, among them the four members of Milk. Or one may have watched Wayne, a YouTube Originals series in which Mark McKenna—who is also an actor—plays the main character.
Mark has spent the last few months in Los Angeles, but not entirely voluntarily. He was only in the city for short filming, and would have flown back long ago, were it not for a sudden pandemic that put the whole world in lockdown. With no flights going back to Dublin, he was suddenly stuck in LA. But since the four guys are very easygoing, we managed to have a virtual interview across three time zones while Gerry has agreed to contribute some of his photos.
Irish helpfulness at its best. Meanwhile, Mark has made it back to Dublin, last we heard.
»We’ve had to figure out a lot of stuff on our own.«
Jonas:
In early 2019, you guys released your very first song, “Drama Queen,” followed by three other song releases and lots of live gigs. How do you look back on the last 15 months?
Mark:
It’s kind of strange. By the time we released “Drama Queen” we had been a band for a while, but we also had been waiting until we were actually ready to go. We didn’t just want to release that single and then sit around, waiting for the next move. We kind of planned ahead fairly noisily because we really wanted to catch the momentum—a momentum which is luckily still going on right now. From today’s perspective, having four singles in the air and our first EP coming out, it was such a gradual thing and, when the change did come along, it was kind of what we were planning to happen.
Conor K:
I would say there’s been a lot of learning curves in the last 15 months. It’s just the four of us plus Adam Redmond who produces all the songs. There’s no others, no manager, no agents. We’ve had to figure out a lot of stuff on our own which I think will help us in the future. That’s why I’m very glad we did that.
»Let’s be honest, some of these compliments are just numbers.«
Jonas:
What is it exactly that you’ve learned?
Conor K:
For example, when we released “Drama Queen,” Gormy physically uploaded it to CD Baby and then it was on Spotify. All of us were emailing to each other, asking “Do you have to log in for this?” or “How do we do this?” It was really DIY-kind of stuff…
Morgan:
… and a lot of it got easier with each single we put out. I feel we became more and more familiar with the process each time. Like Conor was saying, we all gain from doing it by ourselves.
Jonas:
And suddenly you have to deal with lots of compliments from all sides: excited audiences, benevolent reviews, features on Spotify and other platforms. Is it hard to keep a clear head when you’re surrounded by all these voices elevating and celebrating you?
Conor K:
Let’s be honest, some of these compliments are just numbers, like views on YouTube or streams on Spotify. And these numbers are something that can easily distract you. You never know how they refer to people who are actually into action, who are actually into our music. I would rather have a thousand people who are really into a song than ten thousand people who stream it casually and don’t listen to it again.
»I have to confess that I made the story more dramatic for the song.«
Jonas:
Let’s stay with your first single for a moment. What’s the origin story behind “Drama Queen?” Did you have someone specific in mind when you were writing it? Or is it simply a musical answer to Lesley Gore or The Chiffons from the 1960s?
Mark (smiles):
No, it was basically an answer to my first relationship and referring to my ex-girlfriend’s birthday party. We broke up just before that party, the song is dealing with my experience of how weird it was trying to stay friends while apparently not really being friends at that time. But I have to confess that I made the story more dramatic for the song, there was no screaming or crying at all. It’s still one of the coolest parties I’ve ever been to, and we’ve become real friends later.
»One of the hardest things is to write a good pop song.«
Jonas:
You guys describe yourself as a “four-piece pop band based in Dublin.” What is your personal definition of pop music?
Mark:
For me, pop is a sort of music that anyone on the planet can sit down and hop on—unless you’re some sort of musical snob. It’s music that is the least esoteric it can be to the point that literally anybody can relate to it or just find it nice to listen to, even if they’re not paying attention to what occurs in the song and what it’s saying.
Conor K:
I agree. Years ago, we all went to music college. People there think sometimes that pop is a dirty word and you rather should spend four years being dedicated to learning bebop jazz. But in my opinion, one of the hardest things is to write a good pop song. Besides that, pop music is a cultural thing as well. Earlier today I was looking at the charts—the viral charts. And guess what? It’s all songs around TikTok which is now a totally new thing. It seems that we’re moving into that era of pop music now and that feels very exciting. Even if you don’t like the music, it’s taking on a new sort of medium. It’s extremely interesting to see how we consume songs on that platform, how we consume music—pop music—in general.
Mark:
When you look at the charts, you even stumble across a country song sometimes. I think, today, the genre of pop isn’t an actual genre of music anymore like it was in the 90s, for example. Now it’s more a term for anything that anybody can enjoy and listen to.
»Dublin’s like a small town that you can’t escape, but in a good way.«
Jonas:
Would you say that the fact that you’re located in Dublin, Ireland has a special impact on your sound and the way you make music?
Mark:
I think so. Dublin has a very strong culture among music anyway, and in addition to that, the city itself gives us a very specific feeling to grow up in, meeting all kinds of people very easily. It’s like a small town that you can’t escape but in a good way. I don’t think we have, but sometimes there are people from Ireland who maybe feel obligated to be artistic because of the history of our culture. There are probably a lot of bands in Dublin and around the city who definitely feel an impact on their music in that way.
Conor K:
Even from an outside perspective, if you want to make music in Ireland, you have to be based in Dublin. The city plays such an important role in terms of art, the Dublin scene is quite the Irish scene. I’m not saying I agree with that, but that’s just the way it is. It would be a very big waste of time when you’re actually based in rural Ireland and trying to do things that you can only do in Dublin.
Morgan:
In my opinion, another big factor is that the music scene in Dublin with all of its artists, promoters, or bookers involved is quite a small group of people. I think it really helps that it is so small and personal because it feels very attainable from very early on. And it’s a lot less haunting because you always have the right people around. Playing shows in the right places isn’t going to take very long. Being a young musician in Dublin, it seems that there’s a community developed just for you. That environment has been very helpful to us—and it may not have gone that way in another city.
»We also wonder how it would be as a band to just exist online in the future.«
Jonas:
How do you perceive this Dublin community in the current time, facing a worldwide pandemic crisis?
Conor K:
It’s a very welcoming community, right now it feels that everyone wants everyone else to do well. I spoke to other people who live in London, for example, they said that it’s a very different atmosphere there at the moment.
Mark:
Yeah, but that doesn’t change the fact that the music scene is struggling all around the world in these times. People are looking for other ways and strategies, essentially trying to find out what works online. We also wonder how it would be as a band to just exist online in the future. We don’t know how things are going to be after this crisis, we don’t have any idea if live music is going to be as popular as it was before. So, we definitely are preparing for being an internet band anyway (smiles).
»Having no fear was—straight from the beginning—a big part of Milk.«
Jonas:
You guys have created a very distinctive and individual musical fingerprint, something that you immediately recognize when you listen to it. Was it a conscious decision to form a sound like that? Or was it more a random product of hanging around and making music together?
Mark:
It all started with Gormy and me who made a lot of demos and kind of ran into Adam, our current producer. With him, we created more demos, recreated specific sounds, and so everything just came together when we did “Drama Queen.” We decided that we wanted to have certain guitar and ambient sounds that we kind of stick in the background, that was a style we liked. So, yes, there’s definitely a specific sound, but I do think that in the future we will be open to change and progress it.
Conor K:
Morgan and I came a bit later to the band. It was at a time when a lot of demos had already been bashed out and there were different ideas in place. But with us also being a part of the band now, I could tell that there was still a big willingness to just try things—with a lack of fear. I think a lot of people can fall into a trap in such a situation, but Mark and Gormy were very embracing and open to our ideas. Having no fear was—straight from the beginning—a big part of Milk., I would say.
»Nowadays, if your sound is poppy and you’re performing live, you’re gonna get admired too much.«
Jonas:
I found a couple of reviews that compare your music with The 1975. Are you annoyed by such comparisons? Or is it something you can embrace and appreciate?
Mark (laughs):
I think that’s typical art stuff. Nowadays, if your sound is poppy and you’re performing live, you’re gonna get admired too much…
Conor K (also laughing):
It’s an easy decision to come to an artist, saying “You sound like that.” And with The 1975, it’s an easy comparison because the band is very well-known. But to be honest, I never really had a deep dive into reviews of that kind. I think they just take a lot of inferences from different things—and we do the same.
Conor G:
But isn’t that the way music works in general? As a musician, you’re permanently influenced by so much other stuff that—in the end—gets you to progress your own sound. So do we, so did other bands before us, so will others do in the future.
»You can always turn it into something totally different and simultaneously stay true to yourself.«
Jonas:
Last year Missy titled an article about you with the headline “Meet your new music obsession, Milk.” Do you have a personal music obsession, each one of you?
