Telefonseelsorge Berlin e.V.
Interview — Telefonseelsorge Berlin
»Wir sind immer da, auch an Weihnachten«
Weihnachten steht vor der Tür: für viele ein Grund zu feiern, für manche aber eine emotionale Ausnahmesituation. Wir haben mit Psychologin Bettina Schwab, der fachlichen Leiterin des Telefonseelsorge Berlin e.V., über ihre Arbeit und die Situation während der Feiertage gesprochen. Ein Interview über das große Thema Einsamkeit, Anrufe, die mit einem Schweigen beginnen, und die Furcht vieler Menschen, für andere Verantwortung übernehmen zu müssen.
21. Dezember 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Manuel Puhl
Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr bundesweit erreichbar. Die Telefonnummern lauten 0800 – 111 0 111 und 0800 – 111 0 222.
»Es ist ein Spiegel der Gesellschaft, der sich an uns wendet.«
MYP Magazine:
Frau Schwab, was genau ist die Telefonseelsorge?
Bettina Schwab:
Die Telefonseelsorge ist ein niedrigschwelliges Angebot für Menschen, die ein Gesprächsangebot suchen, weil ihnen die Seele schmerzt. Sie richtet sich an Personen, die in einem bestimmten Moment niemanden haben, mit dem sie über ihr Anliegen sprechen können; oder die sich im Schutz der Anonymität ein Stück weit ausbreiten möchten mit dem, wie es ihnen geht. Auf der anderen Seite des Telefons sitzen ehrenamtliche Zuhörer*innen, die zusammen mit der anrufenden Person die aktuelle Notlage genau betrachten und ihr Raum geben, ihre Gefühle zu äußern und gehalten zu werden.
MYP Magazine:
Was sind das für Menschen, die bei Ihnen anrufen?
Bettina Schwab:
Es ist ein Spiegel der Gesellschaft, der sich an uns wendet – und zwar quer durch alle Altersklassen, beruflichen Hintergründe und Bevölkerungsgruppen. Dabei ist die Hauptgruppe zwischen 50 und 80 Jahre alt, die Jüngeren schreiben eher eine E-Mail. Auch rufen mehr Frauen als Männer an, was ebenfalls ein Spiegel der Gesellschaft ist. Denn viele Männer machen ihre Sorgen nach wie vor eher mit sich selbst aus. Darüber hinaus weist etwa ein Drittel unserer Anrufenden eine bekannte oder diagnostizierte psychische Störung auf. Auch das ist ein Spiegel der Gesellschaft.
»Einsamkeit und Isolation ist das große Thema unserer Gesellschaft – und seit einigen Jahren auch das Hauptthema am Telefon.«
MYP Magazine:
Mit welchen Themen wenden sich die Menschen an Sie?
Bettina Schwab:
Mit all dem, was wir auch aus unseren eigenen Leben kennen: etwa mit Konfliktsituationen in der Partnerschaft oder am Arbeitsplatz. Oder mit Stress, emotionaler Erschöpfung, depressiven Stimmungen oder konkreten Ängsten. Vor allem aber mit dem Gefühl von Einsamkeit und Isolation. Das ist das große Thema unserer Gesellschaft – und seit einigen Jahren auch das Hauptthema am Telefon. Manchmal geht es den Anrufenden aber auch nur darum, über Streitigkeiten mit der Kassiererin im Supermarkt zu sprechen. Auch das ist völlig okay.
MYP Magazine:
Wer sind die Menschen am anderen Ende des Telefons?
Bettina Schwab:
Die Mitarbeiter*innen der Telefonseelsorge sind Ehrenamtliche. Bevor sie am Telefon den Menschen zuhören und Gespräche führen können, durchlaufen sie eine sehr ausführliche Ausbildung. Einfach zuhören hört sich so leicht an. Letztendlich ist das aber gar nicht so leicht – denn wenn wir in unserem Alltag jemand anderem zuhören, denken wir uns selbst dabei immer mit. Und wir gleichen das, was wir hören, mit unserem eigenen Erfahrungsschatz ab, um den dann zum Besten zu geben.
In der Ausbildung lernen unsere Ehrenamtlichen daher erst mal, aus verschiedenen Perspektiven die eigene Biografie zu betrachten. Es geht darum, eventuelle blinde Flecke in Bezug auf bestimmte Themen zu erkennen. Davon abgesehen schulen wir sie in Sachen Gesprächsführung und geben ihnen bestimmte Techniken an die Hand, um mit bestimmten Anrufertypen oder schwierigen Situationen am Telefon zurechtzukommen. All das ermöglicht ihnen, aktiv zuzuhören.
MYP Magazine:
Das bedeutet konkret?
Bettina Schwab:
Aktiv zuhören heißt, bei der anrufenden Person zu bleiben, ihre Welt und Probleme zu explorieren und einen Raum aufzumachen, in der sie ihre Gefühle äußern kann. Und es geht darum, ihr in diesem Gespräch anzubieten, dass man für sie da ist und dass geweint, gelacht oder geschrien werden kann. Auch das ist etwas, das man sich im Alltag häufig nicht erlaubt mit anderen Menschen.
»Es ist in unserer Gesellschaft nicht sehr angesagt, nicht leistungsfähig zu sein.«
MYP Magazine:
Leben wir in einer Gesellschaft, die das generell nicht zulässt oder zumindest erschwert?
Bettina Schwab:
Mein Eindruck ist ja – und ich bin sicher, dass mir meine Kolleg*innen da zustimmen würden. Natürlich gibt es immer Personenkreise, die anders leben, das heißt offener und empathischer. Aber im Großen und Ganzen ist es in unserer Gesellschaft nicht sehr angesagt, nicht leistungsfähig zu sein. Viele Menschen haben das Gefühl: Wenn man mit einer Schwäche nach außen geht, kommt man unter die Räder. Man wird nicht mehr ernst genommen und als schwach oder jammernd tituliert. So wird der Raum für die eigenen Gefühle immer enger. Doch nur weil man über eine Verletzung spricht, heißt das noch lange nicht, dass man sich die nächsten zehn Jahre zu Hause einigeln und bemitleiden will. Man möchte lediglich einen sicheren Raum haben, in dem man seine Verletzlichkeit zeigen kann. Und dann kann man in seinem Leben auch wieder weitermachen.
»Das ist etwas, was die Telefonseelsorge überhaupt nicht leisten kann: einen Beratungsprozess oder einen Therapieprozess zu gewährleisten.«
MYP Magazine:
Sie haben die Telefonseelsorge als eine niederschwelliges Angebot für Menschen beschrieben, die ein Gesprächsangebot suchen, weil ihnen die Seele schmerzt. Sehen sie Ihren Dienst als eine Art Vorstufe zur Psychotherapie?
Bettina Schwab:
Nein. Viele der Themen, die bei uns am Telefon besprochen werden, sind nicht für eine Therapie geeignet. Es geht ausschließlich darum, in einer konkreten Belastungssituation eine menschliche Verbindung herzustellen und durch das Gespräch eine Entlastung zu schaffen. Wir helfen den Menschen beim Sortieren, geben ihnen einen Raum für ihre akute seelische Notlage und versuchen, einen möglichen Ausweg aus ihrer konkreten Situation aufzuzeigen. Außerdem geht es darum, gemeinsam herauszufinden, was gerade helfen würde, um die Schwere zu reduzieren; was konkret getan werden könnte, um die nächste Stunde gut zu überstehen; und was man sich gerade selbst Gutes tun könnte, unabhängig von anderen.
Natürlich haben wir auch immer wieder Anrufende – und deren Zahl wächst –, die unsere Nummer von ihrem Psychiater haben, etwa mit der Begründung: „zur Überbrückung, bis die Therapie startet“. Aber das ist etwas, was die Telefonseelsorge überhaupt nicht leisten kann: einen Beratungsprozess oder einen Therapieprozess zu gewährleisten. Das lässt allein das Setting gar nicht zu. Unsere Gespräche sind einmalige Kontakte. Die Chance, dass man bei jedem Anruf denselben Ehrenamtlichen am Telefon hat, ist nahe Null.
»Für uns heißt Weihnachten, dass all die Themen noch mal mit einer gewissen Extraschärfe präsentiert werden.«
MYP Magazine:
In wenigen Tagen ist Weihnachten – ein Fest, das gesellschaftlich mit sehr viel Bedeutung aufgeladen ist, aber auf das sich nicht alle Menschen freuen. Was bedeutet diese Zeit im Jahr für die Arbeit der Telefonseelsorge?
Bettina Schwab:
Für uns heißt Weihnachten, dass all die Themen, die uns auch das ganze Jahr über in der täglichen Arbeit begleiten, am Telefon noch mal mit einer gewissen Extraschärfe präsentiert werden. Wir erfassen zwar keine Gesprächsinhalte, aber laut Statistik machen familiäre und Alltagsbeziehungen im Jahresschnitt etwa 30 Prozent aller Gespräche aus, das Thema Einsamkeit und Isolation liegt bei etwa 26 Prozent. Um die Weihnachtstage herum rücken beide Themengebiete besonders in den Vordergrund.
Auch wenn sich in dieser Zeit im Prinzip nichts an der generellen Situation der Anrufenden ändert: Viele, die sich sonst im Jahr ein Stück weit besser mit der Situation arrangieren können, dass kein Kontakt zur Familie besteht, werden zu Weihnachten von ihrer Umwelt ständig daran erinnert, dass jetzt die Zeit ist, die man mit der Familie zu verbringen hat. Und das bringt eine ganz eigene Qualität in die Trauer, Wut oder Depression, die bei den Anrufenden im Hinblick auf ihre familiäre Beziehung besteht.
»Ich finde, es ist etwas sehr Großes, dass gerade an Weihnachten jemand ans Telefon geht.«
MYP Magazine:
Wie gehen die Ehrenamtlichen damit um, dass sie an den Feiertagen am Telefon sitzen?
Bettina Schwab:
Wir sind immer da, auch an Weihnachten. Unsere Ehrenamtlichen arrangieren daher ihre Feiertage so, dass es ihnen möglich ist, auch in der Telefonseelsorge noch einen Dienst zu übernehmen. Das weiß ich immer sehr zu schätzen. Immerhin klinken sie sich teilweise aus ihren familiären Festigkeiten aus, um für andere da zu sein. Ich finde, es ist etwas sehr Großes, dass gerade an Weihnachten jemand ans Telefon geht und sagt: „Ich bin da für dich.“
»Viele Gespräche beginnen mit einem Schweigen.«
MYP Magazine:
Für manche Menschen ist es sicher schwer, überhaupt zum Hörer zu greifen und die Nummer der Telefonseelsorge zu wählen. Was passiert in den ersten Sekunden eines Anrufs? Und wie läuft so ein Gespräch in der Regel ab?
Bettina Schwab:
Wenn bei uns das Telefon klingelt, meldet sich eine*r unserer Telefonseelsorger*innen und spricht eine Einladung aus. Das Ganze könnte dann beispielsweise so anfangen: „Telefonseelsorge Berlin. Wie kann ich ihnen helfen? Über was möchten sie sprechen?“ In den folgenden Minuten geht es dann erst mal darum, Raum zu geben. Unsere Ehrenamtlichen sind sehr gut darin, ruhig zu bleiben. Viele Gespräche beginnen mit einem Schweigen, genervte Fragen wie „Ist überhaupt jemand dran?“ gibt es bei uns nicht. Wir signalisieren eher: „Nehmen sie sich Zeit. Ich bin hier. Wenn sie schweigen möchten, können wir auch gerne schweigen. Finden sie ihren eigenen Anfang – ich bin hier, wenn sie so weit sind.“ Wir wollen die Person am anderen Ende der Leitung ab der ersten Sekunde wissen lassen: Es ist in Ordnung, dass sie hier ist. Alles ist okay, es besteht kein Leistungsdruck und es ist egal, wie groß oder klein das Thema ist.
MYP Magazine:
Und wie geht es dann weiter?
Bettina Schwab:
Viele Menschen beginnen das Gespräch mit den Worten: „Ich weiß gar nicht, ob ich hier richtig bin.“ Wir antworten dann: „Versuchen wir es doch mal, vielleicht möchten sie einfach nur erzählen.“ Den Anrufenden ins Erzählen zu bringen, ist ein erster großer Schritt. Und wenn das nicht gewünscht ist, schweigen wir einfach gemeinsam weiter. Das hört sich absurd an, aber heutzutage schweigt man ja gar nicht mehr miteinander. Bei uns besteht die Möglichkeit, dass man nicht reden muss. Und meistens hilft allein dieses Gewissheit, dass am Ende doch noch ein Gespräch entsteht.
»Viele meiden lieber den Kontakt, weil sie befürchten, dadurch eine Verantwortung übernehmen zu müssen, die ihnen zu groß ist.«
MYP Magazine:
Die Tatsache, dass Menschen gibt in bestimmten Momenten ihres Lebens so verzweifelt sind, dass sie zum Hörer greifen und einer wildfremden Person ihre Sorgen erzählen, ist vielen anderen wahrscheinlich gar nicht so bewusst. Was würden Sie sich in Bezug auf den nicht anrufenden Teil der Gesellschaft wünschen?
Bettina Schwab:
Ach, ich würde mir wünschen – und das nicht nur zu Weihnachten, sondern ganzjährig –, dass in unserer Gesellschaft vielmehr Aufklärung betrieben würde über Themen wie Einsamkeit und Isolation, aber auch über die psychischen Auswirkungen von Einsamkeit, etwa die Entwicklung von psychischen Störungen bis hin zu Suizidalität im allerschlimmsten Fall.
Die Gesellschaft muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass es oft nur ganz wenig erfordert, um gegen solche Entwicklungen anzugehen. Ich denke da etwa an das Grüßen der Nachbarin im Treppenhaus oder das gelegentliche Nachfragen, ob man etwas vom Einkaufen mitbringen könne. Es geht einfach darum, miteinander ins Gespräch zu kommen. Leider scheuen sich viele davor, vor allem, wenn sie sehen, dass es jemand anderem nicht gut geht. In so einem Moment meiden sie lieber den Kontakt, weil sie befürchten, dadurch eine Verantwortung übernehmen zu müssen, die ihnen zu groß ist.
»Die Telefonseelsorge ist für jeden Menschen offen – und für jedes Thema.«
MYP Magazine:
Richtet sich Ihr Angebot auch an Menschen, die beobachten, dass es jemandem in ihrem Umfeld schlecht geht, aber nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen?
Bettina Schwab:
Die Telefonseelsorge ist für jeden Menschen offen – und für jedes Thema. Wenn man sieht, dass eine andere Person in Bedrängnis gerät, und selbst nicht weiß, wie man sich verhalten soll, ist das ein guter Grund, bei uns anzurufen. In der Regel sind unsere Ehrenamtlichen sehr fit darin, in solchen Fällen vielleicht zwei, drei Anlaufstellen zu nennen, die man an einen Menschen in Not weitergeben kann.
Viel wichtiger ist uns aber, zusammen mit der anrufenden Person zu ergründen, wie es ihr mit dieser Situation geht; wie sehr das Ganze sie selbst in die Enge treibt; und was sie persönlich tun kann, um sich besser zu fühlen. Wir sind keine Auskunftshotline und können auch keinen Fahrplan aufzeichnen, welche einzelnen Stellen von jener Person in Not anzulaufen wären. Uns geht es immer erst um die Motivation des Anrufers selbst – um den Drive, der ihn dazu veranlasst hat, sich an uns zu wenden.
»Unsere Ehrenamtlichen fühlen sich selbst immer wieder sehr belastet.«
MYP Magazine:
Welche Sorgenthemen hat eigentlich die Telefonseelsorge selbst? Was zum Beispiel würde Ihre Arbeit erleichtern?
Bettina Schwab:
Wir haben zwei konkrete Anliegen. Erstens fühlen sich unsere Ehrenamtlichen selbst immer wieder sehr belastet. Es scheint zu einer Gewohnheit geworden zu sein, dass man unter jedem Zeitungsartikel oder in jeder Fernsehsendung, die einen etwas schwereren Inhalt hat, immer den Hinweis findet: „Wenn sie in die Richtung auch was haben, rufen sie doch bei der Telefonseelsorge an.“ Natürlich ist es gut, dass Menschen wissen, wohin sie sich in einer emotionalen Notlage wenden können, und das rund um die Uhr. Aber auf uns wirken diese Hinweise oft auch so, als wolle man sich damit freikaufen.
Davon abgesehen sind viele der Themen eher etwas für die Arbeit von Psychotherapeut*innen. Es wird suggeriert, dass die Telefonseelsorge all die Probleme lösen könnte, die in dem jeweiligen Beitrag besprochen wurden. Das ist falsch und müsste viel sauberer formuliert werden. Aktuell führt es nur dazu, dass die Anrufenden eine gewisse Erwartungshaltung haben, etwa im Sinne von: „Es stand ja in der Zeitung, also lös mal mein Problem!“ Das setzt unsere Ehrenamtlichen unter einen enormen Druck, den sie zu Beginn des Gesprächs erst mal auflösen müssen.
MYP Magazine:
Und Ihr zweites Anliegen?
Bettina Schwab:
Das ist mit dem ersten verknüpft: Wenn schon von Seiten der Presse oder auch der Politik so gerne auf das Angebot der Telefonseelsorge hingewiesen wird, würde ich mir natürlich auch wünschen, dass in dieses Angebot auch mal ordentlich Geld fließt. Es gibt sehr, sehr viele Menschen, die sich gerne bei der Telefonseelsorge engagieren würden und dafür auch sehr geeignet wären. Aber viele der insgesamt 105 Telefonseelsorge-Stellen in Deutschland stecken in einer so misslichen finanziellen Situation, dass das Angebot, das es eigentlich bräuchte, um den gesellschaftlichen Bedarf zu decken, gar nicht erreicht wird. Es fehlen dazu schlicht und einfach die Mittel.
»Wir müssen von Jahr zu Jahr schauen, wie wir es hinkriegen.«
MYP Magazine:
Wie genau finanziert sich die Telefonseelsorge Berlin?
Bettina Schwab:
Der Telefonseelsorge Berlin e.V. hat – im Gegensatz zu fast allen anderen Telefonseelsorge-Stellen – keinen kirchlichen Träger. Für unsere hauptamtlichen Mitarbeiter*innen erhalten wir vom Berliner Senat eine finanzielle Unterstützung. Der komplette Rest läuft über Spenden. Und das bedeutet für uns, dass wir von Jahr zu Jahr schauen müssen, wie wir es hinkriegen.
Es ist so ein banaler Satz: Aber tatsächlich ist es so, dass jeder Cent zählt, damit wir das bestehende Angebot aufrecht erhalten können. Natürlich freuen wir uns immer über großzügige Einzelspenden. Aber wir haben auch eine ganze Reihe von Spender*innen, die uns mit monatlichen Kleinstbeträgen unterstützen. Das summiert sich am Ende ebenfalls und ist unglaublich wertvoll.
MYP Magazine:
Was würden Sie ändern, wenn Sie mehr Geld zur Verfügung hätten?
Bettina Schwab:
Aktuell haben wir die Möglichkeit, dass zwei Ehrenamtliche gleichzeitig ihren Dienst leisten. Leider haben wir nicht die finanziellen Mittel, um noch einen weiteren Ausbildungskurs zu finanzieren, um drei gleichzeitig telefonieren zu lassen. Genug Bewerber*innen hätten wir dafür. Von daher: Jeder Cent zählt, damit wir den normalen Betrieb aufrechterhalten können. Und jeder weitere Cent rückt es näher in den Bereich des Möglichen, dass wir mehr Angebot für Menschen in Notlagen schaffen können.
»Die Menschen möchten gerne eine Idee von Hoffnung haben.«
MYP Magazine:
Letzte Frage: In unseren Artikeln kombinieren wir die Texte immer mit ausführlichen Fotostrecken. Worauf sollte man aus Ihrer Sicht bei der Auswahl von Bildern achten? Gibt es bestimmte Motive, die sich weniger eignen – etwa, weil sie für vulnerable Personen eine Art Trigger sind?
Bettina Schwab:
Wenn man über Telefonseelsorge berichtet, würde ich davon abraten, die einsame Autobahnbrücke oder die Klippe am Meer zu zeigen. Viel besser wäre es, Bilder zu wählen, in denen sich an irgendeiner Stelle ein Licht oder etwas Warmes findet. So kann man zeigen: Der Weg aus dem Dunkel ins Licht ist möglich. Eine einsame Person zu zeigen, fände ich dagegen nicht so schlimm. Einsamkeit ist etwas, das man in dem Zusammenhang durchaus illustrieren kann.
Als wir vor Kurzem unsere Homepage umgestaltet haben, haben wir uns auch sehr intensiv mit dem Thema Bildwelt beschäftigt. In die engere Auswahl kam zum Beispiel ein Motiv, das einen Mensch in einer Betonwüste zeigte. Das ist ein gutes Sinnbild für viele der Themen, mit denen wir es hier in Berlin am Telefon zu tun haben: das Leben in der Großstadt, die Einsamkeit in der Großstadt. So etwas triggert nicht, ganz im Gegenteil: Da fühlen sich Menschen an einer Stelle gesehen.
Daher würde ich immer Bilder wählen, mit denen man jemanden emotional abholen kann. Und mit denen man generell eine Idee davon vermittelt, wie es den Leuten geht, die bei uns anrufen. Ich persönlich finde es immer schön, wenn man eine gewisse Hoffnung in den Bildern findet. Damit ist klar: Hey, wenn du anrufst, ist das ein erster Schritt aus deiner Situation heraus. Das wäre so meine Empfehlung. Die Menschen wollen auch nicht immer nur mit dem Trüben konfrontiert werden, sondern möchten auch gerne eine Idee von Hoffnung haben.
Fotografie: Manuel Puhl, aus der Serie „Where Strangers Meet“
Spendenkonto des Telefonseelsorge Berlin e.V.:
Bank für Sozialwirtschaft
IBAN: DE33 3702 0500 0001 6432 03
BIC: BFSWDE33XXX
Verwendungszweck: „Spende”
Weitere Informationen, auch zu alternativen Zahlungsmethoden, auf der Website des Telefonseelsorge Berlin e.V.
Mehr von der Telefonseelsorge Berlin:
instagram.com/telefonseelsorge.berlin.ev
telefonseelsorge-berlin.de
Interview & Text: Jonas Meyer
Fotografie: Manuel Puhl
Klara Lange
Interview — Klara Lange
»Ich hab‘ Bock auf Happy End!«
Tacos und Tacheles: Im Berliner Restaurant »Taco & Gringo« treffen wir Schauspielerin Klara Lange, die aktuell in der vierten Staffel von »Die Discounter« mit ihrem komödiantischem Timing glänzt. Klara zeigt sich nicht nur als talentierte Schauspielerin, sondern auch als inspirierende Stimme für Diversität und kreative Freiheit in der deutschen Film- und Fernsehlandschaft. Ein Gespräch über Haltung, Supermärkte und Improvisation als wahre Schätze ihrer Karriere. Und über Figuren, die auf der Suche nach sich selbst auch mal scheitern, aber am Ende das Gute und Helle finden.