Mark:
For me, probably it’s Bon Iver. I think he is very progressive and everything he does just sounds fabulous. He is never disappointing. And he is never afraid to put out something that wouldn’t be liked by the masses. It seems to me that he’s very experimental and just making songs, no matter if it hits a certain group or not. If you think about his first album and his much more recent release, it’s a massive change sonically. It’s important to take that on board with your own music, wherever you start. You can always turn it into something totally different and simultaneously stay true to yourself. And no matter if it’s good or bad, in the end you will maybe be the first person who created that.
Morgan:
It’s that kind of distinct sound that Bon Iver has, but also with the obvious kind of emphasis and risk-taking to push the envelope and try something new. He always has a sonic fingerprint embed in his songs, so you directly know that it’s him. But he also has a great freedom to make all kinds of different sounds—and I guess that’s a similar kind of aspiration to what we do. I mean, I would never compare myself to such a huge monolith, but he’s definitely someone we really enjoy listening to. Besides that, we all have really varied tastes and listen to very different music. I think that’s one of the main reasons why our own songs have become so varied and we have so many different avenues we can take. We make what we like listening to. So, the entire process is as fun as it can be. And I’m sure Bon Iver has a similar spirit.
»We’re inspired by artists who are not afraid.«
Jonas:
Conor and Gormy, what about you? Do you have a special musical obsession?
Conor K:
I consider myself a big fan of hip-hop, so it’s kind of funny to echo what Mark and Morgan are talking about. When you take the first records of Childish Gambino and probably Tyler, the Creator, for example, they also sound like they’re from different artists. I think Mark, Morgan, and I are totally on the same page because we’re inspired by artists who are not afraid. That might also be the reason why The Beatles are one of my all-time favorite bands—all of their songs are totally different.
Conor G:
I would say my obsession has shifted from listening to production. It’s all about making something, that’s why I would say I listen to songs or albums in a different way. It’s not only the lyrics and the melody, I’m pretty into what’s lying underneath and what matches the text and the tones to accentuate them. That’s what I connect with and where a lot of my ideas start.
»It’s totally fascinating how a glass of milk is turned into something that dangerous.«
Jonas:
Your band name is inspired by the book and movie Clockwork Orange, especially by its main character Alex who drinks milk with a lot of drugs in it. What exactly attracted you to that very special habit?
Mark:
It’s totally fascinating how a glass of milk—which is generally seen as a symbol of innocence that is so prevalent and common in the everyday life of a child—is turned into something that dangerous. What a dark twist! It’s amazing how much story and character you can put to a simple picture like that, everything that happens in the book and in the movie can be literally drawn back to that milk.
Jonas:
Have you already tried to “enrich” a glass of milk like that?
Mark (laughs):
Never! I don’t think I could do that.
Jonas:
In the event that someone would use your music for a film, what kind of film could it be?
Mark:
I think it could fit in any movie, but definitely in some kind of heartfelt teen coming-of-age film like Nick & Norah’s Infinite Playlist or whatever. It definitely wouldn’t be in Requiem for a Dream kind of stuff.
Conor K (laughs):
No, we would never do that!
»When it comes to acting and music, for me it’s more of what seems more promising in the moment.«
Jonas:
Let’s stick to the movies. Mark, you’re also an actor and, looking at your Instagram profile, kind of a photographer too. Would you say that there is more than one heart beating in your chest? Or are these artistic fields merged inside of you, complementing and supporting each other?
Mark:
Definitely the latter! But first of all, I don’t consider myself a photographer, that’s just a hobby and I feel I offend professional photographers calling myself one (smiles). I think when it comes to acting and music, for me it’s less than taking the one or the other, it’s more of what seems more promising in the moment. That’s what I’ll do, wherever that goes for me in the future. Any exposure from acting is going to help me with the band. And any exposure from the band might help me with my acting. I never really thought that I have to choose between those two worlds, I just go with it day by day and see what happens. And whatever comes along, comes along.
»Without such a big amount of help it may not have gone this well.«
Jonas:
Your band’s entire artwork and visual presentation are strongly connected to the photography of Gerry Balfe Smyth. Why did you choose him? What does his photographic style stand for and mean to you?
Mark:
Gerry does a lot of very red-brick Dublin kind of photography. He has a very unique style, nothing is posed or staged, he just goes out and finds interesting people.
Morgan:
And he has a very big heart. The shoot that he did with us was our first professional shoot ever, his experience and empathy helped us a lot, that can’t be overstated. We went in with very little information and he came to us with lots of ideas for locations and how the whole thing could go. I think without such a big amount of help it may not have gone this well.
»That EP is a labor of love.«
Jonas:
You will be releasing your new EP shortly. What does this event mean to you, especially in times like these?
Conor K:
Releasing that EP is great because it’s a labor of love. It’s a big achievement for us because we’re not a band that goes in every Sunday, jams out and looks what happens…
Mark:
… yeah, it indeed took a very long time to record this EP, that’s why I’m just happy that we’re actually getting to put it out now. I wish we could perform it also on stage right now, but as long as people actually get to hear it in any way, that’s all that we made it for.
Morgan:
And it’s been really cool as well that, for the most part of this process, we haven’t had any support from others like I was saying before. That’s what really helped us as a group. I mean, we were all very good friends in the first place, but being able to create something like this in such a strange time with people who care about each other so much, that’s something very hopeful that has been reflected in the work and that people actually can understand and relate to. It’s just the four of us playing songs together and I’m pretty happy that I’m a part of it. It would be cool if I could do that forever.
»It’s better to focus on what we can control than focusing on what we can’t.«
Jonas:
As I mentioned in my first question, it’s been 15 months since you guys released your first song. If you look another 15 months into the future, what do you see? How are you going to do? What will have happened?
Mark (smiles):
Hopefully we will be fine, have another EP or even an album out—and will be no longer locked in the house.
Conor K:
As much as we’d like to play at many different places and do other stuff, we also want to focus on our music at the minute. I don’t think we’ve done enough to warrant saying, “Oh well, in 15 months I’m not going to be happy unless x, y, z happens.” It’s still important for us to try things out—and I personally just love to continue doing that.
Mark:
Yeah, I think it’s better to focus on what we can control than focusing on what we can’t. Whatever happens, happens.
Conor K:
What an end! (All laugh)
#milkthemusic #vacuum #jonasmeyer #gerrybalfesmyth #mypmagazine
More from and about Milk.:
milkthemusic.com
instagram.com/milkthemusic
facebook.com/milkthemusic
Interview & text: Jonas Meyer
Photography: Gerry Balfe Smyth
Editing: Ben Overton
Harry G
Interview — Harry G
Melancholie mit Sarkasmus
Bayerische Alltagskultur statt Münchner Schickeria: Die Amazon-Serie »Der Beischläfer« versucht, mit jeder Menge Augenzwinkern die Mundartkomödie ins Streaming-Zeitalter zu übersetzen. Ein Interview mit Comedian Markus Stoll alias Harry G, der eine der Hauptrollen spielt.
13. Juni 2020 — MYP N° 29 »Vakuum« — Interview & Text: Katharina Weiß, Fotos: Christian Brecheis
In Bayern kennt ihn jeder, der Rest Deutschlands wird ihn spätestens jetzt kennenlernen: Comedian Markus Stoll alias Harry G gewährt in der Amazon-Prime-Serie „Der Beischläfer“ neue Einblicke in das Seelenleben der Süddeutschen. Als Sympathieträger Charlie Menzinger bringt er als unfreiwilliger Schöffe ordentlich Schwung in ein Gericht an der Isar – und in das Leben einer Berliner Richterin, der stellvertretend für alle Zugezogenen die bajuwarischen Gewohnheiten nähergebracht werden.
„Der Beischläfer“ ist ein Format, das im Stil klassischer Vorabendserien wie „Die Rosenheim Cops“ daherkommt. Das mag für einen Streamingdienst im ersten Moment ungewöhnlich erscheinen. Tatsächlich gelingt es der Serie damit aber, eine ungewöhnliche Brücke zu schlagen: zwischen jener Welt des linearen Fernsehens, das in Deutschland immer noch ein Millionenpublikum erreicht, und der des immer größer werdenden Kosmos digitaler Inhalte.
Wir treffen Markus Stoll, der selbst vor allem über die Sozialen Netzwerke bekannt wurde, an einem der ersten Tage nach dem Lockdown im Münchener „Baader Café“.
»Manchmal tut es ganz gut, wenn man die Chance hat, die Karten neu zu mischen.«
Katharina Weiß:
Durch die Corona-Krise wurden bei vielen Menschen die Karten ganz neu gemischt. Auch Du hast vor Deinem künstlerischen Erfolg eine berufliche Umbruchsphase erlebt: Deinen Job als BWLer hast du hingeschmissen, danach ein erfolgloses Start-Up gegründet. In einem Interview hast Du über diese Zeit gesagt, dass Du „relativ weit unten“ warst. Mit welchen Gefühlen erinnerst Du dich an diese Zeit, in der Du plötzlich kreativ umdenken musstest?
Markus Stoll:
Meine Entscheidung zur Veränderung war eine freie, die Situation war also eine andere als für viele Menschen in der Corona-Krise. Doch zum Punkt Veränderung kann ich sagen: Manchmal tut es ganz gut, wenn man die Chance hat, die Karten neu zu mischen. Ich hoffe, dass einige Menschen durch die Fokussierung auf das Wesentliche zu neuen Zielsetzungen gelangt sind. Wie sagt man so schön: Downsizing in allen Lebenslagen. Und danach, aufbauend auf den neuen Erkenntnissen, mit einer geraden Linie nach vorne durchstarten.
»In meinem vorherigen Job konnte ich mich an Powerpoint-Präsentationen festhalten.«
Katharina Weiß:
Wann hast Du gemerkt, dass Du ein rhetorisches Talent hast?
Markus Stoll:
Ich habe schon in meinem vorherigen Job im Investmentbereich sehr gerne Vorträge gehalten, auch wenn der Inhalt eher trocken war. Damals konnte ich mich aber an Powerpoint-Präsentationen festhalten. Auf der Bühne ist das etwas ganz anderes, da steht man erstens ohne Hilfsmittel – zumindest ich – und ist zweitens viel größeren Menschenmengen regelrecht ausgeliefert. Davor habe ich auch heute noch großen Respekt. Ich habe auch jedes Mal aufs Neue den Anspruch, perfekt abzuliefern. Was mir leichter fällt als früher, weil heute die Themen wesentlich interessanter und witziger sind. (lacht)
»Meine berufliche Planung war mit 30 quasi abgeschlossen.«
Katharina Weiß:
Die Öffentlichkeit wurde durch Deine raffinierten Social-Media-Clips auf Dich aufmerksam. Im Gegensatz zu vielen Digital-Stars, die noch nicht einmal volljährig sind, warst Du bei deinem Durchbruch schon Anfang 30.
Markus Stoll:
Du meinst, ich war in den besten Jahren, oder? Na ja, gerade auf Facebook, wo ich damals die größten Erfolge hatte, ist das ein durchaus akzeptables Alter. Im Gegensatz zu vielen jungen Influencern von heute hatte ich ja vorher schon ein anderes Berufsleben, habe studiert und ein Jahr in Argentinien verbracht. Im Anschluss habe ich als Investment Manager gearbeitet und ein eigenes ein Startup gegründet, das auch mit Social Media zu tun hatte. Ich habe dann meine damals noch private Leidenschaft – lustige Clips drehen – mit meinen beruflichen Kenntnissen verknüpft und schließlich ganz rübergemacht in die digitale Welt. Dabei habe ich aber auch ziemlich schnell die Bühne für mich entdeckt. Damit war meine berufliche Planung quasi mit 30 abgeschlossen – ich habe nicht vor, nochmal was Neues zu machen. Die Erkenntnis: Es ist nie zu spät, aus einem zufriedenstellenden (Berufs)leben ein wunderbares zu machen!
»Um den Charlie gut zu spielen, musste ich den Zuschauer viel näher an mich heranlassen.«
Katharina Weiß:
Gleich in der ersten Folge Deiner neuen Serie „Der Beischläfer“ wird ein ernstes Thema angeschnitten, nämlich Suizid. Wie kam es zu der Idee?
Markus Stoll:
Das müsste man eigentlich die Autoren Murmel Clausen und Mike Viebrock fragen, die das Drehbuch geschrieben haben. Ich hatte nur die Ehre, mich an dieser Stimmung als Schauspieler abzuarbeiten, was eine ganz schöne Herausforderung für mich war, da ich ein Schauspielneuling bin. Wenn ich den Isarpreußen granteln lasse, dann ist das immer humoristisch überzeichnet. Aber um den Charlie gut zu spielen, musste ich den Zuschauer viel näher an mich heranlassen. Ich war zwar schon bei größeren Produktionen dabei, etwa in den Eberhofer-Krimis in kleinen Nebenrollen, aber Hauptdarsteller ist dann schon ein paar Schippen draufgelegt. Da haben sich Ton, Licht und alle anderen Schauspieler um mich herumgedreht. Ich war sehr glücklich, Lisa, Daniel und Helmfried in meiner Nähe zu haben, die haben mich bei diesem ersten großen Schauspielprojekt großartig unterstützt.
»Wenns’t jetzt noamoal in die Einfahrt neifahrst, dann komm i nunter und dann hau I dir a Fotzn abe.«
Katharina Weiß:
In den Nebenrollen sind viele bekannte Fernsehgesichter zu sehen, zum Beispiel Laura Osswald aus „Verliebt in Berlin“ oder Michael Grimm aus der BR-Serie „Dahoam is Dahoahm“. Gab es eine Zusammenarbeit, die du besonders spannend fandest?
Markus Stoll:
Ja, die mit Heino Ferch, den ich als Schauspieler sehr bewundere. Hier eine kleine Anekdote: Wir drehten gerade die Szene, in der er bekifft mit Cowboyhut, langem Ledermantel und Stiefeln aus einem geklauten Alfa Romeo steigen sollte. Dazu brauchte es einige Anläufe, und so tauchte er immer wieder trunken aus dem Wagen auf und lallte: „Euer Wagen, euer Wagen, der ist wirklich…“ Schnitt. Nach dem gefühlt hundertsten Versuch schrie plötzlich ein Anwohner aus dem Fenster: „Du Trottel mit dem Cowboyhut, wenns’t jetzt noamoal in die Einfahrt neifahrst, dann komm i nunter und dann hau I dir a Fotzn abe.“ Die Übersetzung gibt es auf Nachfrage.
»Humor ist beliebt, vor allem in Zeiten, in denen es nicht so witzig zugeht.«
Katharina Weiß:
Zwischen Deiner Figur und der Berliner Richterin entsteht ein humorvolles Wechselspiel: Kantiger Ehrenbayern versus genervte Großstadtpreußin. Warum ist dieses Erfolgsrezept immer noch so aktuell?
Markus Stoll:
Der Bayer ist für seine grantige Art bekannt und beliebt. Und der Berliner – in diesem Fall die Berlinerin – für die freche Schnauze. Das hat Potenzial, fanden wir. Die Leute lieben es, aus ihrer Komfortzone heraus anzuschauen, wie sich die Menschen auf dem Bildschirm die Köpfe einschlagen. Nicht nur im wörtlichen Sinne, sondern auf alle möglichen Arten. Und wir tun das eben auf die humorvolle und witzige Art und Weise. Humor ist beliebt, vor allem in Zeiten, in denen es wie gerade nicht so witzig zugeht.
»Bei mir ist die Melancholie mit Sarkasmus gemischt.«
Katharina Weiß:
In Interviews wirst Du sehr oft auf den Kern des „bayerischen Grants“ angesprochen. Zum einen sagte zum Beispiel, dass er vererbt wird. Der bayerische Grant bezeichnet ein Stadium, in dem sich jemand aufregt, dabei aber nicht schimpft. Findest Du, dass dieser Kunst noch immer eine gewisse Melancholie innewohnt?
Markus Stoll:
Wenn man Dinge beobachtet, die man nicht mag, neigt man dazu, sich kurz aufzuregen und dann resigniert abzuwinken. Das Abwinken ist die melancholische Komponente, die dabei mitschwingt. Bei mir ist es ein wenig anders. Auf meinen Social-Media-Kanälen und auf der Bühne, wo ich relativ viele Menschen erreiche, regen wir uns eher gemeinschaftlich auf – und resignieren dann auch gemeinschaftlich. Bei mir ist die Melancholie mit Sarkasmus gemischt, der uns gemeinsam zum Lachen bringt. Es entsteht ein Wir-Gefühl. Der Münchner-Mietwahnsinn beispielsweise geht da durch einen Katalysator, der uns am Ende lachen lässt, obwohl der Quadratmeterpreis in München eigentlich zum Heulen ist.
»Jeder negative Kommentar beschäftigt mich irgendwie.«
Katharina Weiß:
Du schneidest oft gesellschaftliche und politische Themen an. Natürlich gerätst Du da auch manchmal in die Schusslinie, nicht alle Kommentare sind positiv. Wann hast Du aufgehört, Dich mit dem Negativen zu beschäftigen?