16. Dezember 2024 — Interview & Text: Niklas Cordes, Fotografie: Moritz Högemann
Vom kleinen Dorf in Niedersachsen hin zu einer vielversprechenden Karriere – Schauspielerin Klara Lange hat einen beeindruckenden Weg hinter sich. Bekannt wurde die 26-Jährige durch ihre Hauptrolle in der Amazon-Prime-Mockumentary „Die Discounter“, in der sie mit Improvisationstalent und authentischem Spiel überzeugt.
Doch Klara ist weit mehr als Pina aus der Serie: Im Interview spricht sie über ihre Anfänge, die Herausforderungen am Set und ihre Leidenschaft für inklusive Projekte. Dabei gewährt sie auch tiefe Einblicke in ihre Arbeit, erzählt von magischen Momenten und verrät, welche Visionen sie für ihre Zukunft hat – sowohl vor als auch hinter der Kamera: vom Traum einer offenen, warmherzigen Film- und Fernsehwelt, die Diversität und Authentizität feiert.
»Ich wollte unbedingt in Filmen spielen, die ich aus meiner Jugend kannte.«
MYP Magazine:
Klara, wie bist Du zur Schauspielerei gekommen?
Klara Lange:
Es war tatsächlich immer mein Wunsch. Ich bin in einem kleinen Dörfchen in Niedersachsen aufgewachsen, hatte aber das große Glück, dass meine Mutter ein Studio für modernen Tanz und Gesundheitssport hatte. Mit vier Jahren habe ich dort angefangen zu tanzen. Irgendwann kam ein Schauspiellehrer ins Studio – und ich habe gemerkt, dass Schauspiel meine große Leidenschaft ist. Ich dachte: Okay, spätestens nach dem Abi muss ich es irgendwie schaffen, das zu meinem Beruf zu machen.
MYP Magazine:
Das heißt, die Bühne des Jugendtheaters wurde Dir zu klein?
Klara Lange:
Ich wollte unbedingt in Filmen spielen, die ich aus meiner Jugend kannte: „Die wilden Hühner“, „Freche Mädchen“ und so weiter. Und nach dem Abitur hat es ja mit der Schauspielschule in Hamburg geklappt…
MYP Magazine:
… und auch beruflich ging es gleich richtig los, mit Deiner ersten Hauptrolle in „Die Discounter“. Hast Du dich darauf besonders vorbereiten müssen?
Klara Lange:
Diese Rolle kam wie aus dem Nichts – in einem Jahr, in dem wirklich sehr, sehr wenig ging wegen Corona – und dann auch noch in einer improvisierten Serie.
»Du musst dich in eine ungewisse Situation reinfallen lassen. Im besten Falle als Gruppe.«
MYP Magazine:
Wieviel von „Die Discounter“ ist improvisiert?
Klara Lange:
Inhaltlich steht fest, was passieren soll. Die Dialoge allerdings sind komplett frei. Das ist eine große Freiheit, macht aber auch ein bisschen Angst. Ich hatte vor dem ersten Drehtag großen Respekt, weil ich nicht mal einen Text zum Auswendiglernen hatte, an dem ich mich festhalten konnte. Also habe ich mich selbst darauf vorbereitet, indem ich einen Tag in einem Supermarkt mit einer stellvertretenden Filialleiterin verbracht habe: Ich habe sie begleitet und erst mal viel beobachtet. So bin ich in den ersten Drehtag zwar ohne Text gestartet, aber dafür mit einem großen Schatz an Figurenbackground, viel Motivation und Vertrauen, dass am Ende alles gut werden wird. Und es hat funktioniert.
MYP Magazine:
Eine harte Schule.
Klara Lange:
Improvisation ist der beste Weg, sich der Schauspielerei zu nähern. Du brauchst kein Drehbuch, um eine Situation zu erschaffen, und gleichzeitig wird gesagt, dass das die Königsdisziplin sei. Fakt ist: Du musst dich in eine ungewisse Situation reinfallen lassen. Im besten Falle als Gruppe.
MYP Magazine:
Was ist der größte Unterschied zwischen Theater und dem Filmset?
Klara Lange:
Anders als am Theater, wo du diesen wunderschönen Probenprozess von vier bis sechs Wochen hast, andere Ideen und Impulse raushauen kannst, gibt es beim Drehen am Set weniger Spielraum, was das Ausprobieren angeht.
»Mit den Staffeln sind Pina und ich immer ein bisschen mehr miteinander verschmolzen.«
MYP Magazine:
Pina ist eine Figur, die heraussticht. Wieviel Klara steckt in Pina?
Klara Lange:
Ich glaube, die Prozentzahl an Überschneidungen ist von Staffel zu Staffel gestiegen. Hätte ich während der ersten Staffel noch gesagt, da steckt gar nicht so viel Klara in Pina, sehe ich das jetzt im Nachhinein anders. Alles, was da aus mir kam, muss vorher schon irgendwo in mir gesteckt haben. Ich glaube, mit den Staffeln sind Pina und ich immer ein bisschen mehr miteinander verschmolzen. Aber es gibt auch einiges, was ich mir persönlich an Pina abschaue.
MYP Magazine:
Zum Beispiel?
Klara Lange:
Klar hinter den Glaubenssätzen und Dingen zu stehen, für die man brennt und die man sich ersehnt. Pina hat einen ganz klaren Plan, der vielleicht spießig rüberkommt. Aber sie weiß, was sie will. Das mag ich.
MYP Magazine:
Pina ist einerseits eine Anführerin, anderseits eine Person, die emotional auf der Suche ist.
Klara Lange:
Was ihren beruflichen Werdegang angeht, hat sie ein klares Ziel. Gleichzeitig ist sie auf der privaten Ebene total auf der Suche nach besten Freunden und Anerkennung im Beruf.
»Die schönsten Geschichten, die uns bewegen oder die wir zeigen wollen, haben wir selbst in unseren Köpfen.«
MYP Magazine:
Wie stark würdest Du Pina mit Deiner Rolle der Cora aus der Youtube-Serie „Crème de la Crème“ vergleichen?
Klara Lange:
Ich glaube, Pina und Cora sind sehr unterschiedliche Figuren. Aber beide zeichnen sich durch eine gewisse Verwirrtheit aus und versuchen, Ankerpunkte zu finden – zum Beispiel in Personen. Cora aber ist eine Person, die auch ihre Emotionen viel deutlicher rauslässt. Und die, anders als Pina, anderen Menschen spiegelt, wenn etwas nicht in Ordnung war.
MYP Magazine:
Eure Youtube-Serie entstand in Eigenregie…
Klara Lange:
… ja, weil ein Freund und ich es satt hatten, auf Jobangebote von außen zu warten. Die schönsten Geschichten, die uns bewegen oder die wir zeigen wollen, haben wir selbst in unseren Köpfen. Wir mussten einfach mal was machen. Und so ging es los. Das war wirklich das Beste, was wir hätten machen können. Dadurch habe ich damals auch meinen jetzigen Schauspielagenten kennengelernt. Es war also nicht erst die Hauptrolle Pina, bei der ich ganz anderen Seiten von mir zeigen konnte, sondern das eigene Projekt.
»Ich habe dieses ganze Discounter-Set ohnehin immer als Abenteuerspielplatz wahrgenommen.«
MYP Magazine:
„Die Discounter“ endet mit der vierten Staffel. Gibt es besondere Drehmomente, die bleiben?
Klara Lange:
Ich nehme zwei Dinge mit: Eines ist positiv, das andere gilt es zu verarbeiten: Ich habe die größte Freiheit und Spaß in den Gruppenszenen genossen. Ich weiß nicht genau, woran es liegt – vielleicht, weil da noch mal so eine ganz, ganz andere Dynamik entsteht. Es wird sehr viel gelacht, es wird sehr viel unterbrochen. Das kann auch anstrengend sein, aber es entstehen so viele Spielimpulse. Ich habe dieses ganze Discounter-Set ohnehin immer als Abenteuerspielplatz wahrgenommen – schon als Kind hat es mir am meisten Spaß gemacht, wenn alle anderen Kinder ebenfalls auf dem Spielplatz waren.
Besonders ist mir die letzte Gruppenszene in Erinnerung geblieben, in der wir die Jahre noch mal Revue passieren lassen. Das war auch sehr traurig, da waren definitiv nicht nur Tränen von Pina dabei. Es ist schon krass, was wir in den letzten vier Staffeln erschaffen haben. Aber auch, wie schön wir als Menschen hinter der Kamera miteinander umgegangen sind. Von Anfang an war da einfach ein schönes Miteinander.
»Ich erwarte noch eine kleine Gefühlsachterbahn nach der Ausstrahlung.«
MYP Magazine:
Welches Auge ist größer, das lachende oder das weinende?
Klara Lange:
Im ersten Moment war es natürlich ein kleiner Schock, als ich gehört habe, dass Staffel 4 die vorerst letzte sein wird. Aber ich habe schnell umgedacht. Ich glaube, es ist gut so, wie es ist: aufzuhören, bevor es irgendwann unabsichtlich an Spannung und Ideen für weitere Geschichten fehlt. Ich habe jetzt wieder Zeit für andere Projekte und Inspiration. Darauf freue ich mich. Allerdings erwarte ich noch eine kleine Gefühlsachterbahn nach der Ausstrahlung.
MYP Magazine:
Du schaust dir die Folgen also auch selbst an?
Klara Lange:
Das ist das erste Projekt von mir, dass ich sehr gut anschauen kann. Ich wäre auch ein riesiger Fan der Serie, wenn ich nicht Teil davon wäre.
»Wir müssen uns im Moment der Improvisation vertrauen, damit dieser Humor funktionieren kann.«
MYP Magazine:
Ihr hattet tolle Gaststars. Wer war Dein Favorit?
Klara Lange:
Mats Hummels war sehr toll und sympathisch und hatte Lust auf Improvisation – und hat sich gerne mal von einer anderen Seite gezeigt. Allerdings hatte ich oft das Pech, dass ich nicht in den Szenen mit den Gaststars war und ich die daher sehr oft verpasst habe. Zum Beispiel Peter Fox, den ich gerne kennengelernt hätte.
MYP Magazine:
Du hast die gute Stimmung am Set erwähnt. Was war das Magische?
Klara Lange:
Wir hatten alle unglaublich viel Glück mit Ensemble und Crew, der Umgang war sehr liebevoll. Wir müssen uns im Moment des Spielens, der Improvisation vertrauen, damit dieser Humor funktionieren kann. Ich bin heilfroh darüber, denn ich kenne genug Geschichten von Kolleginnen, die an Sets kommen, an denen die Stimmung gar nicht gut ist. Und das hatte ich bei „Die Discounter“ zu keinem Zeitpunkt.
»Das ist ein Punkt, auf den wir in unserer Serie sehr aufgepasst haben: uns nicht über die Figuren lustig zu machen.«
MYP Magazine:
Pina hat einige ungewöhnliche Hobbys, Stichwort Hobby Horsing. Wie war das für Dich?
Klara Lange:
Ich wollte es gar nicht unbedingt perfekt machen, daher habe ich mir nicht so viele Tutorials angeschaut. Trotzdem ging es mir darum, authentisch darzustellen, dass man so ein absurdes Hobby haben kann. Dabei ist der Fakt, dass man mit einem Pferd zwischen den Beinen durch den Tag rennt, schon absurd genug. Daher muss man aufpassen, dass man es dann nicht zu sehr ins Lächerliche zieht. Das ist auch generell ein Punkt, auf den wir in unserer Serie sehr aufgepasst haben: uns nicht über die Figuren lustig zu machen. Das wollten wir zu keinem Zeitpunkt.
»Ein Zuschauer meinte mal, dass er und seine Frau ihre Tochter nach meiner Figur benannt hätten.«
MYP Magazine:
Gibt es zu Deiner Rolle ein besonderes Feedback von Fans?
Klara Lange:
Die Leute sind oft überrascht, dass ich nicht so bin wie Pina: verklemmt, bieder oder so, wie man es aus der Serie kennt – auch wenn das nur eine Seite meiner Rolle ist. Ich glaube, das liegt daran, dass wir alle scheinbar unsere Charaktere sehr authentisch spielen.
Daneben gibt es auch wirklich krasse Rückmeldungen. Die erhalte ich vor allem über Social Media, etwa von Leuten, die mir sagen: „Ich habe euch, eure Crew oder deine Rolle so liebgewonnen, dass ihr mir durch wirklich dunkle Zeiten meines Lebens geholfen habt.“ Das sind die Momente, die mir wirklich im Kopf bleiben. Ein Zuschauer meinte mal, dass er und seine Frau ihre Tochter nach meiner Figur benannt hätten. Das war für mich wirklich bewegend.
»Ich überlege, wie ich Themen ansprechen kann, die mir am Herzen liegen.«
MYP Magazine:
Ist Social Media für dich als Jungschauspielerin ein wichtiges Werkzeug, oder eher nebensächlich?
Klara Lange:
Vor „Die Discounter“ habe ich Social Media eher normal und alltäglich genutzt: nicht viel gepostet, und das in unregelmäßigen Abständen. Hauptsächlich habe ich konsumiert. Mit der ersten Staffel hat sich das verändert. Plötzlich kamen viele Follower*innen dazu und ich dachte: Okay, jetzt schauen Menschen auch auf meinen privaten Account und interessieren sich für die private Klara.
Das hat mich dazu gebracht, mein privates Profil ein bisschen anders zu gestalten. Ich poste gerne meine Projekte. Aber ich habe auch gemerkt: Mir folgen mittlerweile über 20.000. Für mich sind das sehr viele Menschen. Da habe ich mich gefragt: Sollte ich das jetzt nicht auch für andere Zwecke nutzen? Statt nur Urlaub und Filmprojekte zu teilen, überlege ich, wie ich Themen ansprechen kann, die mir am Herzen liegen oder die ich unterstützen möchte.
»Es geht mir vor allem darum, anderen die Angst zu nehmen.«
MYP Magazine:
Welche Themen wären das?
Klara Lange:
Ich bin zum Beispiel seit Kurzem Botschafterin für eine Initiative, die Schauspieler*innen mit Behinderungen unterstützt: „Rollenfang“ ist die erste Agentur in Deutschland, die Schauspieler*innen mit Behinderung vertritt und sich gleichzeitig auch für mehr Inklusion hinter der Kamera einsetzt. Sie fordern neue Gesetze, klären auf, und ich hatte bereits das Glück, mehrere Projekte mit Menschen aus dieser Agentur zu realisieren.
Das hat mich inspiriert, meine Reichweite zu nutzen. Ich denke, es gibt so viele Themen, für die man sich engagieren kann. Ich habe einfach Lust, da etwas zu bewegen, weil ich in diesen Projekten so viel gelernt habe. Es geht mir vor allem darum, anderen die Angst zu nehmen. Viele Filmproduktionen scheuen sich, inklusiver zu arbeiten, weil sie keine Erfahrung damit haben. Sie denken, es könnte mehr Geld kosten oder mehr Zeit in Anspruch nehmen. Aber ich möchte zeigen, dass es sich lohnt und einfach bereichernd ist.
»Es ist einfach bereichernd, wenn man alle mit einbezieht, und eröffnet einen ganz neuen Schatz an Geschichten.«
MYP Magazine:
Gibt es noch einen anderen Grund, warum Du dich für dieses Thema entschieden hast?
Klara Lange:
In erster Linie aufgrund meiner Erfahrung. Mein erster inklusiver Kurzfilm war ein Workshop, bei dem ich gemerkt habe, dass ich vorher wenig bewusste Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderungen hatte. An meinen Arbeitsplätzen war das bislang nie ein Thema. Am Anfang hatte ich selbst Berührungsängste, aber das hat sich sehr schnell geändert. Ich habe gelernt, offen auf Menschen zuzugehen und neue Geschichten kennenzulernen.
Ich glaube, die Filmbranche generell befindet sich gerade in einer Umbruchphase – und das ist wichtig. Es ist einfach bereichernd, wenn man alle mit einbezieht, und eröffnet einen ganz neuen Schatz an Geschichten. Ich denke da an Projekte aus Amerika, die zeigen, wie inklusive Storys mehr Tiefgang haben können. Aber auch in Deutschland gibt es da noch viel Potenzial. Die Darstellung von Figuren mit Behinderungen in Filmen ist oft sehr klischeehaft. Häufig werden sie auf stereotype Rollen reduziert: Sie dürfen dann nur ein paar Worte sprechen oder werden als reine Nebenfiguren dargestellt. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Es gibt so viel Potenzial, diese Geschichten anders und authentischer zu erzählen. Das möchte ich weiter unterstützen.
»Filme, die durch besondere Ästhetik oder Geschichten auffallen, inspirieren mich.«
MYP Magazine:
Welche Menschen inspirieren Dich noch?
Klara Lange:
Es gibt Schauspieler*innen, die mich sehr beeindrucken. Sandra Hüller ist zum Beispiel eine Person, die mich mit ihrer schauspielerischen Leistung unglaublich inspiriert. Ich verfolge ihre Karriere schon seit Jahren. Zwar bin ich niemand, der extremen Fan-Kult betreibt oder sich jede Produktion anschaut. Aber es gibt immer wieder Momente, in denen mir ihre Arbeit in den Sinn kommt und mich tief beeindruckt.
Auch Filme, die durch besondere Ästhetik oder Geschichten auffallen, inspirieren mich. „All My Loving“ mit Lars Eidinger war zum Beispiel ein Film, der mich sehr bewegt hat. Und was Serien angeht, bin ich ein riesiger Fan von „Sherlock“. Das ist meine absolute Lieblingsserie, weil sie so intelligent und spannend gemacht ist.
MYP Magazine:
Du machst auch Musik mit dem Bandprojekt Kata Kaze. Ist dies weiterhin ein Teil Deines Lebens?
Klara Lange:
Definitiv – aber nur, wenn ich Zeit dafür habe. Die Musik begleitet mich schon mein ganzes Leben. Musik ist für mich ein kreativer Ausgleich. In ruhigeren Phasen oder wenn ich auf Rückmeldungen von Castings warte, ist es etwas, das ich immer machen kann. Ich mache gerne Musik mit Freunden, aber tatsächlich genieße ich es auch, einfach alleine zu Hause zu singen oder Texte zu schreiben. Ich würde gerne wieder Gitarre spielen lernen, aber momentan fehlt mir noch die Motivation. Trotzdem kann ich stundenlang einfach vor mich hin singen und neue Melodien entwickeln – manche davon nur für den Moment, andere vielleicht für die Zukunft.
»Das ist schon ein anderes Drama im Vergleich zu meinen bisherigen Rollen.«
MYP Magazine:
Gibt es aktuell neue Projekte, auf die Du dich freust?
Klara Lange:
Ja, auf jeden Fall! Am 26. Dezember läuft ein neuer Tatort, in dem ich mitspiele: „Made in China“. Die Grundprämisse: Eine blutverschmierte junge Frau steht vor einem Asia-Markt, sagt, sie habe jemanden umgebracht und wird zu Boden gebracht. Das ist schon ein anderes Drama im Vergleich zu meinen bisherigen Rollen. Aber lustigerweise spielt auch dieser Tatort teilweise wieder in einem Supermarkt. Es scheint, als würden sich Supermärkte durch meine Rollen ziehen.
»Ich finde es spannend, wenn man mehr mit Blicken und weniger mit Worten erzählen kann.«
MYP Magazine:
Was ist Dein Traum für die Zukunft?
Klara Lange:
Mein großer Traum ist es, irgendwann an einem Projekt zu arbeiten, bei dem man sich richtig viel Zeit für die Szenen nimmt. Im Moment arbeite ich oft an schnellen Produktionen mit kurzen Szenen und schnellen Schnitten. Aber ich würde gerne Filme machen, die sich durch ruhige, poetische Bilder und eine kunstvolle Kameraführung auszeichnen. Ich finde es spannend, wenn man mehr mit Blicken und weniger mit Worten erzählen kann. Das wäre für mich ein Traumprojekt.
Und wenn ich mir eine Traumrolle aussuchen könnte, würde ich gerne jemanden spielen, der auf den ersten Blick laut, offen und vielleicht etwas unbequem ist. Aber diese Person hätte eine tiefere, verletzliche Seite, die sie im Laufe der Geschichte zu verstehen versucht. Ich mag Figuren, die auf der Suche nach sich selbst auch mal scheitern oder in dunklere Ecken geraten, aber am Ende das Gute und Helle finden.
MYP Magazine:
Also braucht es das Happy End, um episch zu werden?
Klara Lange:
Ich hab‘ schon Bock auf ein Happy End! Und ich will in einer bunten, offenen, warmherzigen Film- und Fernsehlandschaft arbeiten – die nicht verurteilt, sondern mit dem Herzen hinhört. Das wünsche ich mir. Auch über die Grenzen des Berufs hinaus.
»Die Discounter« Staffel 4, abrufbar auf Amazon Prime Video.
Mit besonderem Dank an das Restaurant Taco & Gringo in Berlin-Mitte.
Mehr von Klara Lange:
Interview & Text: Niklas Cordes
Fotografie: Moritz Högemann
Chiara Fleischhacker
Interview — Chiara Fleischhacker
»Sucht kommt nicht aus dem Nichts – bei niemandem«
»Vena«, der Debütfilm von Chiara Fleischhacker, erzählt die Geschichte der jungen Mutter Jenny, die zum zweiten Mal schwanger ist und dabei weiter Crystal Meth konsumiert. Mit ihrem Drama beleuchtet die Regisseurin nicht nur ein stark stigmatisiertes Milieu unserer Gesellschaft. Sie hinterlässt auch einen atemberaubend starken und bleibenden Eindruck beim Publikum. Ein Gespräch über den gesellschaftlichen Umgang mit Suchtkranken, Alleinerziehende im Filmgeschäft und ungeborene Kinder, die im Gefängnis für die Schuld ihrer Mütter büßen.
29. November 2024 — Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten
Jenny ist drogenabhängig, schwanger und hat bereits ein Kind. Es darf nicht mehr bei ihr leben, sondern wird von Jennys Mutter betreut, zu der das Verhältnis ambivalent ist. Der Vater des Babys in ihrem Bauch ist ebenfalls Konsument. Und auch wenn da eine Liebe ist zwischen den beiden Abhängigen: Die Sucht nimmt ihnen die Möglichkeit, wirklich aneinander zu wachsen und sich eine Zukunft aufzubauen. Dazu kommt, dass Jenny auch noch eine Haftstrafe antreten soll.