Markus Stoll:
Nie, jeder negative Kommentar beschäftigt mich irgendwie. Als ich vor kurzem ein Video veröffentlicht habe, in dem ich mich über die wilden Verschwörungstheorien zur Corona-Krise geäußert habe, kamen besonders viele kontroverse Kommentare unter meinem Post auf. Die meisten waren so skurril, dass ich einfach auf Durchzug schalten konnte. Aber es gab auch Kommentare, die unter die Haut gingen, weil sie unheimlich gemein und abwertend waren. Die trägt man schon eine Weile mit sich rum.
»Wir werden in diesem Land versorgt und umsorgt.«
Katharina Weiß:
Neben Verschwörungstheorien haben sich viele Menschen auch über das Thema Glück Gedanken gemacht. Was hast Du zum Beispiel über Dein privates Glück in den letzten Monaten der erzwungenen Ruhe gelernt?
Markus Stoll:
Was ich gelernt habe beziehungsweise was sich mir einmal mehr bestätigt hat, ist, dass es uns wahnsinnig gut geht. Wir werden in diesem Land versorgt und umsorgt. Für mich dieses Gefühl der Sicherheit eine unglaubliche Erkenntnis. Ich hoffe, dass wir aus dieser Rückbesinnung auf das Wesentliche etwas ins „normale“ Leben mitnehmen werden, das irgendwann ja wiederkommen wird.
#harryg #markusstoll #vakuum #katharinaweiss #christianbrecheis #mypmagazine
Mehr von und über Harry G:
harry-g.com
instagram.com/harry_g_offiziell
facebook.com/harrygueber
Interview & Text: Katharina Weiß
Fotografie: Christian Brecheis
Ronny Krieger
Interview — Ronny Krieger
Das nächste große Ding?
Die Onlineplattform Patreon will Kreativen aller Art ein faires Einkommen ermöglichen. Das klingt vor allem für Musikerinnen und Musiker verlockend, lassen sich doch auf YouTube, Spotify & Co. kaum noch nennenswerte Einnahmen erzielen. Europa-Chef Ronny Krieger erklärt uns im Interview, in welches Vakuum Patreon stößt, warum man auf der Plattform auch scheitern kann und wieso er nach wie vor an Gerechtigkeit im Musikbusiness glaubt.
20. Mai 2020 — MYP N° 29 »Vakuum« — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke
Als Jack Conte, Singer-Songwriter und Filmemacher aus San Francisco, Anfang 2009 auf seine YouTube-Statistiken schaute, traute er seinen Augen nicht. Über eine Million Views hatten seine Musikvideos im vergangenen Jahr erzielt – bei Werbeeinnahmen von gerade einmal 166 Dollar. „Was für ein System haben wir erschaffen, in dem solche Klickzahlen nicht ausreichen, damit eine einzelne Person davon leben kann?“, fragte er gut acht Jahre später auf der berühmten TED-Konferenz in Monterey, Kalifornien. Zur Veranschaulichung präsentierte er das Foto einer ausverkauften Basketballhalle. „Das sind 20.000 Leute“, sagte er und fügte fassungslos hinzu: „In welcher Welt ist das nicht genug?“
Szenenwechsel. Wir befinden uns auf dem hippen RAW-Gelände in Berlin-Friedrichshain. Dabei ist der Numerus nicht ganz richtig, „wir“ bezieht sich lediglich auf unseren Fotografen Steven Lüdtke. Dem Gebot der Stunde folgend, ist er alleine unterwegs und richtet sich nach den obligatorischen Abstandsregeln. Am „House of Music“ ist er mit Ronny Krieger verabredet, dem neuen General Manager für das Europa-Geschäft von Patreon – ein Unternehmen, das 2013 von eben jenem Jack Conte gegründet wurde. Und zwar als Konsequenz aus den beschriebenen Erlebnissen.
Die Idee ist simpel: Patreon bietet Kreativen aller Art eine Plattform, auf der sie sich von ihrer Fangemeinde monatlich sponsern lassen können. Dieses System, auch „Social Payment“ genannt, eröffnet ihnen die Möglichkeit, sich eine zusätzliche Einkommensquelle aufzubauen und damit ein Stück weit unabhängiger von Streaming- und Klick-Einnahmen zu werden – oder von den existenzsichernden Erlösen aus Live-Auftritten, die momentan auf der ganzen Welt bis auf Weiteres untersagt sind. Ein Vakuum also, das es zu füllen gilt.
Aktuell findet man auf Patreon über 150.000 aktive Künstlerprofile, die von mehr als vier Millionen Fans finanziert werden. Laut eigenen Angaben konnte die Plattform bis dato mehr als eine Milliarde Dollar weltweit auszahlen.
Nachdem das Unternehmen sein Angebot in den letzten sieben Jahren hauptsächlich an die US-amerikanische Kreativszene gerichtet hat, nimmt es nun den europäischen Markt in den Fokus – ausgehend von seinem neuen Berliner Büro im besagten „House of Music“ und unter der Verantwortung von Ronny Krieger. Der 46-jährige Vater zweier Kinder ist in der Branche bekannt wie ein bunter Hund, seine Vita liest sich wie ein kleines Stück Musikgeschichte.
Anfang der 1990er Jahre startete er als DJ und Produzent, betrieb zwischenzeitlich einen Plattenladen und arbeitete bis 1999 als Presse- und Radio-Promoter für EFA Medien, dem damals größten deutschen Independent-Vertrieb. Danach war er als freier Promoter für Tresor Records und BPitch Control tätig, managte ein Plattenlabel für elektronische Musik und landete 2004 beim Online-Musikdienst Beatport. Dort blieb er insgesamt sechs Jahre – erst als International Sales Director, dann als Vice President Content und schließlich als Chief Programming Officer.
Die Zeit danach war nicht weniger illuster. 2010 stieg Ronny ins Management der Modeselektor-Labels Monkeytown und 50 Weapons ein. Im selben Jahr nahm er zwei gelegentliche Gastdozenturen an: zum einen in den Fächern „Digitale Medien“ und „Social Media Marketing“ an der ebam Akademie in Berlin, zum anderen im Fach „International Music Business“ an der Popakademie Baden-Württemberg. Bevor er im April 2020 die Verantwortung für das Europa-Geschäft von Patreon übernahm, war er hauptsächlich als freier Berater tätig, unter anderem für die Unternehmen LANDR, FATdrop, Shutterstock und Native Instruments sowie für den US-amerikanischen Internetradio-Sender Digitally Imported.
Seine Expertise wird auch außerhalb des Musikbusiness geschätzt: Vor gut einem Jahr wurde er in den Fachausschuss Digitalisierung und künstliche Intelligenz des Deutschen Kulturrats berufen. Außerdem ist er seit vielen Jahren Mitglied des Vorstandes des VUT, des Verbandes unabhängiger Musikunternehmer*innen.
Gelernt hat Ronny übrigens ganz klassisch den Beruf des Bankkaufmanns. Aber darauf kommen wir später noch zu sprechen.
»Wenn Künstlern und Kreativen diverse Einnahmequellen wegbrechen, zieht eine Plattform wie unsere nochmal eine ganz andere Aufmerksamkeit auf sich.«
Jonas:
Du bist seit kurzem dafür verantwortlich, das Europa-Geschäft von Patreon aufzubauen. Ist die aktuelle Situation nicht die denkbar schlechteste Zeit, um so eine Aufgabe zu übernehmen?
Ronny:
Ganz im Gegenteil. Patreon gehört zu jenen Unternehmen, die von der Corona-Krise profitieren – so schlimm das auch klingt. Wenn Künstlern und Kreativen diverse Einnahmequellen wegbrechen, zieht eine Plattform wie unsere nochmal eine ganz andere Aufmerksamkeit auf sich als in normalen Zeiten, da wir diesen Menschen auf faire Art und Weise ein zusätzliches Einkommen ermöglichen. Unser Modell hat zwar schon vorher Sinn gemacht, durch die momentane Situation hat es aber zusätzlich an Bedeutung gewonnen. Das belegen auch die Zahlen: Alleine im März sind auf Patreon über 50.000 Kreative neu gestartet. Und so, wie wir das gerade beobachten können, hält dieser Trend auch weiter an.
»Es gibt viele Leute, die aus einer großen Panik und Existenzangst heraus kurzfristig ein Patreon-Profil kreiert haben – manchmal vielleicht etwas überstürzt.«
Jonas:
In welchen persönlichen Situationen befinden sich die Kreativen, die bei Euch Hilfe und Hoffnung suchen?
Ronny:
Da gibt es eine enorme Bandbreite. Wir sehen zum Beispiel Menschen, die schon vor Corona auf Patreon aktiv waren und gerade jetzt froh sind, ein gewisses Einkommen zu haben, mit dem sie sich über Wasser halten können. Dann gibt es viele Leute, die aus einer großen Panik und Existenzangst heraus kurzfristig ein Patreon-Profil kreiert haben – manchmal vielleicht etwas überstürzt. Wir von unserer Seite versuchen natürlich, diesen Kreativen eine möglichst umfangreiche Hilfestellung zu bieten und ihnen zu erklären, dass wir ihre Ängste und Sorgen verstehen. Gleichzeitig müssen wir aber auch immer wieder darauf hinweisen, dass so ein Launch auf Patreon strategisch durchdacht sein muss. Man kann nicht ohne Sinn und Verstand ein Profil anlegen und dann darauf hoffen, dass in spätestens einer Woche alle finanziellen Probleme gelöst sind. Trotzdem schiebt unser Team hier in Europa – genau wie das in den USA – seit Wochen Überstunden, um diesen Menschen auf unkomplizierte, vereinfachte und schnelle Art und Weise zu ihrem Launch zu verhelfen.
»Patreon ist kein Selbstläufer.«
Jonas:
Man stößt immer wieder auf Artikel, die davon berichten, dass auf Patreon auch scheitern kann. Was konkret muss man als Kreativer tun, um auf der Plattform erfolgreich zu sein?
Ronny:
Zuerst einmal muss man Patreon richtig verstehen. Gerade in der Medienlandschaft wird unser Unternehmen immer wieder als Crowdfunding-Plattform bezeichnet – aber das sind wir nicht. Patreon ist ein sogenanntes membership business und dadurch viel eher mit einem Fanclub zu vergleichen. Es ist eine Plattform, die Interaktion mit den eigenen Supportern voraussetzt. Wenn Kreative bei uns scheitern, hat das entweder damit zu tun, dass sie den Gedanken einer interaktiven Mitgliedschaft nicht verstehen und dementsprechend auch nicht aktiv betreiben. Oder sie haben ihre eigene Marke noch nicht aufgebaut. Dabei ist gerade das essenziell für einen Start bei uns. Patreon ist kein Selbstläufer. Wir stellen lediglich die Tools zur Verfügung, mit deren Hilfe man mit seinen Fans interagieren und sie zu Zahlungen bewegen kann. Aber diese Fans muss man vorher generieren – und man muss es schaffen, sie auf sein Patreon-Profil zu bringen.
Das Schöne ist, dass dies in ganz unterschiedlichen Größenordnungen funktioniert. Zum Beispiel gibt es bei uns eine Vielzahl von Hobby-Kreativen, denen es gar nicht darum geht, aus ihrer künstlerischen Tätigkeit einen Hauptberuf zu machen oder ein großes Business aufzubauen. Diesen Leuten reicht es schon, wenn sie durch die Patreon-Einnahmen nicht mehr ihre Arbeitsmaterialien aus eigener Tasche bezahlen müssen. So etwas funktioniert bereits mit einer relativ kleinen Zahl an Unterstützern. Auf der anderen Seite gibt es aber auch größere Unternehmen wie etwa Podcast-Produzenten, die mit dem Patreon-Einkommen mehrere Mitarbeiter beschäftigen können.
»Lange hat man geglaubt, dass bezahlte Streaming-Abos die Lösung für alles sind.«
Jonas:
Du selbst arbeitest seit fast 30 Jahren in der Kreativbranche und hast dort fundamentale Veränderungen erlebt: vom Ende der CD über den Niedergang von MTV bis zur Entstehung von YouTube, Instagram und Spotify. Für Künstler ist es heute so einfach wie nie, sich direkt mit ihren Fans auszutauschen – und umgekehrt. Was macht da eine zusätzliche Interaktionsplattform wie Patreon überhaupt notwendig?
Ronny:
Als Anfang der 2000er Jahre die digitale Revolution das Musikbusiness erreichte, gab es ein maßgebliches Problem: Alles, was in dieser Zeit an Innovationen entstand, wurde nicht aus der Musikbranche heraus entwickelt, sondern ihr von branchenfernen Technologieunternehmen aufgedrückt – ganz einfach weil sie selbst zu träge und zu passiv war. Diese Entwicklung hat unter anderem dazu geführt, dass heute andere, neue Player die Regeln machen. YouTube und Spotify sind dafür gute Beispiele…
Jonas:
… aber diese neuen Player haben auch vielen unbekannten Bands dabei geholfen, ihre Musik einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren.
Ronny:
Stimmt, aber wir erleben auf diesen Plattformen auch, dass dort seit Jahren das sogenannte value gap immer größer wurde, sprich das Verhältnis von Klick- und Streamingzahlen zu dem, was ein Künstler letztendlich an der Verbreitung seiner Werke verdient.
Lange hat man geglaubt, dass bezahlte Streaming-Abos die Lösung für alles sind. Die Idee war simpel: Wenn jeder Mensch auf der Welt pro Monat zehn Euro für einen Spotify-Account bezahlen würde, wäre ja genug Geld da, um den Kuchen gerecht unter allen aufzuteilen. Allerdings hat sich im Laufe der Jahre herausgestellt, dass dieses System als Finanzierungsmodell immer weniger funktioniert. Das liegt zum einen daran, dass in Ländern mit geringerer Kaufkraft die Abo-Kosten für Streamingdienste wesentlich niedriger sind, also beispielsweise bei drei oder vier Dollar im Monat liegen statt bei zehn. Zum anderen wurde über die Jahre das Angebot an unterschiedlichster Musik immer größer. Das heißt, dass sich denselben Kuchen immer mehr Labels und Künstler teilen müssen.
»Ironischerweise hat die Musikbranche von allen Kreativbereichen am längsten gebraucht, um auf uns aufmerksam zu werden.«
Jonas:
Und dieser Entwicklung kann eine Plattform wie Patreon entgegenwirken?
Ronny:
Ich würde es anders formulieren. Wir bieten Kreativen die Möglichkeit, sich von diesem Verteilungskampf ein Stück weit unabhängig zu machen. Mit Patreon kann man für sich als Künstler eine zusätzliche Einnahmequelle schaffen, die direkt von den eigenen Fans finanziert wird. Ironischerweise hat die Musikbranche von allen Kreativbereichen am längsten gebraucht, um auf uns aufmerksam zu werden. Andere Gruppen wie etwa Illustratoren, Vlogger oder Podcaster haben viel schneller das Potenzial unserer Plattform erkannt – und auch ihre Dringlichkeit.
Jonas:
Inwiefern Dringlichkeit?
Ronny:
Mich erinnert die aktuelle Situation sehr an meine Zeit bei Beatport. Als wir 2004 mit dem Portal starteten, endete gerade das goldene Zeitalter der physischen Tonträger. Der Zenit an Vinyl- und CD-Verkäufen war überschritten, die Zahlen bröckelten gewaltig. Gleichzeitig gab es auf digitaler Basis aber noch kein etabliertes Geschäftsmodell, sondern nur illegale, unmonetarisierte Plattformen. In genau diese Lücke ist Beatport damals gestoßen. Das Vakuum, in das wir seit 2013 mit Patreon vordringen, ist damit durchaus vergleichbar.
»Viele Künstlerverträge – zumindest die der Major-Labels – waren schon immer etwas fragwürdig.«
Jonas:
Patreon-Gründer Jack Conte hat vor knapp drei Jahren in einem TED-Talk davon gesprochen, dass in der Musikbranche etwa hundert Jahre lang eine milliardenschwere Infrastruktur aufgebaut worden sei, die Künstlern ermöglicht habe, ihre Musik einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Diese Infrastruktur sei mit der digitalen Revolution plötzlich obsolet geworden, weil Musiker nun direkt mit ihrem Publikum in Kontakt treten könnten. War denn an dieser Infrastruktur alles schlecht – mit all ihren Plattenlabels, Artwork-Designern und Vinyl-Fabriken?
Ronny:
Jack ist ein Musiker, der immer schon sehr innovativ und radikal gedacht hat, auch weil er nicht jahrelang in dieser klassischen Industrie vertreten war. Ich persönlich bin der Meinung, dass viele Karrieren und Erfolge nicht ohne die konventionelle Musikindustrie möglich gewesen wären. Und ich glaube auch nicht daran, dass diese Peripherie in Zukunft völlig überflüssig wird. Die wenigsten Künstler haben Lust darauf, sich selbst zu managen oder ihre Buchhaltung zu erledigen, sondern wollen sich einfach nur auf ihre Musik, ihre Videos und ihre Auftritte konzentrieren.