In dieser scheinbar aussichtslosen Situation findet sie in der vom Amt verordneten Hebamme eine neue Vertraute, die sie als den Menschen sieht, der sie im Kern ist. Trotz des anfänglichen Misstrauens scheint die Solidarität zwischen den beiden Frauen wie ein Licht in tiefster Dunkelheit.
All das erzählt Regisseurin Chiara Fleischhacker mit einer dokumentarischen Authentizität, die die Zuschauenden schlichtweg vergessen lässt, dass sie hier ein Stück Fiktion konsumieren. Verwurzelt ist dieser Erfolg unter anderem in zahlreichen Gesprächen und akribischen Recherchen. Dabei beobachtete sie auch Gerichtsverhandlungen, in denen Frauen wegen Straftaten angeklagt wurden, die oft im Zusammenhang mit Suchterfahrungen standen.
Im Interview teilt Chiara Fleischhacker – die die Idee zum Film übrigens hatte, als sie zu Pandemiezeiten mit ihrer Tochter im Wochenbett lag – mit uns ihre Gedanken zu Mutterschaft, Strafe und gesellschaftlicher Verantwortung.
»Ich habe meinen Selbstwert in den letzten Jahren Stück für Stück wieder aufgebaut.«
MYP Magazine:
Chiara, in was für einer Welt bist Du aufgewachsen? Hat Dein Herkunftsmilieu irgendeine Verbindung zu Jenny?
Chiara Fleischhacker:
Aufgewachsen bin ich in der kleinen Stadt Zierenberg in Hessen, direkt an Feldern, Hügeln und Wäldern. Da war nichts außer Natur – also ganz anders als der Ort, an dem „Vena“ spielt. Mit dem Gymnasium in Kassel kam allerdings eine andere Welt in mein Leben: mit Glitzer, grellen Farben und viel Make-up. Diese Welt wurde allerdings hart erstickt, als ich auf ein Sportinternat kam. Ein Freund meinte mal, dass ich in „Vena“ die Glitzer-Seite in mir wieder hochgeholt habe.
MYP Magazine:
Welche Motive und Erfahrungen, vielleicht auch Schicksalsschläge, wirken besonders auf Deinen kreativen Output ein?
Chiara Fleischhacker:
Oh, das ganze Leben und sicherlich viele Menschen, denen ich begegnet bin. Es gab sehr unterschiedliche Abschnitte in meinem Leben. Freiheit spielte in meiner Kindheit, aber auch heute noch eine große Rolle – die innere Freiheit sowie die äußere. Wir sind als Kinder unbeaufsichtigt kilometerweit draußen in der Natur herumgestreunt. Das Internat – mit seinem Anspruch an schulische und athletische Leistung – war für mich ab der 8. Klasse der komplette Kontrast dazu. Durch verschiedene Essstörungen habe ich ab der Sportschule meinen Selbstwert zerschossen, den ich in den letzten Jahren Stück für Stück wieder aufgebaut habe. Ein sehr markanter Einschnitt.
Ähnlich prägend waren zudem die Dokumentarfilme, die ich im Strafvollzug gedreht habe – sie haben mein Menschenbild stark verändert. Aber am prägendsten war es wohl für mich, Mutter einer sehr selbstbewussten Tochter zu werden und das Patriarchat sowie die Limitierungen als Frau und mittlerweile alleinerziehende Mutter zu spüren. Hier schließt sich der Kreis und ich komme zurück zum Motiv der Freiheit, das mich antreibt.
»Stigmata helfen uns vielleicht im Alltag, aber sie nehmen uns auch die Möglichkeit, die Schönheit eines Menschen zu erkennen.«
MYP Magazine:
Dein Film „Vena“ erzählt die Geschichte einer werdenden Mutter, die drogenabhängig ist. Was hat Dich inspiriert, ein derart schwieriges Thema aufzugreifen?
Chiara Fleischhacker:
Ich bin in den Stillpausen oft zu Gerichtsverhandlungen nach Erfurt gefahren, in denen Frauen angeklagt waren. Durch meine Recherchen sah ich: Ihre Straftaten fanden häufig in Kombination mit einer Suchterfahrung statt, in meiner Region war das meistens Crystal Meth. Ich fand es für die Figur Jenny spannend, dass sie bereits einen wichtigen Prozess – den Entzug und die Selbstakzeptanz – durchläuft, bevor sie in Haft ihre Tochter zur Welt bringt.
Diese Situation wirft Fragen zur Bindung auf. Und ich wollte es schaffen, einer Frau wie Jenny auf Augenhöhe zu begegnen, trotz ihres Konsums in der Schwangerschaft und ohne sie zu bewerten. Stigmata helfen uns vielleicht im Alltag, aber sie nehmen uns auch die Möglichkeit, die Schönheit eines Menschen zu erkennen. Hinzu kommt, dass ich Sucht aus eigener Erfahrung als sehr mächtiges Thema empfinde, dem man sich häufig immer noch mit einer Haltung nähert, die das Verständnis von Sucht minimiert statt maximiert.
»Für mich als alleinerziehende Mutter war es praktisch unmöglich, diese Anforderungen umzusetzen.«
MYP Magazine:
Was waren die größten Herausforderungen bei der Umsetzung?
Chiara Fleischhacker:
Davon hatten wir auf der ganzen Strecke etliche. Zunächst gab es Probleme mit der Förderung. Dann kam zum Glück Stefanie Groß vom SWR. Damit ging aber auch der Wunsch des Senders einher, die Geschichte in Baden-Württemberg zu erzählen. Für mich als alleinerziehende Mutter, die in Erfurt lebt, war es praktisch unmöglich, diese Anforderungen umzusetzen. Wir mussten ständig nach neuen Lösungen suchen, das war sehr kräftezehrend. Ich habe die Themen oft mit in den Schlaf genommen und viel nachts gearbeitet – und das in einer Situation, in der meine Tochter anfangs noch nicht in der Kita war.
»Den überladenen Drehplan haben wir alle mit unserer körperlichen und psychischen Gesundheit bezahlt.«
MYP Magazine:
Verlief wenigstens der Dreh reibungslos?
Chiara Fleischhacker:
Wir hatten am Ende ein gutes Budget, aber kurz vor Drehbeginn hieß es, dass die Kosten zu hoch wären. Also musste ich eine Woche vor der ersten Klappe das Drehbuch einkürzen. Wir sind am Ende dennoch mit einem viel zu überladenen Drehplan in die Produktion gegangen. Das haben wir alle mit unserer körperlichen und psychischen Gesundheit bezahlt, was schließlich – auch durch Corona – zu einem Drehabbruch geführt hat: Vollbremsung einer dampfenden Lokomotive! Erst Monate später und nur dank der Unterstützung eines Au-pairs für meine Tochter und mich konnten wir mit einem entschlackten Drehplan wieder einsteigen. Das war eine heilsame Erfahrung, sonst würde ich wahrscheinlich nie wieder drehen wollen.
»Wir haben einen der stärksten deutschen Kinofilme der letzten Jahre produziert und wurden von der internationalen Branche komplett ignoriert.«
MYP Magazine:
Und wie stand es mit der Postproduktion?
Chiara Fleischhacker:
Auch diese war wieder eine Herausforderung, da viele Schritte nicht in Erfurt umgesetzt werden konnten. Das bedeutete erneut viel Fremdbetreuung für meine Tochter. Die größte, letzte Herausforderung war die Festival-Auswertung: Wir haben einen der stärksten deutschen Kinofilme der letzten Jahre produziert und wurden von der internationalen Branche komplett ignoriert. Ich finde, das wirft Fragen auf. Hat es mit dem starken Frauenbild in „Vena“ zu tun oder mit dem deutschen Film? An der Qualität kann es nicht liegen…
MYP Magazine:
…das können wir bestätigen. Für was steht der Titel „Vena“ eigentlich?
Chiara Fleischhacker:
Über die vena umbilicalis, die Nabelschnurvene, wird der Fötus mit sauerstoffreichem Blut und Nährstoffen versorgt und damit eine direkte Verbindung zwischen Mutter und Kind hergestellt – die engste Verbindung ihres Lebens. Das Kind ist abhängig von seiner Mutter. Ihr Blut kann es sowohl nähren als ihm auch schaden. Die vena umbilicalis ist ein Sinnbild für das menschliche Bedürfnis nach Bindung, das in gute und schlechte Abhängigkeiten münden kann.
»Es war keine Option, eine ideale Mutter darzustellen, denn die gibt es nicht.«
MYP Magazine:
Deine Hauptfigur Jenny ist komplex und innerlich zerrissen. War es Dir wichtig, Mutterschaft abseits der idealisierten Bilder zu zeigen?
Chiara Fleischhacker:
Defintiv, wobei mir vor allem wichtig war, ein realistisches Bild von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zu zeichnen. Es war keine Option, eine ideale Mutter darzustellen, denn die gibt es nicht. Wenn man sich mit der mystifizierten und idealisierten Mutterrolle beschäftigt, die in Deutschland noch sehr dominant ist, dann ist es erschreckend zu sehen, in welcher Zeit diese entstanden ist und wem sie dienlich ist. Uns Frauen auf jeden Fall nicht.
Bindung hingegen ist ein wahnsinnig wichtiges Element – und die bestimmt unser aller Leben stetig. Eine gesunde Bindung zum eigenen Kind aufzubauen und dabei nicht fehlerfrei als Elternteil zu agieren, schließt sich nicht aus. Unsere Schuldgedanken als Mütter halten uns oft davon ab, unsere eigenen bedeutenden Ziele im Leben zu verfolgen. Und das tut niemandem gut. Uns nicht, unseren Kindern nicht und auch den Partnerschaften nicht.
»Bei meiner Recherche habe ich von Wartezeiten in Entgiftungseinrichtungen erfahren, die trotz Schwangerschaft unglaublich lang sind.«
MYP Magazine:
Die Beziehung zwischen Jenny und der Familienhebamme Marla entwickelt sich auf überraschende Weise. Wolltest Du mit dieser Dynamik die Bedeutung sozialer Unterstützungssysteme hervorheben, wie sie von Hebammen und Sozialarbeiter*innen geleistet wird?
Chiara Fleischhacker:
Mir war es eher wichtig, zwei Welten zu verbinden, die wir in unseren Köpfen oft trennen, und mit Marla eine Figur zu erschaffen, die Jenny auf ihre eigene Weise erreicht. Unkonventionell, teils sogar unprofessionell, aber menschlich. Damit einher geht aber auch die Relevanz der Hilfesysteme und vor allem auch der Fakt, dass Hebammen viel mehr Arbeit tragen, da das Hilfesystem nicht komplex genug ist. Oder nicht niederschwellig genug. Bei meiner Recherche habe ich von Wartezeiten in Entgiftungseinrichtungen erfahren, die trotz Schwangerschaft unglaublich lang sind. Wenn man als Gesellschaft ernsthaft mentale Gesundheit fördern wollte, und das ist ja nicht nur ein sozialer Gedanke, gäbe es mehr Möglichkeiten für soziale Träger und Einrichtungen.
»Es braucht im pädagogischen Bereich Orte, die Kinder stärken und sie wertvoll fühlen lassen.«
MYP Magazine:
Wie denkst Du über den Umgang mit drogenabhängigen Eltern wie Jenny und ihrem Freund Bolle?
Chiara Fleischhacker:
Wir müssten alle besser an Psychotherapien gelangen, um unsere Bindungsthemen zu bearbeiten – und um damit wiederum Kinder so in die Welt begleiten zu können, dass sie sich sicher und eigenständig fühlen. Allein mit dieser Grundlage wäre man schon mal weniger anfällig für eine Suchterkrankung. Dazu gehört auch, Menschen wie Jenny und Bolle nicht zu stigmatisieren, sondern sich mit ihren Biografien und Prägungen zu befassen.
Sucht kommt nicht aus dem Nichts – bei niemandem. Und wenn wir durch unsere Prägungen mit einem geringen Selbstwert in die Welt geschickt werden, braucht es im pädagogischen Bereich Orte, die Kinder stärken und sie wertvoll fühlen lassen. Letzte Woche war ich bei einem Jugendhaus-Zirkus in einem Plattenbauviertel in Erfurt. Das war so wundervoll und so wichtig. Die Kids haben zwar Fehler gemacht, dennoch wurden sie von allen gefeiert. So ein Verhalten kann Veränderungen bringen. Am Ende haben Menschen hoffentlich die Kraft, sei es mit Hilfe von innen oder außen, sich von den Personen zu lösen, die ihnen die Energie rauben – um sich für ein Leben zu entscheiden, dass sie bestärkt und ihnen Kraft gibt.
»Wer genau hinsieht, beobachtet überall diesen Kontrast zwischen Zärtlichkeit und Verderben.«
MYP Magazine:
„Vena“ schafft es, die Figuren als liebevolle und empathische Menschen zu zeigen. Wie findest Du in Deiner Regiearbeit die Balance zwischen emotionaler Intensität und Zärtlichkeit?
Chiara Fleischhacker:
Das werde ich oft gefragt, kann ich aber nur schwer beantworten. Ist das nicht generell das Leben? Ich persönlich empfinde das Leben immer als Kontrast, gerade das macht es auch so spannend und realistisch. Durch Filme denken wir wahrscheinlich, dass es in Justizvollzugsanstalten oder in Partnerschaften, in denen Konsum stattfindet, nur Härte und Rauheit gibt. Wir sind da in unserer Wahrnehmung einfach sehr versaut – und zwar durch unsaubere Arbeit in Filmen. Wer genau hinsieht, beobachtet überall diesen Kontrast zwischen Zärtlichkeit und Verderben. Und der ermöglicht automatisch Empathie.
»In unserer Gesellschaft setzt der Selbstwert von uns Frauen sehr niedrig an.«
MYP Magazine:
In „Vena“ geht es darum, dass Veränderung auch in ausweglosen Situationen möglich ist. Glaubst Du, dass Filme wie Deiner nicht nur berühren, sondern auch echte gesellschaftliche Veränderungen anstoßen können?
Chiara Fleischhacker:
Das würde ich mir ganz, ganz stark wünschen. Was Jenny verhandelt, ist im Kern ein universelles Thema, vor allem für uns Frauen: sich selbst zu akzeptieren, für sich einzustehen und sich in gesunde Umgebungen zu begeben. In unserer Gesellschaft setzt der Selbstwert von uns Frauen sehr niedrig an. Das fängt schon mit den Kinderbüchern an, in denen die Prinzessinnen auf ihre Prinzen warten und fast alle Frauen dünn sind. Aber auch der männliche Part, Bolle, ist in seiner Zerrissenheit und Zärtlichkeit für viele Zuschauer*innen eine spannende Figur.
Davon abgesehen ist in unserer Branche das Nischendenken immer noch eine große Hürde. Teilweise erreichen die Filme gar nicht die Menschen, bei denen sie irgendeine Art von Veränderung anstoßen könnten. Das Arthousekino bewegt sich weiterhin nur innerhalb seiner Grenzen, was es aber gar nicht müsste. Mich würde interessieren, was mit Arthouse-Filmen passieren würde, wenn man sie wie kommerzielle Produktionen vermarkten könnte.
»In Haft büßt das ungeborene Kind für die Schuld der Mutter mit.«
MYP Magazine:
Dein Film behandelt gesellschaftlich relevante Themen wie etwa das Versagen von Behörden oder die Dynamik ko-abhängiger Beziehungen. Welche Rolle spielt Gesellschaftskritik in Deiner Arbeit? Und Wo siehst du die Grenzen des Films als Mittel der Kritik?
Chiara Fleischhacker:
Der Punkt, den ich wirklich stark kritisiere, ist der Umgang mit inhaftierten Schwangeren. Ein Gefängnisarzt erzählte mir mal, dass die Inhaftierung aus jeder Schwangerschaft eine Risikoschwangerschaft mache – aufgrund der hohen Stressbelastung. Damit büßt bereits das ungeborene Kind für die Schuld der Mutter mit. Dieser Missstand muss debattiert werden. Ebenso wie die Situation, dass in der Haft Mutter und Kind getrennt werden, weil es keinen Mutter-Kind-Platz gibt. Es muss gesetzlich geregelt werden, dass jede Familie einen Anspruch auf so einen Platz hat, wenn sie die Bedingungen erfüllt.
MYP Magazine:
Welche Gedanken hast Du dir während der Arbeit über das Konzept der Strafe gemacht?
Chiara Fleischhacker:
Viele. Zu diesem Thema habe ich einen Dokumentarfilm „Im Namen des Volkes“ gedreht, mit dem ich das Konzept der Strafe aus verschiedenen Perspektiven betrachtet habe. Das finde ich nach wie vor sehr spannend. Vor allem, wie paradox der theoretische Anspruch auf Resozialisierung ist, wenn man den Leuten durch Haft – und vor allem durch Ersatzfreiheitsstrafen – jegliche Möglichkeiten nimmt, wieder einen guten sozialen Status zu erreichen.
»Wir müssen uns das Selbstbewusstsein zurückzuholen, das uns seit der Kindheit wegsozialisiert wurde.«
MYP Magazine:
Selbstbestimmung ist ein zentrales Thema in „Vena“. Wie siehst Du den Kampf um Selbstbestimmung von Frauen, hier in Deutschland und weltweit?
Chiara Fleischhacker:
Diese Frage ist ein eigenes Interview wert. Vor sechs Jahren dachte ich noch, ich hätte die gleichen Chancen wie meine männlichen Regiekollegen. Weit gefehlt. Meine Rolle als Frau in unserer Gesellschaft ist mir vor allem durch meine Mutterschaft – genauer gesagt meine alleinerziehende Mutterschaft – bewusst geworden. Ich wünsche mir, dass wir auf die Kraft der Solidarität unter Frauen bauen, die ist mächtig. Und dass wir uns mit Männern umgeben, die uns schätzen und respektieren.
Ich weiß, das klingt so einfach, aber leider sind wir immer noch sehr, sehr weit entfernt von Geschlechter-Gerechtigkeit. Wo Frauen selbst ansetzen müssen: Wir müssen uns das Selbstbewusstsein zurückzuholen, das uns seit der Kindheit wegsozialisiert wurde. Dazu gehört es, als Mutter Geld zu verdienen und auch zu lernen, mit Finanzen umzugehen. Geld spielt hier eine essenzielle Rolle, denn es kann uns in wirklich schwierigen Lebenslagen Freiheit bieten. Aber in dem Zusammenhang müssen wir dafür sorgen, dass wir nicht wie selbstverständlich in Teilzeit gleiten. Außerdem müssen wir dafür kämpfen, das Geld zu verdienen, das dem Wert unserer Arbeit entspricht. Wir müssen aufhören, unbezahlte Arbeit zu leisten. Wenn wir das alles tun würden, wie weit könnten wir dann heute bereits sein…
»Vena« (116 min., Regie: Chiara Fleischhacker) seit dem 28. November 2024 im Kino.
Mehr von und über Chiara Fleischhacker:
instagram.com/chiarafleischhacker
players.de/writers/chiara-fleischhacker/
linktr.ee/weltkino1
Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß
Fotografie: Frederike van der Straeten
Lamin Leroy Gibba
Interview — Lamin Leroy Gibba
»Das Spezifische ist universell«
Lamin Leroy Gibba ist Schauspieler, Autor und Produzent und mit seiner aktuellen ARD-Serie »Schwarze Früchte« überall im Gespräch. Im Interview erzählt er uns, wie ihn sein Studium in den USA geprägt hat, warum die Arbeit an »Schwarze Früchte« so eine besondere und intensive Erfahrung war und wie er die deutsche Filmindustrie wahrnimmt und verändern will.
10. November 2024 — Interview & Text: Samuel Benke, Fotografie: Moritz Högemann
Wir treffen Lamin in den leeren Hallen des ehemaligen Café Kranzler und seiner anliegenden Shoppingcenter. Mitten im Zentrum der Hauptstadt steht hier ein gigantischer Raum leer. Die breiten Fenster schauen auf die rauschenden Straßen, an denen sich Autos und Passanten entlangschieben, die Flure sind durchgetreten von den vielen Sohlen einer Stadt, die sich in ständiger Bewegung befindet. Zwischendrin stehen noch Überreste einer Ausstellung, die hier letzte Woche stattfand, man hört die Vögel auf dem Dach flattern und den Wind, der in die berühmten rot-weißen Markisen fährt.
Das Kranzler X ist einer der vielen Orte, die den momentanen Wandel Berlins gut beschreiben. Hier ist Platz für neue Geschichten, aktuell finden in dem ehemaligen Café – als Hommage an den früheren Begegnungsort – kulturelle Events, Lesungen, Dinner und Performances statt, die die Räume mit neuem Leben füllen. Bis auch dieser Ort irgendwann abgerissen oder wieder neu geformt wird.
Die perfekte Location also, um über die Zukunft zu sprechen. Genauer gesagt: darüber, welche Geschichten wir brauchen in einer Zeit, in der sich alles zu verändern scheint, in der Gelder für die Kultur gekürzt werden und rechte Rhetorik unsere Bildschirme flutet.
Lamin Leroy Gibba schreibt diese Geschichten: Serien und Filme, die mit gängigen Sehmustern brechen, die Schwarze, queere Charakter in den Mittelpunkt stellen und einen sowohl zum Lachen als auch zum Nachdenken bringen. Mit seiner Arbeit verändert der 30-jährige Schauspieler, Autor und Produzent nicht nur, wie erzählt wird. Sondern auch, wer hinter der Kamera steht oder wer die Entscheidungen trifft. Damit rüttelt Lamin an vielem, was in der Filmbranche lange als selbstverständlich vorausgesetzt wurde.
„Schwarze Früchte“, sein jüngstes Werk, ist dafür das beste Beispiel. Mit der achtteiligen Serie, die vor Kurzem in der ARD-Mediathek veröffentlicht wurde, wirft er einen Blick in das Leben von Lalo: Der junge Mann ist Schwarz, queer und steckt im Chaos. Nachdem er vom unerwarteten Tod seines Vaters aus der Bahn geworfen wird, kompensiert er seinen Verlust mit überstürztem Tatendrang und trifft dabei so schnell Entscheidungen, dass alles in seinem Leben aus den Fugen gerät.
Im Interview mit Redakteur Samuel Benke spricht Lamin Leroy Gibba über den kulturellen Wandel, seine Hoffnungen und Geschichten und die Frage, was wir als Publikum von den Kämpfen seiner vielschichtigen Charaktere mitnehmen können.
»Die unabhängige Arbeit in New York hat geprägt, wie ich nach dem Studium weitergemacht habe.«
MYP Magazine:
Du hast in New York Schauspiel und Film studiert, obwohl Du zuvor bereits viel Schauspielerfahrung hattest. Warum?