Auf der anderen Seite ist es so, dass viele Künstlerverträge – zumindest die der Major-Labels – schon immer etwas fragwürdig waren, alleine wegen der Vielzahl an Kosten und Gebühren, die ursprünglich aus dem Zeitalter physischer Tonträger stammen und die den Künstlern auch heute noch für Digitalprodukte abgezogen werden. Darüber hinaus beinhalten sie oft extrem geringe prozentuale Beteiligungen. Diese Verträge haben sich über die letzten Jahrzehnte kaum verändert, obwohl die Welt mittlerweile eine ganz andere ist.
Ein Beispiel: Bei vielen Label-Verträgen finden sich immer noch Klauseln zu Abgaben für Fernsehwerbung oder Packaging. Dabei spielt Fernsehwerbung heute so gut wie keine Rolle mehr. Und eine besondere physische Verpackung für ein neues Album auf CD braucht in den meisten Fällen auch keiner. Daher ist es für Künstler heutzutage umso wichtiger, die Kontrolle zu behalten – ich denke, das ist auch das, was Jack mit seinem TED-Talk unterstreichen wollte.
Jonas:
Glaubst Du, dass so etwas wie Gerechtigkeit im Musikbusiness überhaupt möglich ist?
Ronny:
Ja, absolut! Auch wenn viele Künstler nach wie vor im alten System feststecken, hat sich im Laufe der letzten Jahre vieles in Richtung Fairness verschoben. Ich denke da etwa an die vielen Indielabels, die sehr familiär und transparent aufgestellt sind. Aber auch auf höherer Ebene gibt es Erfolgsbeispiele, etwa das Modell Mute Records und Depeche Mode. Die hatten für den Großteil ihrer Karriere einen fifty-fifty handshake deal – und sind heute wahrscheinlich eine der reichsten und immer noch performancestärksten Band der Welt.
»In Europa etablieren sich technologische Innovationen oft erst mit einer zeitlichen Verzögerung.«
Jonas:
Wie unterscheidet sich der europäische Markt vom amerikanischen? Ist in Europa die Bereitschaft der Leute, Künstler finanziell zu unterstützen, eine andere?
Ronny:
Das Bewusstsein, dass es im Kreativbereich überhaupt so etwas wie Membership-Plattformen gibt, ist in Europa wesentlich niedriger ausgeprägt als in den USA. Das liegt unter anderem daran, dass sich technologische Innovationen oft erst mit einer zeitlichen Verzögerung in Europa etablieren. Für uns bei Patreon bedeutet das, dass wir hier eine gewisse Aufklärungsarbeit betreiben müssen, auch weil damit unser eigener Bekanntheitsgrad verbunden ist. Davon abgesehen ist aber die grundsätzliche Bereitschaft von Menschen, für Dinge Geld auszugeben, die ihnen etwas bedeuten, überall auf der Welt dieselbe. Die Unterschiede liegen lediglich in der Höhe der möglichen finanziellen Unterstützung, was in erster Linie von Faktoren wie Einkommen oder Kaufkraft abhängig ist.
»Bei den Labels sitzen durchweg supercoole Zwanziger und Dreißiger, die sich einbilden, ganz genau zu wissen, was der Kunde will.«
Jonas:
Du bist seit 2010 auch als Gastdozent tätig und hast unter anderem an der ebam, der BIMM sowie an der Popakademie Baden-Württemberg unterrichtet. Aus welchem Grund hast Du diese Gastdozenturen angetreten?
Ronny:
Ich glaube, weil ich nie so ein Berufsjugendlicher werden wollte. Frank Zappa hat mal in einem Interview darüber gesprochen, dass in den 1960er und 70er Jahren zu beobachten war, wie immer mehr experimentelle Veröffentlichungen auf den Musikmarkt kamen, auch von Major-Labels. Der Grund für diese Releases sei gewesen, dass die verantwortlichen A&R-Manager alle um die 50, 60 Jahre alt gewesen seien und keine Ahnung davon gehabt hätten, was die Jugendlichen wollten. Dementsprechend seien sie einfach risikofreudiger gewesen und hätten gelegentlich einfach herumprobiert, was funktioniert und was nicht.
Wenn ich mir die heutige Situation in der Musikindustrie betrachte, muss ich immer wieder an diese Aussage von Frank Zappa denken. Bei den Labels sitzen durchweg supercoole Zwanziger und Dreißiger, die sich einbilden, ganz genau zu wissen, was der Kunde will – und dadurch vieles an neuer Musik oder an neuen Stilen gar nicht zulassen.
Durch meine Gastdozenturen habe ich die Chance, weiterhin einen Umgang mit jungen Kreativen zu haben und zu erfahren, wie sie tatsächlich denken. Und ich glaube, diese Tätigkeit schützt mich auch ein Stück weit davor, in eine Sackgasse zu geraten, in der ich mir mit fast 50 einbilde, noch ganz nah dran zu sein an dieser Zielgruppe. Und genau zu wissen, wie sie tickt – weil ich ja selbst mal Teenager war. Das ist eine Riesenfalle.
»Heute muss man als Künstler viel stärker um die Aufmerksamkeit der Leute kämpfen, als es noch 2010 der Fall war.«
Jonas:
Ist die Welt, in die Du deine Studentinnen und Studenten entlässt, heute eine andere als noch vor zehn Jahren?
Ronny:
Das ist sie ganz eindeutig. Die Möglichkeiten, die sich den jungen Leuten heute bieten, sind ganz andere, alleine weil es viel weniger Gatekeeper gibt als früher. Soll heißen: Wenn da vor zehn Jahren jemand saß, der einen nicht durchlassen wollte, hätte man gegen die Wand rennen können – es gab einfach kein Vorbeikommen. Diese Gatekeeper haben sich über die Jahre immer weiter aufgelöst oder wurden durchlässiger. Heute hat man als Kreativer rein theoretisch die Möglichkeit, vieles selbst zu erreichen. Es gibt für so gut wie alles technologische Lösungen und Plattformen, die erschwinglich sind und der eigenen Kreativität keine Schranken setzen. Der Nachteil an dieser Entwicklung ist allerdings, dass es dadurch viel mehr Konkurrenz gibt. Dementsprechend muss man heute als Künstler viel stärker um die Aufmerksamkeit der Leute kämpfen, als es noch 2010 der Fall war. Diese Beobachtung kann man übrigens in so gut wie allen Kreativbereichen machen.
»Wenn man fast dreißig Jahre in der Musikindustrie aktiv ist, hinterfragt man irgendwann nicht mehr alles.«
Jonas:
Bringen die Studierenden heute auch von Anfang an mehr Fähigkeiten mit als damals?
Ronny:
Das würde ich nicht sagen. Die Studentinnen und Studenten, die ich unterrichtet habe, waren schon immer sehr heterogen aufgestellt und haben auch schon immer die unterschiedlichsten Skills mitgebracht. Ich mag es übrigens auch ganz gerne, wenn ich selbst von diesen jungen Leuten gefordert werde. Ich denke da etwa an meine Erfahrung mit Master-Studierenden an der Popakademie. Wenn man wie ich fast dreißig Jahre in der Musikindustrie aktiv ist, hinterfragt man irgendwann nicht mehr alles und nimmt vieles für selbstverständlich. Aber wenn Leute da erst relativ frisch dazukommen, bringen sie eine andere Perspektive mit – und stellen Fragen, die man sich selbst seit Jahrzehnten nicht mehr gestellt hat. Und was die Studierenden an der ebam oder BIMM angeht, handelte es sich in der Regel um Menschen, die aus ganz anderen Berufszweigen oder direkt von der Schule kommen und zum ersten Mal in den Kreativbereich hineinschnuppern. Auch das finde ich sehr erfrischend.
»Meine Eltern wollten, dass etwas Ordentliches aus mir wird.«
Jonas:
In den frühen Neunzigern hast Du selbst eine Ausbildung zum Bankkaufmann absolviert und gleichzeitig als Produzent und DJ gearbeitet. Konntest Du dich nicht für eine Welt entscheiden?
Ronny (lacht):
Ich war nie wirklich daran interessiert, Banker zu werden, und hätte beruflich sehr gerne irgendetwas mit Musik gemacht. Aber zu meiner Zeit gab es einfach kein Studium, das dem entsprochen hätte. Ich hätte maximal Klavier studieren können, aber den Studiengang Musikbusiness gab es Anfang der Neunziger einfach nicht, auch keine Institution wie etwa die Popakademie in Mannheim. Meine Eltern wollten wie alle Eltern, dass etwas Ordentliches aus mir wird, und brachten diverse andere Studiengänge ins Gespräch. Da war von Mathematik über Pädagogik bis Medizin alles Mögliche dabei. Ich wollte aber unbedingt in die Musikindustrie. Warum sollte ich also sechs, sieben Jahre irgendetwas studieren, was ich gar nicht machen wollte? Für mich war Bankkaufmann deshalb interessant, weil die Ausbildung nur drei Jahre dauerte. Das konnte ich irgendwie runterrattern. Und es war für meine Familie akzeptabel, damit konnten sie leben.