Lamin Leroy Gibba:
Ich habe zwar seit meiner Kindheit bei Theatergruppen und später an Schauspielschulen gespielt, aber es war mir wichtig, das Handwerk noch einmal richtig zu lernen. Die Jahre in New York waren eine intensive Ausbildung. Ich habe dort so viel gelernt – für mich und für den Job, den ich jetzt mache. Da es ein interdisziplinäres Studium war, habe ich nicht nur gespielt, sondern musste auch schreiben. Es war also ein Ort, an dem ich viele Sachen ausprobiert habe. Ich habe mit meinem Mitstudierenden Projekte gestartet, Theaterstücke und Kurzfilme gemacht und die dann auch aufgeführt und gescreent. Diese unabhängige Arbeit hat geprägt, wie ich nach dem Studium weitergemacht habe. Ich warte eigentlich nie darauf, dass mir ein Projekt angeboten wird, sondern denke hauptsächlich darüber nach, welche Projekte ich machen will und wie ich sie umsetzen kann.
»Wir haben immer noch wenig Chancen, Geschichten zu erzählen, in denen Schwarze Protagonist*innen und erst recht Schwarze queere Protagonist*innen im Zentrum stehen.«
MYP Magazine:
Der amerikanische Markt ist größer, vielleicht auch vielfältiger als der in Deutschland. Warum hast Du die Entscheidung getroffen, wieder zurückzukommen und hier zu arbeiten?
Lamin Leroy Gibba:
Ich habe in den USA viele unterschiedliche Stoffe entwickelt und geschrieben. Und natürlich hat mich ein halbes Jahrzehnt dort auch stark geprägt. Aber es war und ist trotzdem nicht wirklich meine Perspektive. Ich war immer noch eine deutsche Person, die in New York lebt. Ich habe dort angefangen darüber nachzudenken, welche Storys in Deutschland gerne sehen würde. Mir war auch aus der Ferne bewusst, dass wir immer noch wenig Chancen haben, Geschichten zu erzählen, in denen Schwarze Protagonist*innen und erst recht Schwarze queere Protagonist*innen im Zentrum stehen. Also habe ich begonnen, einen Langfilm und eine Serie zu entwickeln. Ich bin mit dem Gedanken zurückgekommen, mir ein Jahr zu geben, um es in Deutschland noch einmal zu probieren. Sollte das nicht klappen, hätte ich mein Visum neu beantragt und wäre zurückgegangen. Aber jetzt bin ich hier und das fühlt sich genau richtig an.
»Es muss sich viel verändern in Deutschland, damit wir nachhaltig eine Vielfalt an Perspektiven abbilden können.«
MYP Magazine:
Dein Plan ist aufgegangen, Deine Serie „Schwarze Früchte“ ist sehr erfolgreich. Wie war es nach Deiner Zeit in den USA, sich in der deutschen Filmlandschaft wiederzufinden und auch durchzusetzen?
Lamin Leroy Gibba:
Ich glaube, dass ich in den letzten Jahren eine Art Community innerhalb der Filmbranche gefunden habe. Das liegt sicher auch daran, dass ich Teil von Schwarze Filmschaffende e.V. und der BIPoC Film-Society bin sowie mit vielen anderen Vereinen und Filmschaffenden verbunden bin, die alle sehr viel Tolles machen und bewegen. Aber wenn man die Branche im Allgemeinen betrachtet und sieht, welche Projekte gerade finanziert oder gedreht werden, sind wir immer noch an einem Punkt, an dem viele Perspektiven gar nicht vorkommen. Projekte wie „Schwarze Früchte“ sind immer noch Ausnahmen. Es muss sich viel verändern in Deutschland, damit wir nachhaltig eine Vielfalt an Perspektiven abbilden können.
»Diese Preise oder Nennungen verstärken für mich die Hoffnung, dass Projekte wie unseres auch in Zukunft umgesetzt werden.«
MYP Magazine:
Du hast für deine Arbeit schon viele Preise gewonnen und bist unter anderem auf der „Forbes 30 unter 30“-Liste gelandet. Was bedeuten diese Auszeichnungen für Dich?
Lamin Leroy Gibba:
Es ist toll, mit diesen Arbeiten gesehen zu werden. Diese Preise oder Nennungen verstärken für mich die Hoffnung, dass Projekte wie unseres auch in Zukunft umgesetzt werden – und dass meine und auch unsere Arbeit ein Stück einfacher wird in der Realisation, insbesondere hinsichtlich Ressourcen und Zugängen.
»Unsere Serie existiert schlussendlich auch nur wegen der aktivistischen Arbeit, die so viele Menschen über all die Jahre geleistet haben.«
MYP Magazine:
Die deutsche Kulturlandschaft und besonders die Förderstrukturen stehen gerade von vielen Seiten unter Druck, etwa weil Gelder gekürzt werden. Was ist Dein Blick darauf?
Lamin Leroy Gibba:
Meine Perspektive ist stark von meiner Zeit in Amerika geprägt, wo alles stark privatisiert ist und diese Art von Filmförderung wie hier in Deutschland überhaupt nicht existiert. Daher ist es erst mal toll, so etwas zu haben. Gleichzeitig sind die Streichungen absolut besorgniserregend. Es ist so wichtig, dass es Filmförderung gibt, die aus öffentlichen Mitteln finanziert wird. Natürlich ist in diesem Zusammenhang auch die Novellierung des Filmfördergesetzes erwähnenswert, die dafür sorgen sollte, dass im Film und seiner Förderung die Vielfalt unserer Gesellschaft abgebildet wird. Das ist auch etwas, wofür sich Schwarze Filmschaffende e.V. immer wieder einsetzt. Unsere Serie existiert schlussendlich auch nur wegen der aktivistischen Arbeit, die so viele Menschen über all die Jahre geleistet haben. Es geht darum, Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen immer wieder darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig Kultur für unsere Gesellschaft ist – und dass sie gefördert werden muss.
»Es geht darum, auf strukturelle Diskriminierung aufmerksam zu machen.«
MYP Magazine:
Wie sieht die Arbeit von Schwarze Filmschaffende e.V. aus?
Lamin Leroy Gibba:
Wir sind ein Zusammenschluss von Schwarzen Filmschaffenden im deutschsprachigen Raum, also in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Das Ganze gab es auch schon einmal in den frühen 2000er Jahren. 2014 hat es als eine Facebook-Gruppe neu angefangen. Mittlerweile ist es auch ein eingetragener Verein und wir haben über 600 Mitglieder. Unsere Tätigkeit liegt im Austausch, aber auch in der aktivistischen Arbeit. Es geht darum, auf strukturelle Diskriminierung aufmerksam zu machen und immer wieder daran zu erinnern, wie wichtig die Repräsentation vielfältiger Perspektiven und Geschichten für die Kultur und unsere Gesellschaft ist. Das ist harte, aber wichtige Arbeit – umso schöner zu sehen, dass sie immer wieder Früchte trägt. (lacht)
»Es geht darum, welche Gespräche man führt und welche nicht, woran man sich abarbeiten muss und woran nicht.«
MYP Magazine:
Du hast das Community Building innerhalb der Branche angesprochen. Bei „Schwarze Früchte“ war das nicht nur im Entstehungsprozess wichtig, sondern auch vor und hinter der Kamera sichtbar. Ein Großteil der Mitarbeitenden war zum Beispiel Schwarz, Queer, BIPoC. Warum war das für die Arbeit wichtig?
Lamin Leroy Gibba:
Es war für unsere Arbeit essenziell. Es geht darum, welche Gespräche man führt und welche nicht, woran man sich abarbeiten muss und woran nicht. Natürlich waren auch bei uns nicht alle Perspektiven gleich präsent. Auch waren nicht immer alle einer Meinung. Trotzdem hat sich eine ganz besondere Leidenschaft entwickelt, weil alle einen gewissen Bezug zum Stoff hatten. Vom Maskenbild über das Kostümbild, Szenenbild, die Autor*innen, Regie, Kamera bis zur Requisite: Alle haben an einem Strang gezogen – weil sie wussten, wie besonders es ist, den Raum dafür zu haben, diese Geschichte so zu erzählen.
»Was, wenn diese und diese Person zusammen die Maske machen, was könnte daraus entstehen?«
MYP Magazine:
Du hast viele Rollen gleichzeitig übernommen: Headautor, Showrunner, Hauptdarsteller. War das nicht anstrengend?
Lamin Leroy Gibba:
Für mich war die Arbeit in gewisser Weise ein Masterstudium in Fernsehproduktion. Ich habe jetzt jeden Schritt miterlebt, jedes logistische Detail erfahren. Es war für mich ein riesiges Geschenk, ein Projekt vom Anfang bis zum Ende so intensiv zu begleiten. Allein die Teamzusammenstellung hat wahnsinnig viel Spaß gemacht. Fragen wie: Was, wenn diese und diese Person zusammen die Maske machen, was könnte daraus entstehen? Die Regisseur*innen David Uzochukwu und Elisha Smith-Leverock sind auch komplett unterschiedlich, stehen für unterschiedliche Ästhetiken und haben trotzdem zusammen etwas Wundervolles und Neues kreiert. Ich würde es genauso wieder machen.
»Wenn man sichtbar queer und Schwarz ist, ist die Auswahl an Rollen sehr beschränkt.«
MYP Magazine:
Wie war es für Dich, dir als Hauptdarsteller Deine eigene Rolle zu schreiben?
Lamin Leroy Gibba:
Es ist ein großes Ding, nach dem Studium zu checken: Okay, es gibt extrem wenige Rollen, bei denen an mich gedacht wird. Wenn man sichtbar queer und Schwarz ist, ist die Auswahl an Rollen einfach sehr beschränkt. Selbst in Amerika. Und die Rollen, die einem dann angeboten werden, sind oft einfach nicht komplex. Für mich war es daher um so wichtiger, diese Rolle zu schreiben. Mir war klar, ich wollte eine Rolle, die mich wirklich herausfordert – eine komplexe und komplizierte Rolle. Das ist Lalo geworden, darüber bin ich sehr froh.
»Lalo stülpt andere Gefühle über seine eigenen – in der Hoffnung, akzeptiert zu werden.«
MYP Magazine:
Was sind Lalos größte Herausforderungen?
Lamin Leroy Gibba:
Eine große Sache war, dass er seine Emotionen nicht benennen kann und oft gar nicht wirklich weiß, was er gerade fühlt. Er weiß nur, was gut und was nicht gut ankommt. Er stülpt dann andere Gefühle über seine eigenen – in der Hoffnung, akzeptiert zu werden. Ich glaube, das ist eines seiner größten Themen im Verlauf der Staffel: Masken. Ähnlich wie für seine beiden Freund*innen, Bijan und Karla.
»Was passiert, wenn man auf die eigenen Bedürfnisse nicht achtet, sich die eigenen Emotionen nicht erlaubt?«
MYP Magazine:
Karla und Bijan sind Lalos engste Vertraute, sie alle kämpfen mal subtil, mal sehr offensichtlich mit sich und ihrer Welt. Mit welcher Intention hast Du die beiden Figuren entworfen?
Lamin Leroy Gibba:
Bei Karla ist sehr viel los. Eins ihrer Themen ist, Verantwortung für andere zu übernehmen – für Lalo, aber auch für ihre Schwester: immer wieder Stärke zeigen zu müssen, die ihr von der Gesellschaft aufgezwungen wird. Auf der Arbeit und im Alltag trägt sie eine Vielzahl an Masken, die ihr helfen, alles zu navigieren. Was macht das mit einem auf lange Zeit? Was passiert, wenn man auf die eigenen Bedürfnisse nicht achtet, sich die eigenen Emotionen nicht erlaubt?
Auch Bijan kämpft mit seinen Masken. Bei ihm sind sie aber luxuriös. Sie lassen es wirken, als wäre bei ihm alles in Ordnung. Anders als bei Karla vergleichen sich Bijan und Lalo viel, zum Beispiel in Bezug darauf, wer mehr geliebt wird. Ich sehe viele Möglichkeiten darin, dass die beiden an ihrer Freundschaft arbeiten und aneinander wachsen. Dafür müssten sie aber aussprechen können, was ihre Ängste und Sorgen sind.
»Wir haben so viele berührende Nachrichten von Menschen erhalten, die beschreiben, was die Serie für sie bedeutet.«
MYP Magazine:
„Schwarze Früchte“ ist sehr erfolgreich angelaufen. Ist eine zweite Staffel in Planung?
Lamin Leroy Gibba:
Es gab schon im Writers‘ Room immer wieder die Einigkeit: Ja, das schreiben wir dann in die zweite Staffel. Die Lust ist da – aber diese Frage ist eine, die erst später entschieden wird. Die Reaktionen sind aber schon jetzt wirklich überwältigend. Wir haben so viele berührende Nachrichten von Menschen erhalten, die beschreiben, was die Serie für sie bedeutet. Und auch, dass sie sich in den unterschiedlichsten Charakteren wiederfinden. Das zeigt etwas, das ich immer wiederhole: Das Spezifische ist universell. Menschen mit den unterschiedlichsten Backgrounds erkennen sich in unserer Geschichte wieder. Was für ein tolles Gefühl, davon ein Teil zu sein – und zu sehen, dass sich diese ganze Arbeit mit all den Entscheidungen und der Energie, die wir alle da reingesteckt haben, gelohnt hat. Und dass sie gesehen wird. Das ist ein großer Erfolg für mich.
„Schwarze Früchte“ ist in der ARD-Mediathek verfügbar.
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Interview & Text: Samuel Benke
Fotografie: Moritz Högemann
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Interview — Sofi Paez
»Ich will den Menschen die Furcht vor den eigenen Dämonen nehmen«
»Silent Stories«, das Debütalbum von Pianistin und Komponistin Sofi Paez, ist ein wundervolles Stück Musik, in das man sich nur verlieben kann: einerseits, weil es so komplex und feinfühlig arrangiert ist. Und andererseits, weil es die Kraft hat, in eher schwierigeren Momenten des Lebens ein bisschen Trost zu spenden. Ein Gespräch über innere Dämonen, eine Familie, die sich zu schnell Sorgen macht, und kalte Wintermonate als idealer Nährboden für neue Songs.
2. November 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König
Das Wort Trost ist ein sehr altes. Seine linguistische Wurzel, der indogermanische Begriff deru, bezeichnet das Kernholz eines Baumstammes, das den Baum während eines starken Sturms fest stehen lässt. Im Mittel- und Althochdeutschen wurde daraus trōst, belegt ist das Wort seit dem 8. Jahrhundert.
Wie genau sich die Menschen im frühen Mittelalter wohl Trost gespendet haben? Immerhin gab es damals weder riesige Schokoeisbecher, die man gemeinsam vertilgen konnte. Und lustige Memes, mit denen man seine Liebsten aufheitern konnte, gab es auch nicht. In den Arm genommen haben sich die Leute damals aber ganz sicher, denn diese Ausdrucksform menschlicher Nähe stammt bereits aus den Anfängen der Menschheitsgeschichte.
Doch was tun, wenn gerade niemand in der Nähe ist, der einen umarmen könnte? Und wenn – auf die Gegenwart bezogen – der Supermarkt bereits geschlossen hat und alle Memes der Welt nicht mehr helfen? In so einem Fall braucht es definitiv „Silent Stories“, das Debütalbum von Sofi Paez. Denn schon ab dem allerersten Track gelingt es der 28-jährigen Pianistin und Komponistin, ihre Hörer*innen in eine so dicke und flauschige Decke einzuwickeln, dass sie glauben könnten, sie wären Teil einer Lenor-Werbung aus den Neunzigern.
Dieser Vergleich ist natürlich rein sensorisch gemeint. Der musikalischen Qualität von „Silent Stories“ kann das Werbespotgedudel nicht im Entferntesten das Wasser reichen. Wie auch? Die insgesamt elf Stücke sind so komplex und feinfühlig arrangiert, dass sie einen nicht nur tief in Sofis Seele blicken lassen, sondern auch in die eigene. Vorausgesetzt, man ist bereit dazu.
Geboren und aufgewachsen ist Sofi Paez in Costa Rica, heute lebt sie in Berlin. Nachdem sie im Jahr 2023 ihre vielfach beachtete EP „Circles“ veröffentlicht hatte, wurde sie als allererste Künstlerin von OPIA unter Vertrag genommen, dem Label des renommierten Contemporary-Classic-Künstlers Ólafur Arnalds. Viele der Stücke, die Sofi im Laufe ihrer noch jungen Karriere geschrieben hat, sind von ihrem Alltag, aber auch der Natur inspiriert. So war es nur naheliegend, dass sie für das Cover ihres Debütalbums ein Foto wählte, das sie inmitten der üppigen Natur Costa Ricas zeigt.
Für unser Interview und Shooting haben wir die junge Frau im Frühsommer im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg getroffen – und dafür wirklich alles an Natur aufgeboten, was wir vorfinden konnten.
»Manchmal geht es mir nur darum, eine bestimmte Atmosphäre einzufangen – selbst, wenn sie vielleicht gar nicht real ist.«
MYP Magazine:
Sofi, wenn man sich durch Dein Debütalbum hört, hat man stellenweise das Gefühl, sich draußen in der Natur zu befinden. Ist es Teil Deines musikalischen Konzepts, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zu verwischen?
Sofi Paez:
Meine Musik dreht sich in erster Linie um das, was ich erlebe. Das muss aber nicht immer ein konkretes Ereignis sein. Manchmal geht es mir nur darum, eine bestimmte Atmosphäre einzufangen – selbst, wenn sie vielleicht gar nicht real ist, sondern eher so etwas wie ein fiktionales Gefühl.
Davon abgesehen war ich schon immer von der Natur fasziniert, die vor allem in Costa Rica absolut atemberaubend ist. Seit ich denken kann, habe ich den Drang, diese Faszination in meiner Musik abzubilden. Daher freue ich mich total, wenn Menschen in meinem Songs diese Verbindung spüren.
»Ich bin ein großer Fan von Musik, die nostalgische Gefühle in mir hervorruft. Die kalten Wintermonate können dafür der ideale Nährboden sein.«
MYP Magazine:
Gibt es etwas, das Du an Orten wie Berlin vermisst, wo die Natur nicht in der Hülle und Fülle existiert wie in Deiner Heimat?
Sofi Paez:
Am meisten vermisse ich die Insekten – und die feuchte Hitze. Der Sommer wird zwar auch hier immer heißer, ist aber mit dem in Costa Rica nicht vergleichbar.
MYP Magazine:
Ändert sich die Musik, die Du schreibst, mit den klimatischen Bedingungen, in denen Du dich bewegst?
Sofi Paez:
Definitiv. Im Winter bin ich viel kreativer als im Sommer. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich ein großer Fan von Musik bin, die nostalgische Gefühle in mir hervorruft. Die kalten Wintermonate, in denen man sich eher in sein Nest zurückzieht, können dafür der ideale Nährboden sein.
»In der Natur wie auch in der Musik befindet man sich oft auf einer Entdeckungstour. Man überlegt mit jedem Schritt, in welche Richtung man sich als nächstes bewegen will.«
MYP Magazine:
Ist das Erforschen neuer Klangwelten für Dich vergleichbar mit dem Erkunden unbekannter Landschaften?
Sofi Paez:
Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht. Aber es stimmt schon: In der Natur wie auch in der Musik ist man eigentlich immer auf Entdeckungsreise. Man überlegt mit jedem Schritt, in welche Richtung man sich als nächstes bewegen will. Wenn ich einen Song schreibe, beginne ich normalerweise mit dem Klavier und erforsche die Melodie, die dabei entsteht. Und wenn sich die musikalische Basis gut genug anfühlt, entwickle ich das Stück weiter – vielleicht mit Gesang, vielleicht mit Synthesizern, vielleicht aber auch nur mit zusätzlichen instrumentalen Ebenen.
»Die Klimakatastrophe ist ein Thema, das mich sehr beschäftigt – nicht nur als Musikerin, sondern vor allem als Mensch.«
MYP Magazine:
Costa Rica zählt zu den Ländern, die besonders von den Folgen der Klimakatastrophe betroffen sind. Erst in diesem Sommer litt Costa Rica unter einer der schlimmsten Dürren seit Jahrzehnten. Kann man das Coverfoto Deines neuen Albums auch als eine vorzeitige Erinnerung verstehen – an eine Welt, die so in Zukunft nicht mehr existieren könnte?
Sofi Paez:
Ich hoffe natürlich, dass Fotos wie dieses in Zukunft nicht zu Erinnerungen werden, sondern weiterhin den Ist-Zustand der Natur beschreiben. Aber ich weiß, dass die Chancen dafür eher schlecht stehen. Zwar spürt man im Landesinneren von Costa Rica – dort, wo ich aufgewachsen bin – die Auswirkungen der Klimakatastrophe noch nicht so stark. Aber gerade an den Küstenregionen wird die Situation immer dramatischer. Das ist ein Thema, das mich sehr beschäftigt – nicht nur als Musikerin, sondern vor allem als Mensch.
»Ich wunderte mich immer, wenn andere Kinder keinen Papa hatten, der zu Hause Gitarre spielte.«
MYP Magazine:
Wann und wie ist die Musik in Dein Leben gekommen?
Sofi Paez:
Musik war in meinem Leben schon immer da. Mein Vater, der sich als junger Mann selbst Gitarre beigebracht hatte, spielte ständig bei uns zu Hause, und das gefühlt in jedem Raum. Für mich war das so normal, dass ich mich immer wunderte, wenn andere Kinder keinen Papa hatten, der zu Hause Gitarre spielte. Außerdem besaß mein Großvater eine riesige CD-Kollektion von Beethoven. Als er davon mal was auflegte, war ich sofort verliebt in diese Musik. Das war ein absolut verrücktes, umwerfendes Gefühl.
MYP Magazine:
Hattest Du in diesem Moment beschlossen, Musikerin zu werden?
Sofi Paez:
Nein, das passierte erst etwas später. Als ich 15 war, schauten sich meine Eltern mit mir eine Musikschule an, die den Ruf hatte, den besten Klavierunterricht in Costa Rica anzubieten. Ich weiß noch genau, wie wir das Gebäude betraten und aus allen Ecken das Spiel der Klavierschüler*innen zu hören war. Das hat mich völlig überrollt. Ich fragte mich nur: Zu so etwas Wundervollen sind Menschen in der Lage? In diesem Augenblick wusste ich: Das will ich auch können. Also habe ich mich zum Vorspielen angemeldet.
»Komm nach Hause, Kind! Was willst Du auch in diesem langen deutschen Winter?«
MYP Magazine:
Das ist jetzt 13 Jahre her. Seitdem hat sich Deine Musik zu etwas entwickelt, mit dem Du in der Lage bist, Deine Zuhörer*innen in ihrem tiefsten Inneren zu berühren. Dabei lässt sich gar nicht so genau sagen, welche konkreten Gefühle Du mit Deinen komplexen Stücken triggerst…
Sofi Paez:
… für mich selbst ist es ebenfalls schwer, die Emotionen zu beschreiben, die ich über meine Musik transportieren will. Das liegt wahrscheinlich daran, dass in meiner Familie nicht besonders oft über Gefühle gesprochen wurde.