Bei meinem Einstieg in die Musikindustrie stellte sich meine Ausbildung dann als echter Goldgriff heraus, weil diese Branche damals zwar sehr erfolgreich, aber oft – zumindest im wirtschaftlichen oder organisatorischen Sinne – extrem unprofessionell aufgestellt war. In meinen ersten Jahren dort habe ich fast ausschließlich mit Leuten gearbeitet, die noch nie in ihrem Leben einen klassischen Bürobetrieb mitgemacht, geschweige denn jemals in irgendeiner Form auf Zahlen geachtet hatten. So hat mir diese Ausbildung in meiner gesamten Karriere immer wieder geholfen, beide Welten zu vereinen: auf der einen Seite selbst Künstler zu sein und künstlerisch zu denken und auf der anderen Seite ein solides ökonomisches Verständnis zu haben. Das passt ja irgendwie auch ganz gut zu Patreon.
#ronnykrieger #patreon #vakuum #jonasmeyer #stevenluedtke #mypmagazine
Mehr von und über Patreon:
patreon.com
instagram.com/patreon
facebook.com/patreon
twitter.com/patreon
Interview & Text: Jonas Meyer
Fotos: Steven Luedtke
Liah Lou
Submission — Liah Lou
Privilegiert und gefährdet
Liah Lou studiert Chemie, arbeitet im Porno-Business und gehört wegen einer chronischen Erkrankung zur Corona-Risikogruppe. In ihrem Text erklärt sie, was die aktuelle Krise für ihre Branche bedeutet, warum sie die jüngsten Lockerungen kritisch sieht und was sie von der Protestkultur in Deutschland hält.
13. Mai 2020 — MYP N° 29 »Vakuum« — Text & Fotos: Liah Lou
Ich bin Liah, lebe in Deutschland und gehöre zur COVID-19-Risikogruppe: Ich bin chronisch krank, nehme Immunsuppressiva und leide außerdem an einer Nierenkrankheit. Neben meinem Vollzeitstudium der Chemie arbeite ich in der Pornoindustrie – als Amateurdarstellerin, Webcam-Girl und Stripperin.
Wie blicke ich persönlich auf die aktuelle Situation? Die spürbarste Einschränkung erlebe ich in Bezug auf mein Studium. Prüfungen aus dem letzten Semester sind immer noch nicht terminiert und das nächste Semester findet komplett ohne Präsenzveranstaltungen statt. Da wir viel im Labor arbeiten und Praktika absolvieren, für die es keine Alternative gibt, wird die momentane Lage das Studium vieler Naturwissenschaftler verkomplizieren und verlängern.
»Die Webcam bietet den Leuten eine gewisse soziale Interaktion, die ihnen aufgrund der Isolation gerade fehlt.«
Viele meiner Kommilitonen setzt dieser Stillstand psychisch und finanziell unter Druck. Ich selbst habe aber kein wirkliches Problem damit, da ich durch meine Arbeit im Pornobusiness finanziell abgesichert bin. Das ist ein großes Privileg – nicht nur, weil ich von zu Hause arbeiten und mir die Zeit frei einteilen kann. Ich kann auch momentan keinen Rückgang der Umsätze beobachten, jedenfalls nicht in Bezug auf kostenpflichtige Videoclips und Webcam-Shows. Was meine Stripshows angeht, gibt es zurzeit natürlich keine Anfragen oder Buchungen, obwohl der Sommer normalerweise wegen der vielen Junggesellenabschiede unsere Hochsaison ist. Für die Kolleginnen, die das hauptberuflich machen, ist das ein großes Problem. Denn es bedeutet: keine Einnahmen.
Zu Beginn der Krise kursierte das Gerücht, dass die Pornoindustrie massive Umsatzsteigerungen habe. Das kann ich bestätigen, in den ersten zwei Wochen der Isolation lief es besonders gut. Der Grund dafür ist wahrscheinlich der, dass die Webcam den Leuten eine gewisse soziale Interaktion bietet, die ihnen aufgrund der Isolation gerade fehlt. Mittlerweile haben sich die Zahlen allerdings wieder eingependelt, auch weil allgemein eine große wirtschaftliche Unsicherheit herrscht und die Leute achtsamer mit ihrem Geld umgehen.
»Unsere vulnerable Gruppe profitiert von der Vorsicht und der Angst der Allgemeinheit.«
So sehr ich auch durch die Pornoindustrie auf der existenziellen Sonnenseite stehe, so sehr wirft die Corona-Krise einen Schatten auf meine restlichen Lebensbereiche. Während es durch die jüngsten Lockerungsmaßnahmen für einen Großteil der Bevölkerung Schritt für Schritt in Richtung Normalität geht, müssen wir Risikopatienten weiter Vorsichtsmaßnahmen treffen. Je mehr das Bewusstsein in der Bevölkerung für die immer noch bestehende Ansteckungsgefahr schwindet und je mehr Schutzvorkehrungen dadurch vernachlässigt werden, desto weniger können wir uns draußen frei bewegen.
Unsere vulnerable Gruppe profitiert von der Vorsicht – und gewissermaßen von der Angst – der Allgemeinheit. Aber sobald diese schwindet und die Leute draußen keine Schutzmaßnahmen mehr ergreifen, wird es zunehmend schwieriger für uns, einer Infektion zu entgehen. Ich kann und will mir eine Erkrankung an COVID-19 nicht leisten – auch nicht, wenn das Gesundheitssystem noch stabil ist. Mein Gefühl von Sicherheit wird erst dann wieder den ursprünglichen Status erreichen, wenn es eine geeignete Behandlung oder einen Impfstoff gibt.
»Ich werde den Campus dieses Jahr nicht mehr betreten. Und auch keine Stripshows anbieten.«
Ob mir das Angst macht? Ja. Ich habe mich ausreichend organisiert und komme kontaktlos an alles, was ich brauche. Ich habe Hunde, kann draußen spazieren, aber ich denke, dass ich den Campus dieses Jahr nicht mehr betreten werde. Auch werde ich keine Stripshows anbieten, nicht ins Fitnessstudio gehen, keinen Poledance-Unterricht besuchen, nicht mit Freunden essen gehen und mich auch nicht einfach mal in ein Café setzen. Corona bedeutet für mich eine Umstellung meines kompletten Lebens, und das für eine längere Zeit.
Was ich in Deutschland momentan erlebe, ist eine Art gezwungene Solidarität. Seitdem hier weitestgehend alle begriffen haben, wie ernst die Lage ist, hält man sich größtenteils an die Regeln. Positiv fällt mir auf, dass ein Land, das dafür bekannt ist, von Anfang bis Ende durchbürokratisiert zu sein, sich etwas entspannt. Ämter sind momentan nachsichtiger mit Fristen und Anträgen, die Menschen sind gestresst, aber freundlicher. Die Medien zeigen täglich Fälle von Familien bis hin zu ganzen Branchen, die existenzbedroht sind, und ich habe das Gefühl, in unserer Gesellschaft wächst ein Bewusstsein dafür, dass der Mensch, der uns gerade begegnet, momentan in einer schwierigen Lage sein könnte.
»Eine Frage, die die Bürger momentan am meisten bewegt, sei, ob man jetzt langsam mal den Sommerurlaub buchen könne.«
Ich muss zugeben, dass mir gerade kein Land einfällt, in dem ich mich momentan sicherer fühlen würde als in Deutschland. Ich bin stolz darauf, wie unsere Regierung die aktuelle Lage meistert, und ich vertraue ihr. Gleichzeitig zeichnen sich für mich gerade gewisse Charakteristika unserer Gesellschaft ab. Für mein Empfinden sind die Deutschen sehr bequem und an ihre Komfortzone gewöhnt. Obwohl in unseren Nachbarländern dramatische Zustände herrschen und wir mit vergleichsweise sanften Maßnahmen konfrontiert sind, klagen Bürger ihre Grundrechte ein. Bereits nach wenigen Wochen liegt eine enorme Ungeduld in der Luft. Eine Frage, die laut der Mitarbeiterin einer Corona-Hotline die Bürger momentan am meisten bewegt, sei, ob man jetzt langsam mal den Sommerurlaub buchen könne.