MYP Magazine:
Du bist also in einer eher wortkargen Familie aufgewachsen?
Sofi Paez:
Ja, das kann man so sagen. Aus diesem Grund liegen mir auch meine rein instrumentalen Stücke so am Herzen. Damit kann ich ausdrücken, wie es mir geht, ohne meine Familie mit konkreten Textzeilen beunruhigen zu müssen. Wenn ich etwa darüber singen würde, dass ich traurig und einsam bin, würde sofort jemand aus Costa Rica anrufen und sagen: „Komm nach Hause, Kind! Was willst Du auch in diesem langen deutschen Winter?“ Die Musik ist für mich also nicht nur ein Werkzeug, um meine Emotionen zu regulieren, sondern auch ein Mittel der Emanzipation.
»Manchmal habe ich das Gefühl, ich habe nichts zu sagen – dann bleibt das Stück instrumental.«
MYP Magazine:
Wie Du bereits angedeutet hast, sind Deine Stücke teils rein instrumental, teils sind sie mit Gesangselementen versehen. Auf Basis welcher Faktoren entscheidest Du, wann Du nur das Klavier sprechen lässt und wann Du deine Stimme addierst?
Sofi Paez:
Das hängt von der Struktur des Songs ab. Manchmal habe ich das Gefühl, ich habe nichts zu sagen – dann bleibt das Stück instrumental und ich versuche lediglich, eine bestimmte musikalische Atmosphäre zu schaffen. Dann gibt es wiederum Situationen, in denen die Gedanken nur so aus mir heraussprudeln und ich den Drang habe, sie so schnell wie möglich in einem Songtext festzuhalten. In diesen Momenten fange ich oft an zu weinen – viel eher als bei den instrumentalen Tracks. Interessant ist auch, dass ich manchmal die Themen, die ich in einem Song behandle, noch gar nicht selbst verarbeitet habe. In solchen Fällen ist es sehr schwer für mich, das Ganze live vor Publikum zu spielen, weil ich die dabei alles erneut durchlebe.
»Ich habe versucht, mich an einen Ort zu denken, der von meiner Heimat maximal weit entfernt ist. So wurde dieses Lied geboren.«
MYP Magazine:
In einigen Deiner Songs addierst Du auch immer wieder mal elektronische Elemente zu den klassischen Instrumentalparts…
Sofi Paez:
… und auch hier gibt mir alleine der Song das Gefühl, ob und in welchem Umfang ich mit diesen Elementen experimentieren kann. Manche klassischen Stücke sind so, wie sie sind, bereits perfekt. Da brauche ich einfach keine Elektronik. Ganz anders zum Beispiel bei „Amsterdam“: Da habe ich einfach mal angefangen, ein bisschen mit Ableton herumzuspielen. Und am Ende dachte ich: Wow, was habe ich denn da geschaffen?
MYP Magazine:
Warum hast Du gerade der Stadt Amsterdam einen Song gewidmet?
Sofi Paez:
Ich war noch nie in Amsterdam und hatte dementsprechend auch keine Vorstellung von dieser Stadt. Als der Track entstanden ist, habe ich noch in Costa Rica gelebt, und ich wollte mich an einen Ort denken, der von meiner Heimat maximal weit entfernt ist. Mein Ziel war, mit dem Song das Gefühl zu beschreiben, das man empfindet, wenn man sich zum ersten Mal an einen völlig unbekannten Ort begibt.
»Ich wollte eine Antwort finden auf die Frage, wie man mit dem Wissen um die eigene Vergänglichkeit umgehen kann, ohne daran zu verzweifeln.«
MYP Magazine:
Ein anderer Song trägt den Titel „What Remains“. Ist es nicht belastend, sich so früh im Leben schon mit der Frage auseinanderzusetzen, was am Ende bleibt?
Sofi Paez:
Ich war schon immer ein sehr philosophischer Mensch – und ich befürchte, dass ich ein bisschen zu viel über meine eigene Sterblichkeit nachdenke. Ich habe leider schon als Kind die Erfahrung machen müssen, dass das Leben jederzeit abrupt enden kann. Wenn man klein ist, denkt man über so etwas wie den Tod in der Regel nicht nach. Man glaubt, dass Menschen erst sterben, wenn sie sehr, sehr alt sind. Leider habe ich in meinem Leben immer wieder das Gegenteil erlebt. Allein in den letzten vier Jahren habe ich viele geliebte Menschen verloren, die eigentlich noch viele Jahrzehnte vor sich gehabt hätten. Ich glaube, diese Erlebnisse sind letztendlich dafür verantwortlich, dass ich mich auf meinem Album so intensiv mit Themen wie Abschied, Tod und Trauer auseinandersetze. Ich wollte eine Antwort finden auf die Frage, wie man mit dem Wissen um die eigene Vergänglichkeit umgehen kann, ohne daran zu verzweifeln.
MYP Magazine:
Hast Du persönlich das Bedürfnis, der Welt etwas zu hinterlassen?
Sofi Paez:
Ich weiß nicht, ob es ein Bedürfnis ist. Aber es ist schön zu wissen, dass von meiner Musik etwas bleibt. Vielleicht findet in hundert Jahren irgendwer zufällig eine meiner Platten, nimmt sie mit nach Hause, legt sie auf und lernt dadurch meine Gefühlswelt kennen. Das ist doch eine schöne Vorstellung, oder nicht?
»Ein guter Weinkrampf kann reinigend sein.«
MYP Magazine:
Die Intimität und Ernsthaftigkeit, die Du auf Deinem Album erzeugst, erinnert ein wenig an ein Kammerspiel, in dem zwei Menschen die fundamentalsten Fragen miteinander verhandeln. Hattest Du beim Komponieren ähnliche Assoziationen?
Sofi Paez:
Ja, definitiv. In „Por qué“ zum Beispiel verarbeite ich den Tod meiner besten Freundin, die vor einigen Jahren plötzlich von uns gegangen ist. Die Auseinandersetzung damit war – und ist immer noch – sehr schwer für mich. Trauer bleibt immer bei einem und verändert einen, das Bild mit den beiden Personen, die etwas miteinander verhandeln, ist da absolut passend. Nur, dass ich in dem Fall ganz alleine war und anfangs auch keine Worte hatte für diese Tragödie. Gott sei Dank hatte ich aber das Klavier, das mir geholfen hat, meine Gefühle zu erkunden. Irgendwann gab es da einen Pianopart, den ich sehr mochte, und mit einigen Tagen Pause war ich auch in der Lage, meine Gefühle in Worte zu fassen und sie an die richtigen Stellen zu setzen.
Als der Song fertig war, hatte ich plötzlich das Gefühl, meine Freundin auch überall in der Natur zu erkennen: in den Bergen, in der Sonne, in den Wäldern. Sie liebte die Natur über alles, wir waren oft zusammen wandern, und wenn ich heute draußen unterwegs bin, ist sie immer irgendwie an meiner Seite. Ich habe sogar das Gefühl, dass sie gerade jetzt und hier mit uns am Tisch sitzt.
MYP Magazine:
Von Philosoph Friedrich Nietzsche stammt der Satz: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Hast Du so eine Erfahrung mal gemacht, etwa beim Komponieren?
Sofi Paez:
Nicht nur einmal. In solchen Momenten öffne ich die Tränenschleusen und lasse alles heraus, was sich dahinter angestaut hat. Aber das ist auch schön. Ein guter Weinkrampf kann reinigend sein.
»Ich will die Leute ermutigen, sich mit den weniger schönen Teilen ihrer Persönlichkeit auseinanderzusetzen – auch wenn ich aus eigener Erfahrung weiß, wie schwer das ist.«
MYP Magazine:
Lass uns über ein leichteres Thema sprechen: Dämonen. Dein Stück „Demons“ klingt überhaupt nicht so, als wären da irgendwelche dunklen Kreaturen am Werk. Ganz im Gegenteil: Der Song wirkt eher Assoziationen an gute Feen und verwunschene Wälder. Haben Dämonen einen zu schlechten Ruf?
Sofi Paez: (lächelt)
Vielleicht. Ich wollte hier aber bewusst einen Widerspruch herstellen zwischen der unbeschwerten, träumerischen Musik einerseits und dem ernsten Inhalt andererseits, in dem ich den Kampf mit meinen inneren Dämonen beschreibe. Damit will ich den Menschen, die den Song hören, ein bisschen Zuversicht geben und ihnen die Furcht vor den eigenen Dämonen nehmen. Ich will sie ermutigen, sich mit den weniger schönen Teilen ihrer Persönlichkeit auseinanderzusetzen – auch wenn ich aus eigener Erfahrung weiß, wie schwer das ist.
Mehr von und über Sofi Paez:
Interview & Text: Jonas Meyer
Fotografie: Maximilian König
instagram.com/studio.maximilian.koenig
maximilian-koenig.com
double-t-photographers.com (Repräsentanz)
Kiasmos
Interview — Kiasmos
»Ohne unsere Freundschaft würde es Kiasmos nicht geben«
Gut Ding will Weile haben: Nach fast einer Dekade haben Kiasmos vor Kurzem ihr zweites Album veröffentlicht. Das jüngste Werk des Minimal-Techno-Projekts von Janus Rasmussen und Ólafur Arnalds hat zwar keinen besonderen Namen, dafür aber umso mehr Inhalt: 13 Tracks, zu denen man nicht nur schön träumen kann, sondern auch verdammt gut tanzen. Ein Interview über Freundschaft als Arbeitsgrundlage, Songtitel ohne Hintergedanken, eine mysteriöse Raute und Musik, die einem nicht mehr gehört, sobald man sie veröffentlicht.
10. Oktober 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König
Zwei gute Freunde, ein paar Ideen, etwas Zeit – manchmal braucht es nicht viel mehr, um Schönes zu erschaffen. Wie etwa im Fall von Ólafur Arnalds und Janus Rasmussen. Vor ziemlich genau 15 Jahren gründeten sie ihr gemeinsames Projekt Kiasmos, mit dem sie sich musikalisch ganz und gar dem Minimal Techno verschrieben und in die Herzen von Abermillionen Menschen auf der ganzen Welt gespielt haben.
Doch nachdem sie 2014 ihr erstes Album veröffentlicht hatten, ließen sie es eher ruhig angehen. Mal eine kleine EP hier, mal eine Single da, das war’s. Warum auch hetzen? Schließlich haben die beiden Isländer – Ólafur ist dort geboren, Janus stammt ursprünglich von den Faröern – abseits von Kiasmos genug zu tun.
Der eine, Ólafur, zählt als Komponist und Multiinstrumentalist zu den renommiertesten Contemporary-Classic-Künstlern der Welt; mit seinen eingängigen und oft auch ergreifenden Stücken erforscht er seit Jahren vor allem die Stille. Der andere, Janus, ist als Songwriter und Produzent nicht weniger erfolgreich. Im Gegensatz zu Óli, wie er ihn liebevoll nennt, widmet er sich in seinen Solo-Projekten eher der elektronischen und vor allem tanzbaren Musik.
Es dauerte fast eine ganze Dekade, bis die beiden Freunde die Welt mit einem weiteren Kiasmos-Album beschenkten. Die neue Platte hat zwar keinen wirklichen Namen – auf Spotify heißt das Werk schlicht „II“, was wie ein Aktenzeichen wirkt. Doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen. Die insgesamt 13 Tracks gehen sowohl ins Herz, unter die Haut als auch ins Bein. Energie mit Empathie, sozusagen. Wer das nicht glaubt, muss sich nur mal für ein paar Minuten von einer ihrer Live-Shows einsaugen lassen.
Wenige Stunden vor einem ihrer Konzerte in Berlin haben sich Janus und Ólafur die Zeit für ein entspanntes Interview mit uns genommen.
»Wenn der letzte Album-Release fast zehn Jahre zurückliegt, merkt man langsam, dass es Zeit ist, etwas Neues zu machen.«
MYP Magazine:
Ólafur und Janus, Ihr habt Euer zweites Kiasmos-Album zehn Jahre nach dem ersten und 15 Jahre nach Gründung Eures gemeinsamen Projekts veröffentlicht. Wolltet Ihr Euch damit ein kleines Jubiläumsgeschenk machen?
Ólafur:
Nicht wirklich. Aber wenn der letzte Album-Release fast zehn Jahre zurückliegt, merkt man langsam, dass es Zeit ist, etwas Neues zu machen.
MYP Magazine:
Haben sich Eure Musik und das gemeinsame Arbeiten im Laufe der Jahre in irgendeiner Form verändert?
Janus:
Absolut. Alles andere wäre auch seltsam. Schließlich macht man allein als Mensch in dieser langen Zeit eine ziemliche Entwicklung durch. Und das beeinflusst natürlich die Musik. Davon abgesehen hat in der letzten Dekade auch die Technologie einen großen Schritt nach vorne gemacht, was wiederum die Art und Weise des Produzierens verändert hat.
Ólafur:
Dazu kommt, dass wir bei unserem ersten Album noch sehr viel improvisiert hatten – das war bei dem zweiten anders, zumindest ein Stück weit. Wir hatten zwar auch diesmal keinen konkreten Plan oder so etwas wie ein Konzept. Aber wir haben viel bewusster darüber nachgedacht, was wir machen, wie wir dabei vorgehen, welche Details wir fokussieren und wie viel Zeit wir darauf verwenden.
»Es gibt in dieser Freundschaft unausgesprochene Regeln, die wir schon lange nicht mehr diskutieren müssen.«
MYP Magazine:
Ihr beide seid nicht nur Bandkollegen, sondern auch enge Freunde. Würde Kiasmos anders klingen, wenn ihr Euch in all den Jahren „nur“ auf der beruflichen und nicht auf der freundschaftlichen Ebene begegnet wärt?
Ólafur: (lacht)
Ich würde gar nicht erst mit jemandem Musik machen, mit dem ich nicht auch befreundet wäre.
Janus:
Óli hat recht. Ohne unsere Freundschaft würde es Kiasmos nicht geben. Wir beide sind – auch außerhalb dieses Projekts – in der glücklichen Situation, fast ausschließlich mit Freunden und Bekannten arbeiten zu können. Das ist ein Privileg, das man nicht hoch genug einschätzen kann.
MYP Magazine:
Auch Freunde streiten manchmal. Wie tragt Ihr musikalische Konflikte aus – etwa, wenn Ihr verschiedene Perspektiven darauf habt, wie ein Track klingen soll?
Janus:
Das kommt zum Glück nicht allzu oft vor. Als Musikproduzenten sind wir es gewohnt, miteinander zu arbeiten. Das bedeutet, dass man auch mal eine Idee aufgeben muss, wenn sie für den jeweils anderen nicht funktioniert. Wir kennen uns mittlerweile so gut, dass solche Situationen am Ende nicht eskalieren. Oder anders gesagt: Es gibt in dieser Freundschaft unausgesprochene Regeln, die wir schon lange nicht mehr diskutieren müssen.
»Ich wüsste nicht, wo ich die Grenze ziehen sollte zwischen der Denkweise eines Künstlers, der aus der klassischen Musik kommt, und der von jemandem, der elektronische Musik macht.«
MYP Magazine:
Welche Rolle spielt es dabei, dass Ihr beide Euch außerhalb von Kiasmos in eher unterschiedlichen musikalischen Welten bewegt?
Ólafur:
Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Welten so verschieden sind. Das ist aus meiner Sicht auch gar nicht wichtig. Entscheidend ist nur die Frage, ob unsere individuellen Denk- und Arbeitsweisen miteinander harmonieren oder nicht. Davon abgesehen wüsste ich auch nicht, wo ich die Grenze ziehen sollte zwischen der Denkweise eines Künstlers, der aus der klassischen Musik kommt, und der von jemandem, der elektronische Musik macht.
Janus:
Ich verstehe das Bedürfnis und auch die Notwendigkeit, Musik aus der Genre-Brille zu betrachten. Ohne gewisse Klassifikationen wäre es auch wesentlich schwerer, sich darüber zu unterhalten. Aber aus der Perspektive von uns Musikern wirkt das immer ein bisschen zu einfach und reduziert – denn der kreative Prozess dahinter ist viel umfassender, komplexer und auch genreübergreifender, als man das vielleicht meinen könnte.
Klar, natürlich lassen sich auch bei Óli und mir gewisse Unterschiede ausmachen, aber die beziehen sich hauptsächlich auf die Technik: Zum Beispiel gibt es Software, die sich hauptsächlich an elektronische Musiker richtet, und andere wiederum ist eher für Leute entwickelt, die konventionelle Musik machen.
MYP Magazine:
Wie genau entsteht bei Euch ein Track?
Janus:
Wir haben da kein bestimmtes Muster. Manchmal ist es Óli, der mit dem Keyboard einen ersten Aufschlag macht. Und manchmal bin ich es, der zuerst einen Beat oder Percussion-Loop liefert, den ich irgendwo gefunden habe und zu dem Óli dann eine Akkordfolge hinzufügt – wie etwa bei „Sail“. Dort hatten wir mit meinem Beat und Ólis Akkorden relativ schnell eine gute Ausgangsbasis, zu der wir dann gemeinsam die Melodie komponiert haben.
Ólafur:
Ja, das war eine richtig gute Kombination. Wenn man diesen Punkt erreicht hat, geht es nur noch darum, das Ganze zu arrangieren und zu produzieren.
»Während Janus in seinem Soloprojekt bereits viel tanzbare Musik macht, sitzen bei mir die Leute eher still im Publikum und hören gespannt zu.«
MYP Magazine:
Gibt es aus künstlerischer Sicht etwas, das Ihr im Rahmen von Kiasmos besser oder anders ausdrücken könnt als in Euren jeweiligen Solo-Projekten?
Ólafur:
Grundsätzlich habe ich nicht das Gefühl, in irgendeiner Form beschränkt zu sein, wenn es darum geht, mich musikalisch auszudrücken. Ich kann tun und lassen, was ich möchte. Für mich ist Kiasmos ein wundervolles Spielfeld, das mir die Freiheit gibt, mich mehr auf Loops und Beats zu konzentrieren, ohne den Anspruch zu haben, tiefgründige Kompositionen zu schaffen. Denn während Janus in seinem Soloprojekt bereits viel tanzbare Musik macht, sitzen bei mir die Leute eher still im Publikum und hören gespannt zu.
Außerdem ist die Arbeit mit einem anderen Menschen an sich immer wieder eine spannende Erfahrung. Ich bin sicher, dass ich in vielen Fällen eine andere Melodie geschrieben hätte, wenn ich allein daran gesessen hätte. Aber wenn man mit mehreren Leuten in einem Raum ist, befindet man sich permanent in irgendwelchen Feedback-Schleifen.
Janus:
Für mich ist die Arbeit mit Óli immer eine große Bereicherung. Ich weiß genau, wo seine Talente liegen, und frage ihn nach seiner Meinung, wenn ich eine Idee habe – denn in der Regel fällt ihm immer etwas Geniales ein, woran ich selbst noch nicht gedacht hatte.
»Sobald wir die Musik geschrieben und veröffentlicht haben, gehört sie nicht mehr wirklich uns.«
MYP Magazine:
Euer neues Album vermag etwas ganz Besonderes zu leisten: Hört man es in Momenten, in denen es einem nicht so gut geht, findet man darin eine Halt, Geborgenheit und eine gewisse Empathie. Ist man aber eher optimistisch und positiv gestimmt, hat man das Gefühl, von den Tracks regelrecht energetisiert zu werden. Wie gelingt es Euch, Musik zu schreiben, die Menschen auf so unterschiedlichen Emotionsebenen ansprechen kann?
Ólafur:
Das ist kein bewusster Vorgang. Sobald wir die Musik geschrieben und veröffentlicht haben, gehört sie nicht mehr wirklich uns. Die Menschen machen daraus, was sie gerade fühlen – das entzieht sich absolut unserer Kontrolle.
Janus:
Und da wir rein instrumentale Musik machen, liefern wir den Leuten auch keine Worte, die ihnen sagen könnten, wie sie sich fühlen sollten. Selbst die Titel unserer Tracks haben nicht wirklich eine Bedeutung. Oft entstehen sie erst in den allerletzten Momenten der Fertigstellung eines Stücks.
»Ein Freitagabend in Berlin kann einen völlig anderen Vibe haben als ein Montagabend in Reykjavik.«
MYP Magazine:
Das heißt, Ihr wisst auch nie so richtig, wie das Publikum am Abend einer Show auf Eure Musik reagieren wird?
Janus:
Natürlich wissen wir, dass die Leute zu einem Kiasmos-Konzert kommen, weil sie unsere Musik mögen. Sonst würden sie sich kaum eine Karte kaufen. Aber wir nehmen immer wieder wahr, dass die Stimmung von Show zu Show variiert. Ein Freitagabend in Berlin zum Beispiel kann einen völlig anderen Vibe haben als ein Montagabend in Reykjavik oder ein Mittwochabend in London – allein deshalb, weil die Leute am nächsten Morgen nicht so früh aus dem Bett müssen und dadurch viel ausgelassener feiern.
Ólafur:
Ich finde, eine Show beginnt auch immer schon bei den Menschen zu Hause. Alles zählt an so einem Abend: wie man sich kleidet, welches Parfum man auflegt, mit welchen Freunden man sich verabredet, wie man zur Venue kommt. Und wenn die Show dann endlich losgeht, zählt jede einzelne Person im Raum – und jeder einzelne Geruch, jede einzelne Bewegung. Alles beeinflusst die Atmosphäre.
»Wenn man dem Ganzen nachträglich eine Bedeutung geben wollte, könnte man sagen, dass der Song etwas mit dir als Hörer gemacht hat.«
MYP Magazine:
Janus, Du hast eben das Thema Songtitel angesprochen. Diese bestehen bei Euch seit vielen Jahren nur noch aus einem einzigen Begriff: „Grown“, „Burst“, „Sailed“, „Laced“ oder „Bound“ sind allesamt Verben, die im Präsenzperfekt gehalten ist: einer Tempusform, die ausdrückt, dass das Geschehen vom Standpunkt des Sprechers aus zwar vergangen ist, sich aber doch auf seinen Standpunkt bezieht. Was fasziniert Euch so an diesen Begriffen, mit denen Ihr inhaltlich immer nur in die nähere Vergangenheit, aber nie in die Zukunft blickt?
Ólafur: (grinst)
Wir fanden es einfach witzig, mehr nicht.
Janus:
Naja, so ganz ist es ja auch nicht. Ich persönlich mochte schon immer diese Ein-Wort-Titel, auch in meinem Solo-Projekt. Sie sind leichter zu erfassen, wirken visuell ästhetischer und bieten inhaltlich mehr Raum für Interpretationen, weil sie nicht zu sehr in eine bestimmte Richtung deuten. Das schafft eine gewisse Freiheit, sowohl für uns als auch für die Hörenden.
Ólafur:
Dennoch ist die Idee dazu aus reinem Spaß entstanden. Ich glaube, „Wrecked“ war damals der erste Titel, der nur noch aus einem Wort bestand. Wenn man dem Ganzen nachträglich eine Bedeutung geben wollte, könnte man sagen, dass der Song etwas mit dir als Hörer gemacht hat. Er hat dich zum Beispiel wachsen lassen, zerstört oder verwischt. Aber während ich das so erzähle, merke ich, wie konstruiert sich das anhört. Es gibt einfach kein großes Konzept dahinter.
»Das Album sollte sich so anfühlen, als würde man sich durch etwas hindurchbewegen.«
MYP Magazine:
Die Reihenfolge der elf Songtitel erinnert in gewisser Weise an den natürlichen Zyklus des Lebens. „Grown“ zum Beispiel könnte für die Geburt stehen, „Bound“ für das Festhängen im Korsett alltäglicher Verpflichtungen und „Dazed“ für das langsame Ausscheiden aus dem Leben. Ist diese Dramaturgie ebenfalls aus reinem Spaß und Zufall entstanden?
Ólafur:
Die Reihenfolge der Songs ist sehr bewusst gewählt – allerdings aus rein musikalischer Sicht, nicht aus inhaltlicher. Es gibt keine spezifische Geschichte, die wir mit der Anordnung der Titel erzählen wollen. Es sollte sich nur so anfühlen, als würde man sich durch etwas hindurchbewegen. Und wenn der eine oder andere darin den Zyklus des Lebens liest, freut mich das – denn es zeigt, dass unsere Musik in der Lage ist, persönliche Interpretationsräume zu füllen.
Janus:
Ich finde es ohnehin viel spannender, den Leuten nicht immer alles haarklein vorzugeben. Ich möchte sie eher einladen, ihre ganz eigenen Gedanken und Ideen zu unserer Musik zu entwickeln. Ich kann den Gedanken aber total verstehen: Gerade der Zyklus des Lebens ist eine Assoziation, die einem oft als erstes in den Kopf schießt. Immerhin gehören Geschichten, die von Geburt, Wachstum, Abschied, Tod und Erlösung handeln, zu unserer Kultur. Damit wurden wir sozialisiert.
Auf der anderen Seite ist es so, dass es auf einem Album manchmal gar keinen anderen Ort gibt, an dem man einen Track platzieren könnte. Bei „Grown“ zum Beispiel wussten wir bereits vor vielen Jahren, dass er der allererste Song des neuen Albums sein sollte. So eine Entscheidung beeinflusst die Reihenfolge aller anderen Songs maßgeblich.
»Der Monolith ist nichts anderes als ein Symbol, das für die Offenheit und Durchlässigkeit unserer Musik steht.«
MYP Magazine:
Bereits seit einigen Jahren begleitet Euch ein mysteriöses grafisches Element, das so gut wie alle visuellen Aspekte von Kiasmos prägt, vom Album-Artwork bis zu den Bühnenshows. Was steckt hinter dieser dreidimensionalen, außerirdisch wirkenden Raute, die auch aus einem Science-Fiction-Film oder einer Netflix-Serie stammen könnte?
Ólafur:
Wir nennen dieses Element Monolith. Für die einen wirkt es wie ein Artefakt aus einer längst vergessenen Zivilisation. Andere erinnert es an etwas Heiliges, wieder andere empfinden es als bedrohlich – und dann gibt es sogar Leute, die bemerken es gar nicht. (lacht)
Was ich damit sagen will: Der Monolith ist nichts anderes als ein Symbol, das für die Offenheit und Durchlässigkeit unserer Musik steht, wenn es um individuelle Interpretationsräume geht.
»Wir triggern die Regisseure, dem jeweiligen Song eine gewisse Bedeutung zu verleihen.«
MYP Magazine:
Dieser Monolith ist selbstverständlich auch im allerersten Musikvideo zu sehen, das Ihr zum neuen Album veröffentlicht habt. Mit dem Clip zum Track „Flown“ werft ihr den Blick in das Leben eines alten Mannes, der von tiefen Sehnsüchten und fast kindlichen Träumen getrieben zu sein scheint. In unserer jugendfixierten Gesellschaft ist das ein Narrativ, das kaum bedient wird. Alte Menschen haben auch alt zu denken, zu fühlen und zu handeln. Wie geht ihr damit um, dass das Video dem Song nun eine konkrete Bedeutungsebene gibt, die ihr ja eigentlich offen halten wolltet?
Ólafur:
Das passiert, wenn man einem Regisseur völlige Freiheit lässt. (grinst) Aber im Ernst: Es war schon immer Teil unserer Philosophie, den Filmemachern, die unsere Songs in Form von Musikvideos interpretieren, maximalen Freiraum zu geben. Das war bei Greg Barnes, der „Flown“ inszeniert hat, nicht anders. Es gab immer nur eine einzige Vorgabe: Der Monolith muss in irgendeiner Art und Weise in dem Video vorkommen. Dadurch triggern wir die Regisseure natürlich, dem jeweiligen Song eine gewisse Bedeutung zu verleihen. Was sie daraus aber am Ende machen, ist ihre Sache.
»Die Realisierung von Visionen ist bei mir eher der Normalzustand.«
MYP Magazine:
Der alte Mann im Video verfolgt einen großen Traum: Er möchte fliegen können. Wann hattet Ihr das letzte Mal in Eurem Leben einen ähnlich großen, unerfüllten Wunsch, den Ihr unbedingt in die Tat umsetzen wolltet?
Janus:
Mein größter Lebenstraum war es immer, im Tourbus schlafen zu können.
Alle lachen.
Janus:
Nein, wirklich. Das hat mich in den letzten Jahren immer wieder an den Rand des Wahnsinns getrieben. Mir fällt das echt schwer. Mittlerweile funktioniert es ganz okay, weil ich auf Tour auf fast alles verzichte: auf Alkohol, auf Nikotin, auf Kaffee. Dadurch bin ich zwar recht langweilig geworden, aber immerhin kann ich schlafen.
Ólafur: (überlegt)
Ich glaube, in mir gibt es keinen unerfüllten Wunsch. In meinem Leben war es schon immer so, dass ich die Ideen, die mir in den Kopf kommen, auch direkt in die Tat umsetzen will, was wiederum sehr viel Zeit erfordert und mit noch mehr Arbeit verbunden ist. Die Realisierung von Visionen ist bei mir also eher der Normalzustand.
Janus:
Wenn ich auf die Frage ein zweites Mal antworten darf: Für mich geht es eher darum, in den Fluss der Dinge zu kommen. Es gibt keine einzelne Vision, die ich realisieren will – für mich zählt viel mehr, ständig in Bewegung zu sein. Wie man seine Tage verbringt, so verbringt man sein Leben.
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Interview & Text: Jonas Meyer
Fotografie: Maximilian König
instagram.com/studio.maximilian.koenig
maximilian-koenig.com
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Mit ihrem neunten Album »That’s Alright« melden sich The Baseballs fulminant zurück. Zwar ist das einstige Trio jetzt nur noch zu zweit, der Qualität ihrer Musik tut das aber keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil: Hinter der für die Band so typischen, Hüftschwung-evozierenden Rock’n’Roll-Stilistik versteckt sich eine neue Nachdenklichkeit. Ein Interview über den Soundtrack einer ganzen Generation, Homophobie im Musikgeschäft und Rock’n’Roll als Ausdruck von Rebellion – damals wie heute.
29. September 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Stefan Hobmaier
Rebellion, so groß und ungestüm sie klingen mag, vollzieht sich manchmal im ganz Kleinen. Wie etwa, in der Schule Jeans zu tragen – zumindest im Westdeutschland der Fünfziger. „Wenn einer damit gekommen ist, wurde er wieder heimgeschickt“, erinnert sich Claus-Kurt Ilge, Jahrgang 1942, in einem NDR-Beitrag.
Für Jugendliche wie ihn war die junge Bundesrepublik nicht der harmlos-beschauliche Ort, wie er über die letzten Jahrzehnte immer wieder romantisiert wurde – Stichwort Nierentische, Petticoats und Mercedes-Heckflossen. Ganz im Gegenteil: Die BRD bedeutete für ihn bürgerliche Enge, mit autoritären Gesellschaftsstrukturen, traditionellen Rollenbildern und der dahinplätschernden „Moldau“ auf dem Plattenteller beim gemeinsamen Sonntagsfrühstück. „Das hat uns alles angekotzt“, verriet Ilge dem NDR.
Und während seine Eltern und Großeltern die Anwesenheit der Besatzungsmächte als große Schmach empfanden, machte der junge Claus-Kurt durchweg positive Erfahrungen mit den Amis. Alles, was aus den USA kam, faszinierte ihn: Donuts, Ice-Cream, Straßenkreuzer, Hollywood – und ganz besonders die Musik, die sich in einem einzigen Namen manifestiert: Elvis Presley.
Als Elvis 1958 als GI nach Deutschland kam, um seinen Wehrdienst anzutreten, standen die Teenager der Bundesrepublik Kopf. „Das war unser Idol, unser Vorbild, und wir haben das hautnah gehabt“, erinnert sich Ilge. Dass er dem „King“ auch bald persönlich begegnen und sogar sein persönlicher Zeitschriften-Zuträger werden sollte, ist eine andere Geschichte, die NDR-Redakteurin Ulrike Bosse in ihrem Beitrag „Rock me!: Rock’n’Roll wird zum Soundtrack einer Generation“ erzählt.
Dass die Faszination für diesen Soundtrack bis heute anhält, zeigt unter anderem die Existenz von The Baseballs. Seit 2007 hat sich die Band voll und ganz dem Rock’n’Roll verschrieben, sei es mit selbst geschriebenen Songs oder den Cover-Versionen weltbekannter Hits aus Pop, Rock und R’n’B. Seitdem haben The Baseballs ganze acht Alben veröffentlicht, mit „That’s Alright“ ist gerade ihr neuntes erschienen.
Wer sich die Mühe macht, auf die Texte hinter den prägnanten Rock’n’Roll-Rhythmen zu achten, wird feststellen, dass die Band eine gewisse Nachdenklichkeit ereilt hat. Vielleicht, weil das eben so ist, wenn man gerade die 40er-Marke im Leben überschritten hat. Vielleicht aber auch, weil Sebastian „Basti“ Rätzel und Sven „Sam“ Budja nach dem Ausscheiden ihres Gründungsmitglieds Rüdiger „Digger“ Brans nun nur noch zu zweit unterwegs sind.
Vor einigen Wochen haben wir Sam und Basti im Studio von Fotograf Stefan Hobmaier zum Interview getroffen. Im Vorfeld hatten wir ihnen versprochen, uns nicht danach zu erkundigen, wie lange das Frisieren ihrer Haarpracht dauere – denn diese Frage würde ihnen mit Abstand am häufigsten gestellt. Wir wären auch nicht auf die Idee gekommen. Immerhin geht’s im Rock‘n’Roll um Rebellion. Sogar noch heute.
»Wir haben uns die Freiheit genommen, diese bisher unbekannte Seite unserer Gefühlswelt sichtbar zu machen.«
MYP Magazine:
Sam und Basti, bei der Songauswahl auf Eurem neuen Album hat man den Eindruck, dass Ihr euch thematisch mit dem Ende eines langen Kapitels und dem Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt auseinandersetzt. Was genau verarbeitet Ihr da?
Basti:
Neuanfang ist definitiv eines der Hauptthemen. Alles andere wäre auch seltsam, immerhin sind wir nach all den Jahren nur noch zu zweit unterwegs. Unser Ziel war, uns musikalisch aus alten Fahrwassern herausbewegen, sowohl bei den gecoverten Songs als auch bei den eigenen Nummern. Ich glaube, das ist uns ganz gut gelungen – auch, weil wir mit den vielen Facetten, die diese Retromusik hergibt, mehr gespielt haben.
Sam:
Das war etwas total Neues für uns. Früher haben wir einfach nur poppige, leichte und eingängige Rock’n’Roll-Songs geschrieben und dafür auch gerne mal auf klischeehafte Formulierungen zurückgegriffen – vielleicht sogar, um schneller ans Ziel zu kommen. Aber das ist jetzt Vergangenheit.
Bei dem neuen Album haben wir uns zum ersten Mal gefragt: Was bewegt uns eigentlich? Welche eigenen Gefühle gibt es, die wir in den Songs zum Thema machen wollen? Das hat unserer Musik bis dahin gefehlt. Es ging bei The Baseballs immer nur darum, eine gute Zeit zu haben und mit den Leuten zu feiern. Das hat sich zwar nicht geändert – unsere Shows machen nach wie vor richtig viel Spaß. Aber auch in unserem Leben gibt es immer wieder Momente, in denen nicht alles so locker, leicht und schön ist, wie es von außen scheint. Daher haben wir uns nun die Freiheit genommen, diese bisher unbekannte Seite unserer Gefühlswelt sichtbar zu machen.
MYP Magazine:
„It’s alright, it’s okay / To be sad on a summer day“
Basti:
Ja, zum Beispiel. Für uns ist es schön zu sehen, dass sich Nummern wie „Sad On A Summerday“ zu echten Fan-Lieblingen gemausert haben. Das zeigt uns: Die Leute sind bereit, auch schwere Gefühle in unserer Musik zuzulassen. Daher haben wir bei der Arbeit an dem neuen Album von Anfang an gesagt: Wir scheißen auf das Genre. Der Plan ist, erst mal gute Songs zu schreiben und ihnen dann unser typisches Rock’n’Roll-Outfit zu verpassen.
»Man könnte sagen: Wir sind eine Partyband mit Anspruch.«
MYP Magazine:
Viele der 13 Album-Tracks haben auf der lyrischen Eben ein eher ernsteres Anliegen: „As It Was“ von Harry Styles zu Beispiel behandelt Themen wie Einsamkeit und Depression. Und in „About Damn Time“ von Lizzo geht es um die Bewältigung einer schweren Lebensphase. Worin liegt für Euch der Reiz, diese inhaltliche Ernsthaftigkeit mit energetischer Rock’n’Roll-Musik zu verbinden?
Basti:
Ich fand diese Dualität in der Musik schon immer spannend. Und wenn ich selbst derjenige sein darf, der sie erschafft: umso besser! Eines meiner Lieblingsbeispiele ist „Chasing Cars“ von Snow Patrol – eine hochemotionale, tiefsinnige Ballade, die wir 2010 gecovert hatten. Mir hat es einen Riesenspaß gemacht, die musikalische Persönlichkeit des Songs komplett zu drehen, dabei aber die inhaltliche Aussage nicht anzutasten.
Sam:
Es scheint in der Popwelt ohnehin gerade ein Trend zu sein, dieses Spannungsfeld zu erzeugen.
Basti:
Stimmt. Es gibt Songs von Harry Styles oder Taylor Swift, die sich beim ersten Hören einfach nur nach gefälligem Pop anfühlen. Aber wenn man auf die Lyrics achtet, merkt man, dass da schon ein bisschen mehr dahintersteckt. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum solche Künstler*innen vielleicht ein kleines bisschen erfolgreicher sind als andere – weil da am Ende etwas bleibt. Und weil darin sowohl diejenigen etwas finden, die einfach nur gefällige Popmusik hören wollen, als auch die Leute, die mehr Inhalt brauchen. Und diese Spannweite findet man auch bei The Baseballs. Man könnte sagen: Wir sind eine Partyband mit Anspruch.
»Als Ostdeutscher hat man gelernt, Texte anders zu hören.«
MYP Magazine:
Wie gelingt Euch dieser Spagat?
Sam:
Die Herausforderung ist, nicht verkopft zu klingen. Auch wenn ein Song inhaltlich ziemlich in die Tiefe geht, ist es wichtig, dass er trotzdem nicht die Leichtigkeit verliert, die für die Musik der Fünfziger- und Sechzigerjahre so charakteristisch ist…
Basti:
… wobei auch in jener vermeintlichen Leichtigkeit immer wieder Themen wie Rassismus oder Diskriminierung behandelt wurden. Allerdings ist das kaum mehr wahrnehmbar, da die Sprache von damals heute eher niedlich und harmlos wirkt – wie übrigens bei der Musik in der DDR. Ich persönlich bin ja ostsozialisiert und erinnere mich noch gut daran, dass die Künstler*innen damals eine ganz eigene Lyrik für ihre Songtexte entwickelt hatten. Die war so blumig, dass man keine problematischen oder besser gesagt regimekritischen Stellen identifizieren konnte. Aber als Ostdeutscher hat man gelernt, Texte anders zu hören und die darin versteckte Kritik zu identifizieren.
»Ich dachte, was ist das denn für ein dummer Reim, den ich da so halb im Ohr hatte?«
MYP Magazine:
Lernt man einen Song von einer anderen Seite kennen, wenn man versucht, daraus ein Cover zu machen?
Basti:
Eindeutig ja. „Cruel Summer“ von Taylor Swift zum Beispiel war ein Song, den ich immer wieder irgendwo im Radio gehört hatte und bei dem ich instinktiv dachte, dass er sich gut für ein Cover eignen würde. Aber inhaltlich hatte ich mich nie damit auseinandergesetzt, ganz im Gegenteil. Ich fragte mich eher, was ist das für ein dummer Reim, den ich da so halb im Ohr hatte? „And it’s new, the shape of your body, it’s blue” – damit konnte ich überhaupt nichts anfangen. Erst beim Covern habe ich bemerkt, dass der Satz in der nächsten Zeile fortgesetzt wird: „It‘s blue / The feeling I’ve got“. Das ist richtig smart gemacht!
Sam:
Ja, oder „Unwritten“ von Natasha Bedingfield. Auch das ist so ein typischer Radio-Song, bei dem man erst in der Cover-Arbeit merkt, wie genial er komponiert, arrangiert und produziert ist.
»Aus einem Stück, in dem Eric Clapton den Tod seines vierjährigen Sohnes verarbeitet, kann ich einfach keine happy Rock’n’Roll-Ballade machen.«
MYP Magazine:
Gibt es Songs, die Ihr nicht covern würdet?
Sam:
Ich antworte mal aus einer anderen Perspektive: Es gibt für uns im Grunde nur zwei Anforderungen, die ein Song erfüllen muss, damit wir ihn uns vornehmen: Erstens muss er sich aus musikalischer Sicht eignen. Und zweitens muss das Ganze moralisch vertretbar sein.
Basti:
Daher würde ich zum Beispiel einen Song wie „Tears in Heaven“ nie für ein Cover in Betracht ziehen. Aus einem Stück, in dem Eric Clapton den Tod seines vierjährigen Sohnes verarbeitet, kann ich einfach keine happy Rock’n’Roll-Ballade machen.
Sam:
Aber davon abgesehen gibt es für uns keine Beschränkungen. Und je weiter weg der Musikstil eines Originalsongs vom Fünfzigerjahre-Rock’n‘Roll ist, desto interessanter wird es für uns. Das klappt natürlich nicht immer – wir haben uns in der Vergangenheit schon oft den Kopf verrenkt und es am Ende doch nicht geschafft, ein brauchbares Cover zu bauen.
»Es gibt den einen oder anderen Artist, bei dem man sich denkt: Och nee, der ist echt so cheesy, das können wir nicht machen.«
MYP Magazine:
Wir hatten hier im Studio vor Kurzem die österreichische Band Wanda zu Gast. Im Interview verriet uns der Sänger Marco:
„Kurz bevor wir ins Studio gegangen sind, hing ich in einer sehr komischen und wilden Harry-Styles-Phase fest. Ich war regelrecht besessen von ihm und wollte sogar kurz mal er sein. Seine Musik hat irgendwie auf mich abgefärbt und ich habe ein bisschen was Unreines mit in die Probe gebracht.“
Hattet Ihr in der Vergangenheit auch mal eine Fanboy-Phase, in der Ihr „ein bisschen was Unreines in die Probe gebracht“ habt? Immerhin findet sich auch auf Eurem neuen Album ein Harry-Styles-Cover.
Sam:
Wir sind die reinste Band der Welt! Aber im Ernst: Es gibt schon den einen oder anderen Artist, bei dem man sich denkt: Och nee, der ist echt so cheesy, das können wir nicht machen.
MYP Magazine:
Zum Beispiel?
Sam:
David Hasselhoff. Als im Proberaum irgendwann mal der Vorschlag aufkam, „Looking for Freedom“ zu covern, haben alle ganz tief Luft geholt. Klar, die Nummer kennt man und hat sie sofort im Ohr. Und durch Baywatch und Knight Rider ist David Hasselhoff auch so etwas wie ein Hero der Achtziger und Neunziger. Aber zwischenzeitlich war er doch ziemlich in den Trash-Bereich abgedriftet, bevor er dann zum Kult wurde.
»Bei vielen Songs muss man erst mal die Kitschfassade einreißen, bevor man sich ans Covern macht.«
MYP Magazine:
Immerhin hat David Hasselhoff nach eigenen Angaben die Berliner Mauer niedergesungen.
Sam: (lacht)
Genau. David Hasselhoff ist heute Kult. Aber ein Kult, der aus Kitsch hervorgegangen ist. Daher waren wir am Anfang eher skeptisch und hatten das Gefühl, dass ein Cover vielleicht noch viel trashiger werden könnte. Aber nach einigem Hin und Her haben wir uns dazu durchgerungen und aus dem Song eine richtig geile Gospel-Variante gemacht. Und siehe da: Die Leute kamen nach den Shows zu uns und sagten, unsere Version hätten sie viel, viel besser und anspruchsvoller gefunden als das Original.
Basti:
Eine Nummer, die wir eigentlich auch immer mal machen wollten, ist „Wrecking Ball“ von Miley Cyrus. Durch das Video mit der Abrisskugel wirkt das Ganze zwar ebenfalls echt cheesy, aber wenn man den Aspekt mal beiseiteschiebt, stellt man fest, was für ein geniales Lied das ist. Bei vielen Songs muss man eben erst mal die Kitschfassade einreißen, bevor man sich ans Covern macht.
»Ich fände es äußerst problematisch, wenn wir als Band versuchen würden, uns diese Frauenpower anzueignen.«
MYP Magazine:
Vielleicht passt „Flowers“ von Miley Cyrus ja noch besser zu Euch.
Basti:
Diese Idee stand auch mal kurz im Raum. Aber ich habe mich ganz klar dagegen ausgesprochen. Ich finde, der Song funktioniert nur aus der Perspektive einer Frau – und ich meine damit nicht die Frage, ob sich ein Mann selbst Blumen kaufen kann. In dem Lied geht es um weibliche Selbstermächtigung und Frauenpower. Wenn da jetzt schon wieder zwei Männer um die Ecke kämen, und dann noch mit Tolle, würde das ein Image befördern, das aus wirklich anderen Zeiten stammt – und da auch hingehört. Ich fände es äußerst problematisch, wenn wir als Band versuchen würden, uns diese Frauenpower anzueignen.