Mir fällt auf, dass man in den Medien ständig Horrorszenarien aus dem Ausland sieht. Etwa Kühllaster voller Leichen in den USA. Oder Militärfahrzeuge, die die Toten in Italien abtransportieren. Kilometerlange Staus von Krankenwagen vor Kliniken in Russland. Wir sehen Bürgeraufstände in Südamerika, Menschen, die von Beamten angegriffen werden, weil sie sich nicht an die Ausgangssperre halten. Surreale Szenarien, aber nichts derart aus Deutschland. Wir sehen keine Särge, die Verstorbenen erscheinen nur als Zahl in der Statistik. Wir erfahren keine Details, kein Angehöriger kommt zu Wort. Wir sehen keine Bestattungen oder hören von überfüllten Krematorien. Was sich hinter den Toren deutscher Kliniken teilweise abspielt, erfährt man höchstens durch die sozialen Medien oder über Bekannte. Auf Twitter ergreifen Pflegepersonal, Ärzte und Angehörige das Wort. Eine Polizistin schreibt, sie habe in den letzten drei Schichten sechs erstickte Leichen gesehen und sei nervlich am Ende.
»Es fühlt sich an, als könne man uns Deutschen den Ernst der Lage nicht so richtig zumuten.«
Mir scheint es, als versuche man hier einen Balanceakt: Horrorszenarien aus dem Ausland, die uns warnen und neben denen die Situation im eigenen Land beschwichtigend und fast idyllisch wirkt. Es fühlt sich an, als könne man uns Deutschen den Ernst der Lage nicht so richtig zumuten. Wenn man mal die Großstädte Berlin, Köln und Hamburg ausklammert, dann halte ich den durchschnittlichen deutschen Bürger für anpassungsunfähig und skeptisch gegenüber jeglicher Veränderung.
Man kann es uns auch nicht verübeln, denn wir werden in so ein System hineingeboren. Alles ist hier durchstrukturiert, man weiß immer, mit welchem Anliegen man wo hinmuss. Manchmal ist die Penibilität der deutschen Bürokratie fast schon lächerlich. Was für manch einen freieren Geist einschränkend oder lästig erscheint, gibt anderen Menschen Sicherheit und Vertrauen. Und genau genommen ist es auch diese Ordnung, die die besten Voraussetzungen schafft, um so glimpflich wie möglich durch solche Zeiten zu kommen. Und das tun wir momentan.
»Vielleicht birgt diese Krise ja die Chance, dass wir wieder etwas mehr von dem begreifen, was wir sind.«
Vielleicht birgt diese Krise ja die Chance, dass wir wieder etwas mehr von dem begreifen, was wir sind: Individuen in einer Gemeinschaft, einzelne Teile eines großen Ganzen. Und das große Ganze brauchen wir. Wir müssen mitfühlen, aufeinander achten und mit uns selbst auch die Gemeinschaft schützen. Schwachstellen verschiedenster Systeme klaffen gerade wie offene Wunden und nun liegt es an uns allen, diese Wunden richtig zu schließen.
Vielleicht kann sich etwas in der Grundhaltung, mit der wir anderen Menschen in unserem Alltag begegnen, nachhaltig ändern. Vielleicht können wir auch in Zukunft etwas von dieser erhöhten Hilfsbereitschaft behalten und unser zugewonnenes Gemeinschaftsgefühl nicht wieder schwinden lassen. Vielleicht lernen wir, wieder etwas dankbarer zu sein, und nehmen den Wohlstand und die Sicherheit um uns herum mit mehr Achtsamkeit wahr.
Was mich betrifft, ist genau dieser Aspekt auch jener, der mein Leben mittelfristig bestimmt. Solange keine adäquate Behandlung möglich ist, gibt es immer noch die Vulnerablen unter uns. Wie lange werden die „anderen“ die freiwilligen Maßnahmen aus Solidarität zu uns einhalten? Ab wann wird die eigene Komfortzone dem Schutz der Risikopatienten vorgezogen?
Ich weiß es nicht, aber ich hoffe, dass der Gemeinschaftsgedanke bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffs anhält. Mindestens. Besser wäre, wenn er noch viel, viel länger anhalten würde und wir irgendwann unseren Frieden mit dieser Krise machen könnten.
#vakuum #liahlou #mypmagazine
Mehr von und über Liah Lou:
Jonas Höschl & Anna Hofmann
Editorial — Jonas Höschl & Anna Hofmann
Team Teller
In einem Sommer vor »Social Distancing« besuchte Jonas Höschl zusammen mit seiner Klasse für Fotografie deren Professor Juergen Teller in London. Sie spielten viel Fußball und fotografierten sich dabei. Zu dem kleinen Editorial, das damals entstand, hat Jonas‘ ehemalige Kommilitonin und Autorin Anna Hofmann nun nachträglich eine Kurzgeschichte verfasst.
4. Mai 2020 — MYP N° 29 »Vakuum« — Fotografie: Jonas Höschl, Text: Anna Hofmann
»In jeder Landschaft bildet sich eine Glocke um uns, die uns behütet vor dem, was uns nachts nicht schlafen lässt.«
Während diese Einsamkeit mich fast umzubringen droht, versuche ich, das Wichtige nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei streiten sich zwei größere Punkte in meinem Kopf: Ist das Wesentliche das, was es noch zu tun gibt, oder viel eher die Erinnerung an Tage, an denen wir mit unseren Fahrrädern zur Wiese gefahren sind? Als du irrsinnig schnell gefahren bist, weil du den Weg besser kennst als ich. Das macht mir nichts aus, ich weiß, dass du nur schnell fährst, wenn es dir gut geht. Und wenn wir ankommen, lassen wir unsere Räder ins Gras fallen. Du breitest dann das große Tuch aus und scherzt darüber, wann wir es zuletzt benutzt haben. Weißt du noch, als das Brandloch entstanden ist?
Wir lachen und suchen nach der Stelle, rechts unten in der Ecke. Durch das Loch haben sich ein paar Grashalme gedrängt, ich stelle die Weinflasche darauf, damit das Tuch nicht wegweht. Als wir uns setzen, fällt mir das Geräusch auf: Ein gigantisches Brummen um uns herum, es klingt eher technisch und sehr aufgeregt.
In jeder Landschaft, in die wir beide uns setzen, bildet sich eine Glocke um uns, die uns vom Alltag abschirmt, die uns behütet vor dem, was uns nachts nicht schlafen lässt.
»Wann haben wir beschlossen, Freundinnen zu werden?«
Ich vergesse dann darüber nachzudenken, dass alles den Bach ‘runtergeht, dass ich mit der Miete im Verzug bin und noch einkaufen gehen muss. Und manchmal vergesse ich auch, wann der Todestag meiner Mutter ist. Du stehst auf und imitierst jemanden, das bringt mich jedes Mal so sehr zum Lachen, dass ich Bauchschmerzen bekomme.
Wenn ich dich beobachte, fällt mir auf, wie zerbrechlich du wirkst und wie wenig das deinem unzerstörbaren Willen entspricht. Hast du dir etwas in den Kopf gesetzt, wird es auch so. Du bist ein kleines Naturgesetz und ich stehe oft mit Staunen daneben, wenn du alles um dich herum in Bewegung bringst.
Wann haben wir beschlossen, Freundinnen zu werden? Ich kann mich nicht an den Zeitpunkt erinnern, es scheint schon immer so zu sein. Legst du deine Stirn in Falten und siehst konzentriert auf deine Hände, weiß ich, es braucht nicht mehr lange, dann entsteht eine Idee in deinem Kopf, dann erschaffst du etwas Neues.
»Es fühlt sich ungut an, im freien Fall nach deiner Hand zu greifen, ich habe Sorge, ich ziehe dich mit.«
Ich denke an alle Träumereien, die wir uns bis jetzt ausgemalt haben. Viele haben wir vergessen, die meisten verworfen und verschoben, aber wir sind immer dort angekommen, wo wir, seit wir sehr jung waren, hinwollten. Manchmal wirst du dir unsicher und manchmal schwanke ich auch. Dann fühlt es sich ungut an, im freien Fall nach deiner Hand zu greifen, ich habe Sorge, ich ziehe dich mit.
Wir haben einander, sagst du dann immer und ich sage, ja, haben wir. Wenn ich jetzt daran denke, beugt sich dieser Unmut ein bisschen dem warmen Gefühl in meiner Magengegend und ich seufze.
#vakuum #jonashoeschl #annahofmann #juergenteller #teamteller #mypmagazine
Fotografie: Jonas Höschl
Text: Anna Hofmann