»Als Sam vor Kurzem 40 wurde, habe ich gesagt: Wir sind jetzt offiziell eine Altherrenband.«
MYP Magazine:
Während Ihr mit Euren letzten beiden Alben hauptsächlich Hits der Achtziger und Neunziger gecovert habt, schaut Ihr mit der neuen Platte vor allem auf die Nuller- und Zehnerjahre zurück. Der Song „Whole Again” von Atomic Kitten zum Beispiel wurde im Jahr 2000 veröffentlicht – das ist jetzt fast ein Vierteljahrhundert her. Mit welchen Nostalgiegefühlen blickt Ihr auf diese Zeit zurück?
Basti:
Im Jahr 2000 war ich zarte 17 und hauptsächlich damit beschäftigt, erwachsen zu werden. Wie lange das zurückliegt, habe ich erst neulich wieder bemerkt, als ich in einem Berliner Club stand. Es lief Musik der Neunziger- und Nullerjahre und ich war erstaunt, dass die 20-Jährigen um mich herum darauf so abgingen. Im ersten Moment dachte ich: Geil, die feiern die gleiche Musik wie ich. Aber dann habe ich bemerkt, dass ich auf einer Oldies-Party. Das war in etwa so, als hätten wir damals als Teenager zu Abba getanzt.
Sam:
Auch für mich waren die frühen Nullerjahre eine wahnsinnig aufregende Zeit. Ich war 18, hatte eine eigene Band und kam zum ersten Mal mit einem Leben in Berührung, in dem man als Musiker permanent unterwegs ist.
Basti:
Als Sam vor Kurzem 40 wurde, habe ich gesagt: Wir sind jetzt offiziell eine Altherrenband. 2007, also mit Mitte 20, haben wir als Boyband angefangen und zwei Jahre später unser erstes Album veröffentlicht. Das heißt, 2024 feiern wir 15 Jahre Albumdebüt – 15 Jahre, das ist echt ein Brett in unserem Business.
Sam:
Hätte man uns damals gesagt, dass wir 15 Jahre später immer noch Alben veröffentlichen und Shows spielen würden, hätten wir das nicht geglaubt. Es hätte uns auch in der Branche niemand zugetraut. Die Leute hatten uns maximal drei Jahre gegeben. Und jetzt gehören wir schon fast zum alten Eisen – das aber kein bisschen rostet.
»Erwachsen zu sein heißt für uns, wirklich alles selbst zu machen und nicht mehr auf andere angewiesen zu sein.«
MYP Magazine:
Manchmal macht man ohnehin die beste Musik, wenn man erwachsen ist.
Basti:
Vielleicht. Erwachsen zu sein heißt für uns aber in erster Linie, wirklich alles selbst zu machen und nicht mehr auf andere angewiesen zu sein. Es gibt kein Label mehr, das uns reinredet, wir haben alles in der eigenen Hand. Das ist zwar super viel Arbeit, macht aber auch super viel Spaß. Allein deshalb bin ich der Meinung, dass „That’s Alright“ das beste Album ist, das wir je gemacht haben – auch wenn ich weiß, wie klischeehaft sich das anhört.
Sam: (lächelt)
Ich probier’s mal etwas sachlicher als Basti. Aus meiner Sicht ist die neue Platte die reifere Version unseres allerersten Baseballs-Albums – und genau das macht es für mich so aufregend. Nach all der Zeit ist es uns immer noch möglich, neue musikalische Facetten zu entdecken. Es ist uns immer noch möglich, neue Wege einzuschlagen und nicht das Gefühl zu haben, man hätte schon alles ausprobiert und erlebt.
Basti:
Ich finde, es prickelt wieder so richtig.
Sam:
Das ist das Rheuma, Basti.
Basti: (lacht)
So schlimm ist es Gott sei Dank noch nicht. Aber im Ernst: Wir spüren, dass der Funke immer noch da ist. Ich würde sagen, wir verfügen gerade über die perfekte Mischung aus Erfahrung und Neugier. Und ich hoffe, das spüren auch die Fans. Es gibt ja viele tatsächliche Altherrenbands, die seit über 40 Jahren im Geschäft sind, aber keine Freude mehr vermitteln. Wenn die Leute das Gefühl haben, die Rente wäre für eine Band die deutlich bessere Option, sollte man auch wirklich aufhören.
»Greatest Hits – so ein Titel wäre uns sicher als Arroganz ausgelegt worden.«
MYP Magazine:
Das neue Album besteht aus neun Cover-Songs und vier eigenen Nummern. Wird es in Zukunft mehr Selbstgeschriebenes von The Baseballs geben?
Sam:
Gut möglich. Bereits für dieses Album hatten wir von Anfang an das Ziel ausgegeben, mehr eigenes Material zu schreiben. Dementsprechend haben wir uns auch zuerst mit den eigenen Songs und dann erst mit den Cover-Nummern beschäftigt – denn die wollten wir natürlich nicht außer Acht lassen. Allerdings haben wir uns davon frei gemacht, uns bei der Auswahl der Lieder auf ein bestimmtes Jahrzehnt zu beschränken. Im Gegensatz zu den beiden Alben davor gab es diesmal kein Konzept.
Basti:
Wir hatten uns bei der Suche nach möglichen Coversongs schlicht und einfach die Frage gestellt: Welche großen Hits und Artists sind bisher an uns vorbeigegangen? Lustigerweise war das derselbe Ansatz wie 2007 bei unserem allerersten Album: Wir hatten auch nach den großen Hits gesucht und geschaut, ob sie sich für ein Cover eignen. Daher hatte ich vor 15 Jahren auch vorgeschlagen, unser Debütalbum „Greatest Hits“ zu nennen. Ich hätte das ganz geil gefunden – aber so ein Titel wäre uns sicher als Arroganz ausgelegt worden.
»In Skandinavien gibt es bereits einen besonderen Nährboden für das, was wir so machen.«
MYP Magazine:
In den mittlerweile 17 Jahren Eurer Bandgeschichte wart Ihr auch in den skandinavischen Ländern sehr erfolgreich. Ist Rock’n’Roll die beste Medizin gegen wenig Licht und lange Winter?
Sam:
Tatsächlich wurde uns im Laufe der Zeit immer wieder die Frage gestellt, was der Grund für den Erfolg in diesen Ländern sei. Wir hatten darauf nie eine Antwort – Rock’n’Roll als Mittel gegen die Witterungsverhältnisse wäre da zumindest eine plausible Erklärung. Wir haben das am eigenen Leib erlebt: Als wir während unserer allerersten Promophase in Finnland unterwegs waren, wurde es nie wirklich hell.
Basti:
Auf jeden Fall gibt es in Ländern wie Finnland, Schweden oder Norwegen eine lange Rock’n’Roll-Tradition, und das nicht nur, was die Musik angeht. Es gibt etliche Rock’n’Roll-Feste, man sieht auf den Straßen viele Oldtimer aus den Fünfzigern und Sechzigern und so weiter und so fort. Das heißt: In Skandinavien besteht bereits ein besonderer Nährboden für das, was wir so machen.
Sam:
Dennoch ist Rock‘n‘Roll auch außerhalb Skandinaviens ein Genre, das im positiven Sinne massenkompatibel ist. Mit dieser Musik erreicht man Menschen über alle Altersgrenzen hinweg.
Basti:
Ich erinnere mich noch gut, wie unsere damalige Plattenfirma in der Schweiz uns mitteilte, dass man es aufgegeben hätte, unsere Zielgruppe demografisch einzusortieren – denn es war schlicht nicht möglich. Von 13 bis 73 waren alle Altersklassen war alles dabei. Und das ist auch heute noch so.
»Solange es Liebe gibt auf dieser Welt, werden sich die Menschen auch mit Songs über die Liebe identifizieren.«
MYP Magazine:
Auch auf künstlerischer Seite scheint der Rock’n’Roll nicht auszusterben. Elliot James Reay und Stephen Sanchez etwa, die zu den prominentesten Gesichtern einer jungen Rock’n’Roller-Generation zählen, erreichen mit ihrer Musik allein auf TikTok Abermillionen Menschen. Stephen Sanchez erklärte uns letztes Jahr in einem Interview:
„Ich habe das Gefühl, dass die Musik der Fünfziger- und Sechzigerjahre für die Zukunft geschrieben wurde. Sie ist so zeitlos und immer noch so universell, weil sie sich auf ein Konzept stützt, zum Beispiel: Ich habe mein Herz an sie verloren. Für mich ist diese Musik so besonders, weil sie einfach ist. Sie versucht nicht, schmutzig, provokativ oder protzig zu sein. Sie ist einfach und direkt, als ob sie sagen würde: Ich habe einen Fehler gemacht und liebe dich trotzdem. In dieser Einfachheit liegt eine große Schönheit.“
Seht Ihr das ähnlich?
Sam:
Hmm… die Musik damals war schon auch sehr provokativ und aggressiv. Das nehmen wir heute nur nicht mehr so wahr, weil es mittlerweile viel mehr Genres gibt, die auf andere und oft auch lautere Art und Weise provozieren. So, wie sich Elvis Presley in den Fünfzigern zu „Tutti Frutti“ bewegt hat, war das ein handfester Skandal – weil es als sexuell anstößig galt. So ein Aufsehen schafft heute höchstens noch jemand wie Lady Gaga, wenn sie sich mit einem Kleid aus Fleischfetzen zeigt.
Basti:
Wo Stephen Sanchez allerdings einen Punkt hat, ist die Zeitlosigkeit der Themen, vor allem, was zwischenmenschliche Beziehungen angeht. Solange es Liebe gibt auf dieser Welt, werden sich die Menschen auch mit Songs über die Liebe identifizieren.
»Was viele Leute nicht wissen: Elvis hat sich für die Gleichstellung der Schwarzen Bevölkerung eingesetzt.«
MYP Magazine:
Basti, vor Kurzem warst Du in der Late-Night-Show von Dragqueen Jurassica Parka zu Gast, die im Laufe des Abends die Bemerkung fallen ließ, dass sie Elvis Presley scheiße fände.
Sam: (lächelt)
Solche Kommentare gibt es immer wieder. Aber was viele Leute nicht wissen: Elvis war ein entschiedener Gegner der sogenannten Rassentrennung und hat sich für die Gleichstellung der Schwarzen Bevölkerung eingesetzt. Martin Luther King zum Beispiel war ein großes Vorbild für ihn. Und Little Richard, der wie viele andere Schwarze Artists von Elvis gefördert wurde, hat ihn als seinen Bruder bezeichnet.
Basti:
Interessanterweise hatte Elvis Presley selbst mit Diskriminierung zu kämpfen, und zwar ganz am Anfang seiner Karriere. Die weißen Radiosender wollten ihn nicht spielen, weil ihnen seine Stimme zu Schwarz klang. Und die Schwarzen Radios wollten ihn nicht spielen, weil er ein Weißer war.
»In den Kommentarspalten lesen wir immer wieder mal, wir würden die heutigen Realitäten nicht sehen.«
MYP Magazine:
Seid auch Ihr als Band mit bestimmten Vorurteilen konfrontiert? Immerhin seid Ihr zwei Menschen des 21. Jahrhunderts, die sich mit der Musik ihrer Großeltern beschäftigen.
Basti:
Klar, bei einigen Leuten schwingt immer ein bestimmtes Set an Vorurteilen mit, wenn sie uns sehen. Schließlich erinnern unsere Outfits an eine Zeit, die längst vergangen ist. Daraus ziehen manche den Schluss, dass wir auch in unserer Weltanschauung ein bisschen rückwärtsgewandt seien. In den Kommentarspalten lesen wir immer wieder, wir würden die heutigen Realitäten nicht sehen. Das finde ich immer besonders amüsant. Würde man sich nur ein kleines bisschen mit dem auseinandersetzen, wer wir sind und was wir tun, würde man wissen, dass wir uns schon immer sehr deutlich für Vielfalt ausgesprochen und uns gesellschaftspolitisch klar positioniert haben.
»Der Rock’n’Roll war für junge Menschen in der Bundesrepublik ein wirksames Mittel, um sich von der Kleinbürgerlichkeit ihrer Eltern abzugrenzen.«
MYP Magazine:
Vor wenigen Monaten haben wir in Deutschland 75 Jahre Grundgesetz gefeiert. Was viele nicht wissen: In der noch jungen Bundesrepublik hatte Rock’n’Roll aus den USA eine ganz besondere Bedeutung – er war die Musik einer jungen Generation, die sich nach Aufbruch und Freiheit sehnte und die sich von ihren Eltern lossagen wollte. Wie stellt Ihr euch diese Zeit und die damaligen Lebensumstände vor? Hat der Rock’n’Roll aus Eurer Sicht eine Revision verdient?
Basti:
Rock’n’Roll war damals der Soundtrack der Jugend. Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Diese Musik hat in den Fünfzigern dafür gesorgt, dass Jugendliche zum ersten Mal überhaupt als eigene Gruppe innerhalb der Gesellschaft wahrgenommen wurden. Und da die Bundesrepublik damals stellenweise konservativer war als zum Ende der Weimarer Republik, war der Rock’n’Roll für junge Menschen ein wirksames Mittel, um sich von der Kleinbürgerlichkeit ihrer Eltern abzugrenzen. Die Jahre nach 1949 waren in Deutschland spießig, miefig und strukturell sehr autoritär – auch, weil in den Gerichten, Lehrerzimmern und Parlamenten immer noch etliche Altnazis saßen. In diesem erzkonservativen Umfeld hat der Rock’n‘Roll für erste Erschütterungen und Freiheitsbewegungen gesorgt, und das lange vor den Achtundsechzigern.
»Wir sind ein Stück weit der Beweis dafür, dass dieser Musikstil nie an Relevanz verloren hat.«
MYP Magazine:
Aber dann passierte das, was immer passiert im Kapitalismus.
Basti: (lächelt)
Stimmt. Es hat nicht lange gedauert, bis man erkannt hat: Junge Menschen – das ist ja eine Zielgruppe, mit der man Geld verdienen kann! Und so wurde der Rock’n’Roll relativ schnell weichgespült und in den Sechzigern sogar eingeschlagert. Das schmälert aber nicht seine gesellschaftspolitischen Verdienste.
Sam:
Ja, aber auch aus musikalischer Sicht kann man ihn als die Basis von allem betrachten, was sich daraus über die folgenden Jahrzehnte entwickelt hat. Die Rolling Stones oder die Beatles zum Beispiel wären ohne den Rock’n’Roll nicht denkbar gewesen. Oder Elton John, der zwar eher im Bereich Disco-Pop angesiedelt ist, aber in dessen Klavierspiel man deutlich Rock’n’Roll-Elemente erkennen kann. Der Einfluss dieser Musik reicht bis in die Gegenwart und wird auch noch in Zukunft Künstler*innen inspirieren.
Basti:
Auch wir sind ja ein Stück weit der Beweis dafür, dass dieser Musikstil nie an Relevanz verloren hat. Überhaupt gab es in den letzten 70 Jahren nie einen Punkt, an dem man hätte sagen können: Rock’n‘Roll interessiert keinen. Das ist auch der Grund, warum diese Musik nach wie vor gemacht und gehört wird, siehe Stephen Sanchez.
»In meinem Kopf schwirrte immer der Gedanke herum, mein Schwulsein könnte unser Image als Rock’n‘Roll-Band beschädigen.«
MYP Magazine:
Was in den letzten 70 Jahren allerdings die meiste Zeit undenkbar gewesen wäre: als Person des öffentlichen Lebens zu Gast in der Late-Night-Show einer Dragqueen zu sein. Gab es in der Geschichte Eurer Band Momente, in denen Bastis Homosexualität als problematisch angesehen wurde?
Basti:
Ja, die gab es tatsächlich, und zwar ganz am Anfang. Nachdem die Leute von unserem ersten Management erfahren hatten, dass ich schwul bin, riefen sie ganz hektisch bei der Plattenfirma an und fragten: „Wir haben hier ein Problem, was machen wir jetzt?“ Für unser damaliges Management schien das ein echter Supergau zu sein. Bei einem anderen Act, für den einer der Manager mal mitverantwortlich war, hatte man aus diesem Grund sogar ein Bandmitglied ausgetauscht.
Sam:
Gott sei Dank hat unsere Plattenfirma total cool reagiert. Sie verstanden das „Problem“ einfach nicht.
Basti:
Trotzdem hat das Ganze bei mir ein bisschen nachgewirkt. Nicht, dass ich meine Sexualität danach versteckt hätte. Aber ich habe sie bewusst nicht zum Thema gemacht hat. In meinem Kopf schwirrte immer der Gedanke herum, mein Schwulsein könnte unser Image als „kernig-maskuline“ Rock’n‘Roll-Band in irgendeiner Form beschädigen. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich okay damit war und dachte: scheiß drauf, ich rede jetzt ganz offen darüber. Dabei habe ich festgestellt: Wenn man sich öffnet, macht das alles nicht nur realistischer, es kommen plötzlich auch ganz andere Leute auf einen zu. Denn auch Queers hören Rock’n’Roll – wär hätte es gedacht.
»Ich wollte ein Zeichen setzen und dafür werben, trotz Putins Politik im Gespräch zu bleiben und sich vor allem über den Kulturbereich weiter auszutauschen.«
MYP Magazine:
Basti, Du hast in der Show von Jurassica Parka auch über das Thema Russland gesprochen, wo Ihr im Laufe der Jahre immer wieder aufgetreten seid.
Basti:
Als wir 2014 in auf Russland-Tour waren, habe ich mich auf dem Roten Platz in Moskau mit einem T-Shirt fotografieren lassen, das mit dem lateinischen Wort „Homo“ und dem kyrillischen Begirff für „Propaganda“ bedruckt war. Dieses Foto habe ich dann auf Social Media gepostet – mit dem Hinweis „From Russia with love“. Ich wollte einfach nur ein Zeichen setzen und dafür werben, trotz Putins Politik im Gespräch zu bleiben und sich vor allem über den Kulturbereich weiter auszutauschen. Mit der Vehemenz der Reaktionen auf dieses Posting hatte ich nicht gerechnet.
MYP Magazine:
Inwiefern?
Basti:
Während manche darüber diskutierten, ob das jetzt eher ein Coming-out oder doch ein politisches Statement gewesen sei, signalisierten uns die russischen Fans, wie wichtig und wertvoll dieser Post für sie gewesen war – denn er machte nicht nur die Lage speziell von queeren Menschen in Russland sichtbar, sondern auch ganz allgemein die Situation all jener, die sich gegen das immer autokratischer werdende Regime stellen. Heutzutage wäre so eine Aktion viel zu gefährlich – nicht nur für mich, sondern auch für alle, die in Russland so einen Post liken würden.
»Es würde uns nicht schaden, wenn wir alle mal eine Woche Social-Media-frei machen würden.«
MYP Magazine:
Auch in Deutschland gerät die Demokratie zunehmend in Gefahr, insbesondere mit dem Erstarken einer in Teilen gesichert rechtsextremen Partei wie der AfD. Wie blickt Ihr auf die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Land?
Sam:
Dass sich unsere Gesellschaft gerade so entwickelt, macht mir große Sorgen. Allein schon, weil ich den Eindruck habe, dass viele Menschen gar nicht mehr bereit sind, miteinander in Austausch zu gehen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es immer schwieriger wird, bestimmte Leute in einem normalen Gespräch zu erreichen.
Basti:
Dieses fehlende Verständnis füreinander macht auch mir am meisten Sorgen. Dazu kommt dieses Missverständnis von Meinungsfreiheit. Immer mehr Leute sind der Auffassung, Meinungsfreiheit würde bedeuten, dass ihre eigene Meinung unwidersprochen bleiben müsse. Dass aber bereits darin die Begrenzung der Meinungsfreiheit von anderen liegt, die natürlich ihre Gegenmeinung äußern dürfen, geht ihnen nicht in den Kopf. Wo soll denn da der Austausch stattfinden?
Sam:
Die Stimmung ist so aufgeheizt, dass es uns nicht schaden würde, wenn wir alle mal eine Woche Social-Media-frei machen würden.
»Bei unseren Konzerten kommen immer so unterschiedliche Menschen zusammen, dass man meinen könnte, es wäre Europameisterschaft.«
MYP Magazine:
Vielleicht müssten die Leute öfter mal ein Baseballs-Konzert besuchen.
Basti:
Ja, tatsächlich. Bei unseren Konzerten kommen immer so unterschiedliche Menschen zusammen, dass man meinen könnte, es wäre Europameisterschaft: eine bunte, glückliche Gemeinschaft von Leuten, die ein gemeinsames Erlebnis genießen wollen. In dem Zusammenhang fand ich auch das Statement von Julian Nagelsmann so erfrischend, der sagte: Leute, lasst doch mal weniger meckern und uns einfach an dem erfreuen, was wir haben! Lasst doch mal mehr miteinander statt gegeneinander denken!
Sam:
Musik ist die universellste Sprache, die es gibt. Die versteht jeder, ganz egal, woher man kommt, wie man aussieht, wen man liebt oder woran man glaubt.
»Für viele Dreierkombos bedeutet das Ausscheiden eines Bandmitglieds das sichere Ende.«
MYP Magazine:
Ihr sprecht die Sprache der Musik seit mittlerweile 17 Jahren. Was habt Ihr euch für die nächsten 17 Jahre vorgenommen? Ist die Geschichte der Baseballs erst dann auserzählt, wenn Ihr nur noch eigene Songs schreibt und von anderen gecovert werdet?
Sam: (lächelt)
Sollte es irgendwann eine Baseballs-Tribute-Coverband geben, haben wir’s wirklich geschafft.
Basti:
Wir haben gar nicht das große Ziel. Wir wollen einfach weiter erfolgreich sein, auf Tour gehen und den Leuten eine gute Zeit bescheren. Wenn wir das in 17 Jahren noch mit der gleichen Freude, dem gleichen Elan und der gleichen Neugier machen können, bin ich mehr als happy. Um es mit den Worten von Natasha Bedingfield zu sagen: „The rest is still unwritten.“
Sam:
Man muss auch immer bedenken: Für viele Dreierkombos bedeutet das Ausscheiden eines Bandmitglieds das sichere Ende. Aber Basti und ich haben so viel Spaß an der Sache und hängen so sehr mit dem Herzen daran, dass wir gesagt haben: Das kann es nicht gewesen sein. Es gibt noch so viel, was wir mit dieser Band tun möchten. Es gibt etliche Bühnen auf dieser Welt, die wir noch nicht bespielt haben. Und den amerikanischen Markt haben wir auch noch nicht geknackt.
Basti:
Robbie Williams auch nicht. Vielleicht versuchen wir mal was mit ihm zusammen.
Sam:
Wir können ihn ja mitnehmen… als Vorband.
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Interview & Text: Jonas Meyer
Fotografie: Stefan Hobmaier
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»Radiosoul«, das dritte Studioalbum von Alfie Templeman, ist genau das Richtige, wenn über einem dunkle Wolken aufziehen – eine große Portion Funk und Soul, die vor allem mit ihren komplexen Arrangements besticht. Entstanden ist die Platte aus den persönlichen Tiefen heraus, die der 21-jährige Multi-Instrumentalist, Songwriter und Produzent in den letzten Jahren durchlebt hat. Ein Interview über musikalische Freiräume auf dem Dorf, die Macht von Algorithmen und die Frage, ob man seine Probleme in einer Tupperbox frischhalten sollte.
31. August 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Roberto Brundo
Es gibt Momente im Leben, da hängt man emotional ziemlich in den Seilen. Waschmaschine kaputt, Beziehung auch, und weder draußen vor der Tür noch drinnen im Herzen will sich richtig Sommer einstellen. Was also tun gegen den bleiernen Blues?
Am besten eine große Portion Eis! Oder noch besser: eine große Portion Funk und Soul, wie sie etwa auf dem neuen Album von Alfie Templeman serviert wird. Kein Scherz. Denn in „Radiosoul“, dem mittlerweile dritten Studioalbum des 21-jährigen Multitalents aus London, steckt so viel musikalische Energie und Lebensfreude, dass man gar nicht anders kann, als mit dem Popöchen zu wackeln, die Vorhänge aufzuziehen und mal kräftig durchzulüften in der dunklen Bude.
Das Bestechende an diesem Album ist allerdings nicht die schiere Massen an verschiedenen musikalischen Elementen, sondern ihre Zusammensetzung. Zwar spielt Alfie insgesamt elf Musikinstrumente (oder zwölf, wenn man seine oft eher instrumental genutzte Stimme mitzählt). Dennoch hat er präzise darauf geachtet, nicht einfach alles in einen Topf zu werfen und daraus einen großen Pott Londoner Allerlei zu kredenzen.
Das komplexe Arrangement der insgesamt elf Songs auf „Radiosoul“ entspricht eher einem ausgeklügelten, fein abgestimmten Menü eines Sternerestaurants, bei dem sich mit jedem Gang eine kleine Geschmacksexplosion am Gaumen vollzieht. Hört sich an wie ein Werbetext? Nee, wir meinen das wirklich ernst. Hier eine kleine Kostprobe:
Aufgewachsen ist Alfie Templeman in Carlton, einem 800-Seelen-Dorf zwei Stunden nördlich von London, von wo aus er 2018 seine musikalische Karriere startete – mit Songs, die er in seinem Kinderzimmer aufnahm und die mittlerweile Abermillionen Streams auf Spotify zählen.
Doch der 21-Jährige wirkt alles andere als abgehoben, als wir ihn Ende Mai in Berlin zu einem lauschigen Interview- und Shooting-Nachmittag treffen. Nein, Alfie freut sich geradezu darüber, nicht auf der Straße erkannt zu werden, und steht den Marktmechanismen der Musikindustrie, die mittlerweile stark von den Algorithmen sozialer Netzwerke getriebenen sind, äußerst kritisch gegenüber.
Doch reden wir erst mal über das neue Album: jene große Portion Funk und Soul, mit der sich jeder emotionale Grauschleier vertreiben lässt – und die Alfie Templeman mit einem ungewöhnlichen Hinweis zur persönlichen Problembewältigung beginnen lässt.
»Mit dem Song wollte ich mir selbst für einen kurzen Moment eine Atempause verschaffen.«
MYP Magazine:
Alfie, Du eröffnest Dein neues Album mit der Zeile „I stashed my problems in a Tupperware“. Ist das eine empfehlenswerte Strategie, um mit Sorgen und Problemen umzugehen?
Alfie Templeman: (lacht)
Leider nein – auch wenn ich versuche, mir das selbst einzureden, zumindest bei dem Song „Radiosoul“, aus dem die Zeile stammt. Wie bei jedem anderen Menschen gibt es auch in meinem Leben Dinge, die mich belasten – und ich bin jemand, der immer wieder versucht, all seine Probleme beiseitezuschieben. Mit dem Song wollte ich mir selbst für einen kurzen Moment eine Atempause verschaffen. Ich wollte mich und andere ermutigen, die eigenen Probleme mal kurz in eine Tupperdose zu stecken. Aber vielleicht sollte man das auch einfach lassen. Immerhin löst man damit kein Problem, sondern verschiebt es nur – denn in so einer Box bleiben die Probleme länger frisch… höchste Zeit eigentlich, dass ich meine Tupperware öffne und mich meinen Sorgen stelle.
»Vielleicht bleibt mir beim Songschreiben gar nichts anderes übrig, als aus meiner eigenen Realität zu schöpfen.«
MYP Magazine:
In der Pressemitteilung zu dem Album heißt es, dass es Dir schwerfällt, über Deine Gefühle zu sprechen – interessanterweise ganz im Gegenteil zu Deiner Musik, denn in den elf Songs Deines neuen Albums öffnest Du dich gegenüber Dein Publikum auf eine fast radikale Art und Weise. Bist Du von dieser Ambivalenz selbst überrascht?
Alfie Templeman:
Überrascht bin ich nicht. Ich finde es eher seltsam. Wenn ich in einem Song über meine Gefühle spreche, denke ich darüber nicht wirklich nach. Es ist vielmehr eine unterbewusste Entscheidung, meine persönlichen Empfindungen zu thematisieren. Vielleicht bleibt mir beim Songschreiben aber auch gar nichts anderes übrig, als aus meiner eigenen Realität zu schöpfen. Wer weiß: Würde ich in meiner Freizeit gerne Fantasy-Romane lesen und mich von dieser Welt inspirieren lassen, würde ich meine eigenen Texte wohl viel fiktionaler gestalten.
Alfie überlegt einen Moment.
Es passiert übrigens immer wieder, dass mir Menschen davon berichten, wie meine Musik ihnen in bestimmten Phasen ihres Lebens geholfen hat. Dabei beziehen sie sich oft auf konkrete Songtexte, in denen sie ihre eigenen Gefühle gespiegelt sehen, und wollen wissen, welche persönlichen Erlebnisse ich da verarbeitet habe. In solchen Momenten habe ich fast nie eine Antwort parat – weil ich bei den allermeisten Songs vergessen habe, aus welcher Situation heraus sie entstanden sind.
»In meinen Songs gibt es nicht allzu viele Bilder. Ich schreie immer direkt heraus, wie es mir geht.«
MYP Magazine:
Wir hatten vor Kurzem ein Interview mit der österreichischen Rockband Wanda, in dem der Frontmann sagte: „Eigentlich will ich den Text (eines Songs) gar nicht so sezieren. Es handelt sich dabei immer noch um Lyrik – und die kann niemals eindeutig sein. Selbst wenn ich eine Zeile wie der Himmel ist blau in einen Song hinein schreiben würde, gäbe es da immer noch ein riesiges Spektrum an Bedeutungen.“ Sind Deine Texte inhaltlich verbindlicher?
Alfie Templeman:
Ja, auf jeden Fall! In meinen Songs gibt es nicht allzu viele Bilder. Ich schreie immer direkt heraus, wie es mir geht. Und wenn es auf den ersten Blick nicht so glasklar ist, kann man die Bedeutung einer Zeile zumindest irgendwie erahnen, denn ich beschreibe in der Regel einfach nur das, was ich fühle.
MYP Magazine:
Dein Song „Eyes Wide Shut“ wirkt wie eine letzte große Abrechnung mit der Welt. Bildet dieses Lied ebenfalls Deinen persönlichen Gefühlszustand ab?
Alfie Templeman:
Dieser Song ist während und nach meiner letzten Tour entstanden. Damals gab es immer wieder Situationen, in denen ich super beschäftigt war und sich mein Gehirn fast überreaktiv anfühlte. Dann, im nächsten Moment, war ich plötzlich irgendwo im Nirgendwo, ganz alleine und ohne irgendeine Aufgabe. Da war nur absolute Stille. Diesen Kontrast zu erleben, fand ich sehr spannend – und daraus habe ich dann einen Song gebastelt.
»Die großen Ohren sollen zeigen, wie es sich anfühlt, wenn man eine absolute Reizüberflutung erlebt.«
MYP Magazine:
In dem Video bist Du mit übergroßen Ohren zu sehen. Welche Idee steckt hinter dieser plakativen Maske?
Alfie Templeman:
Die großen Ohren sollen zeigen, wie es sich anfühlt, wenn man eine absolute Reizüberflutung erlebt, von allem um sich herum absolut überwältigt ist und einfach nur die Stille sucht.
MYP Magazine:
Interessanterweise bestehen auch die Lyrics von „Eyes Wide Shut“ aus vielen symbolträchtigen Bildern – was für Deine Musik eher ungewöhnlich ist.
Alfie Templeman:
Das liegt vor allem daran, dass ich den Song zusammen mit meinem guten Freund Justin Hayward-Young geschrieben habe. Justin hat mir nicht nur dabei geholfen, den Text zu zerhacken, sondern mir auch bei der Bildsprache unter die Arme gegriffen. Er ist wirklich gut darin, allein mit Worten besondere Bilder zu malen. Das ist etwas, was ich selbst nicht so gut kann – aber worin ich besser werden will. Ich mag Songs wie „Eyes Wide Shut“ total, weil sie aus vielen kleinen Wortfetzen zusammengesetzt sind. Das finde ich ziemlich lustig.
»Leider habe ich zunehmend das Gefühl, dass wir uns in der Musikbranche auf einen falschen Weg begeben haben.«
MYP Magazine:
Dabei hat der Song aber auch eine ernsthafte Seite, denn er nimmt eine Perspektive ein, die aktuell viele und vor allem junge Menschen verbindet: Die ganze Welt ist beschissen und es gibt keine positive Vision für die Zukunft. Gleichzeitig strotzt der Sound von „Eyes Wide Shut“ nur so vor Funk und Soul. Ist energetische Musik das einzige Mittel, mit dem man unsere Welt noch ertragen kann?
Alfie Templeman:
Eindeutig ja. Zumindest, wenn man mit Musik respektvoll umgeht und als das ansieht, was sie ist: eine Kunstform. Mich inspirieren Menschen, die sich mit der Welt auseinandersetzen, daraus eine klare Vision für ihre Musik ableiten und in ein Album transformieren. Solange es solche Menschen gibt, bleibe ich optimistisch – in Bezug auf meine eigene Zukunft, aber auch die der ganzen Welt.
Leider habe ich zunehmend das Gefühl, dass wir uns in der Musikbranche auf einen falschen Weg begeben haben. Alles wirkt immer oberflächlicher und oft hat man den Eindruck, dass soziale Medien, allen voran TikTok, mehr und mehr die Kriterien für die Entwicklung von Musik vorgeben. Das macht mich sehr traurig und beunruhigt mich auch. Umso schöner ist es daher, wenn man auf echte Künstler stößt, die der Kunst immer noch den Vorrang geben.
»Ich habe mir fest vorgenommen, mich nicht den Algorithmen zu unterwerfen.«
MYP Magazine:
Vielleicht gibt es irgendwann in der Zukunft ja mal eine Social-Media-Plattform, die sich an ganzen Musikalben und nicht an maximal 60 Sekunden langen Tracks orientiert.
Alfie Templeman:
Das wäre zu schön.
MYP Magazine:
Fühlst Du persönlich einen gewissen Druck, Musik zu kreieren, die in erster Linie den Algorithmen schmeichelt?
Alfie Templeman:
Tatsächlich wurde ich von Labels immer wieder mal gefragt, ob ich nicht einen Song für TikTok schreiben könne. Das ist heutzutage ganz normal und ich mache den Labels da auch keinen Vorwurf. Aber so etwas ist einfach nicht mein Ding. Ich habe mir fest vorgenommen, mich nicht den Algorithmen zu unterwerfen. Für mich persönlich fühlt sich das weder richtig noch natürlich an.
»Ich weiß, das klingt ein bisschen großspurig. Aber ich hatte mir tatsächlich das Ziel gesteckt, mich selbst mit meiner Musik zu begeistern.«
MYP Magazine:
Dein neues Album kommt überaus lebendig und energiegeladen daher, beim Hören wird man von Rhythmen, Melodien und komplexen Arrangements nur so überschüttet. Wie ist dieses gewaltige Stück Funk und Soul entstanden? Was genau war da in Dir, das unbedingt herauswollte?
Alfie Templeman: (lacht)
Danke für die Blumen, das Kompliment weiß ich wirklich zu schätzen. Ich hatte in den letzten Jahren immer öfter das Bedürfnis, mich mit meiner Musik in alle Genres auszubreiten. Das ist aber nicht der einzige Grund, warum sich mein Sound über die Zeit sehr verändert hat. Meine erste Platte „Forever Isn’t Long Enough“ zum Beispiel entstand größtenteils während der Pandemie, ich hatte sie weitgehend selbst produziert. Diese Situation hat mich damals sehr eingeschränkt – musikalisch, inhaltlich und produktionstechnisch. Bei „Radiosoul“, meinem mittlerweile dritten Album, war es höchste Zeit, mich mit dem Sound in viele andere Richtungen zu bewegen. Ich wollte einfach ein bisschen herumexperimentieren und dabei in allen künstlerischen Entscheidungen völlig frei sein.
Klar, natürlich gibt es auf dem neuen Album immer noch klassische Indie-Pop-Songs wie „Hello Lonely“ oder „Eyes Wide Shut“, für die mich die Leute bereits kennen. Aber es finden sich darauf auch Tracks wie „Beckham“ oder „Submarine“, die wesentlich vielschichtiger sind – und bei denen es mein Anspruch war, vor allem ein besserer Musiker zu werden.
MYP Magazine:
Sehr ambitioniert!
Alfie Templeman: (lächelt)
Ich weiß, das klingt ein bisschen großspurig. Aber ich hatte mir tatsächlich das Ziel gesteckt, mich selbst mit meiner Musik zu begeistern.
Alfie macht eine kurze Pause.
Ich glaube, das hat auch viel damit zu tun, dass ich letztes Jahr von zu Hause ausgezogen bin. Vom kleinen Carlton in Bedfordshire ging’s ins große London, einer Stadt voller Künstler und Kreativer. Als ich dort ankam, bohrten sich mir sofort etliche Fragen in den Kopf: Wie passe ich hier rein? Wie kann ich vor mir selbst rechtfertigen, dass ich hier leben darf? Wie kann ich beweisen, dass ich als Künstler und Musiker gut genug bin, um hier dazuzugehören? Das alles hat meine Standards, die ich mir im Laufe der Jahre beim Schreiben und Aufnehmen gesetzt hatte, deutlich verändert. Die Messlatte lag plötzlich viel höher.
»Ich weiß jetzt viel besser, dass es nicht allzu viele Dinge braucht, um einen Song groß klingen zu lassen.«
MYP Magazine:
Die musikalische Komplexität Deines neuen Albums erinnert ein bisschen an ein Wimmelbild, in dem es immer wieder etwas Neues zu entdecken gibt – ganz so, als wärst Du vom „horror vacui“ getrieben, jenem künstlerischen Konzept, das die Leere scheut und den Wunsch beschreibt, alle weißen Flächen mit Darstellungen oder Ornamenten zu füllen. Wann weißt Du, dass das Arrangement eines Songs final ist und Du keine zusätzlichen musikalischen Elemente mehr hinzufügen musst?
Alfie Templeman:
Tatsächlich ist es mir sehr wichtig, mit einem Song nicht zu weit zu gehen. Auch wenn sich das neue Album musikalisch sehr reichhaltig anhört, habe ich während des Produktionsprozesses genau darauf geachtet, sehr vorsichtig mit zusätzlichen Klangelementen zu sein.
Ein Beispiel: Wenn man einen Song aufnimmt, teilt man die Instrumente und Effekte nach Frequenzen auf. Dabei gibt es hohe, mittlere und tiefe Frequenzen – hier finden unter anderem das Schlagzeug und der Bass statt. Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, dass man vermeiden sollte, zu viele Elemente in den oberen und mittleren Frequenzen miteinander kollidieren zu lassen. Soll heißen: Wenn ich etwa in den hohen Frequenzen einige prägnante Gitarrenparts habe, siedele ich dort keine Klavierelemente mehr an. Interessanterweise bedeutet dieses Vorgehen erst mal eine Einschränkung, die ich eigentlich vermeiden wollte. Aber manchmal ist weniger tatsächlich mehr: Ich kann in meinem Sound immer noch maximalistisch sein – nur weiß ich jetzt viel besser, dass es nicht allzu viele Dinge braucht, um einen Song groß klingen zu lassen.
»Auf dem Dorf konnte ich so viel Lärm machen, wie ich wollte, es hat sich nie jemand beschwert. In London wäre so etwas undenkbar.«
MYP Magazine:
Du bist im beschaulichen Carlton aufgewachsen, einem 800-Seelen-Dorf zwei Stunden nördlich von London. Welche Vorteile hat es, seine Kindheit und Jugend an einem solchen Ort zu verbringen – vor allem, wenn man Berufsmusiker werden will?
Alfie Templeman:
Für mich als Teenager war Carlton großartig, ich hatte dort die Möglichkeit, mich voll und ganz auf die Musik zu konzentrieren. Wäre ich in einer Stadt wie London großgeworden, wäre ich wahrscheinlich permanent von anderen Dingen abgelenkt gewesen – und vielleicht mit 13 schon zum Vollalkoholiker geworden. (lacht)
Aber im Ernst: Auch wenn die Gegend um Carlton ziemlich trostlos war und mir kaum etwas anderes übrig blieb, als Musik zu machen, hätte ich an jedem anderen Ort der Welt sicher nichts anderes getan. Musik war schon immer meine einzig wahre Leidenschaft, schon in meiner Kindheit. Dennoch war es natürlich hilfreich, in einem kleinen Dorf mit netten Nachbarn zu leben, die mich einfach Schlagzeug spielen ließen. Ich konnte so viel Lärm machen, wie ich wollte, es hat sich nie jemand beschwert. In London wäre so etwas undenkbar. Dort kann man nur Musik machen, wenn man ein Studio hat – einfach, weil die Umgebung so laut ist. Bei mir ging das damals im Kinderzimmer.
»Die meisten der elf Album-Tracks sind eher aus den Tiefen entstanden – und ich finde, sie gehören zu den besten Songs, die ich je geschrieben habe.«
MYP Magazine:
Es gibt auf Deinem neuen Album einen Song namens „Hello Lonely“, in dem Du singst:
Back when days were friends of mine
I killed them and I let them die slowly
Now I’m lonely
Nothin’ is forever
But forever’s always whisperin’ closely
“Hello, lonely”
Der österreichische Dichter Rainer Maria Rilke beschrieb einmal in einem seiner Bücher, dass man als Künstler die Einsamkeit suchen müsse. Er sagte: „Es ist gut, einsam zu sein, denn einsam zu sein ist schwer; die Tatsache, dass etwas schwer ist, muss für uns ein umso größerer Grund sein, es zu tun.“ Ist das ein Gedanke, in dem Du dich persönlich wiederfindest?
Alfie Templeman:
Einsamkeit ist ein notwendiges Übel – zumindest manchmal. Sie ist Segen und Fluch zugleich. Im Laufe der Jahre habe ich immer wieder bemerkt, dass mir genau dann die besten Songs gelingen, wenn ich mich selbst zu 100 Prozent miteinbeziehe. Und das fällt mir am leichtesten, wenn ich besonders traurig bin und viel Schmerz empfinde. Das wirkt wie ein Katalysator… aber ist das in der Kunst nicht immer so?
In den insgesamt zwei Jahren, in denen ich an dem Album geschrieben habe, gab es in meinem Leben viele Höhen und Tiefen. Die meisten der elf Tracks sind eher aus den Tiefen entstanden – und ich finde, sie gehören zu den besten Songs, die ich je geschrieben habe.
»In diesem Alter verändert man sich in der Regel sehr – ich persönlich hatte das Gefühl, mich jeden einzelnen Monat zu verändern. Das ist auf zwei Jahre gerechnet ein ganz schönes Chaos.«
MYP Magazine:
Interessanterweise hat man das Gefühl, dass die schwermütigen Songs vor allem in den ersten beiden Dritteln des Albums zu finden sind. Ab „Submarine“ scheint die neue Platte sukzessive optimistischer, zuversichtlicher und glücklicher zu werden. Entspricht diese Dramaturgie auch Deiner persönlichen Reise und Entwicklung in der Realität?
Alfie Templeman:
Auf jeden Fall. Auch wenn ich die meisten Tracks zwischen Februar und Juni letzten Jahres aufgenommen habe, gehen einige Lieder bis ins Jahr 2022 zurück. Das bedeutet: Ich war 19, als ich mit dem Schreiben anfing, und fast 21, als ich alles zusammen hatte. In diesem Alter verändert man sich in der Regel sehr – ich persönlich hatte das Gefühl, mich jeden einzelnen Monat zu verändern. Das ist auf zwei Jahre gerechnet ein ganz schönes Chaos. (lächelt)
Ich habe zwar vorher nie darüber nachgedacht, aber es scheint in der Tat so zu sein, dass ich gegen Ende des Albums optimistischer werde. Die letzten vier Tracks wirken im Vergleich zum Rest eher hoffnungsvoll. „Run to Tomorrow“, das letzte Stück auf der Platte, ist ein durchweg positiver Song. Aber auch „Switch“, in dem es darum geht, eine kalte Dusche zu nehmen, sein Gehirn zu aktivieren und zu versuchen, seinen Scheiß endlich auf die Reihe zu bekommen.
„Submarine“ wiederum handelt davon, wie ich von einer Tour nach Hause komme, um meine Freundin endlich mal wiederzusehen. Da sie sich sehr für Meeresbiologie interessiert, erzähle ich in dem Song, wie ich mit einem U-Boot aus Amerika zu ihr zurückkomme – statt ganz konventionell mit dem Flugzeug.
»2018 habe ich meine erste Single veröffentlicht und seitdem drei Alben gemacht. Ich finde, das ist noch lange kein Grund, warum mich jemand auf der Straße erkennen sollte.«
MYP Magazine:
Den vierten Songs dieses letzten Albumdrittels hast Du dem Fußballer David Beckham gewidmet. Zu Beckhams Biografie gehört: Je erfolgreicher er während seiner aktiven Karriere wurde, desto größer wurden auch der Erfolgsdruck und die Erwartungen, die an ihn gestellt wurden. Ist das etwas, das Du in ähnlicher Form auch erlebt hast? Schließlich hast Du mit Deiner Musik bereits in jungen Jahren sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit erhalten.
Alfie Templeman:
Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ehrlicherweise fühlt es sich für mich auch gar nicht so an, als ob ich erfolgreich wäre. Ich fühle mich auch nicht in irgendeiner Form berühmt – einfach, weil ich es nicht bin. Ganz im Gegenteil: Ich bin immer wieder völlig überwältigt, wenn die Leute zu meinen Auftritten kommen. 2018 habe ich meine erste Single veröffentlicht und seitdem drei Alben gemacht. Ich finde, das ist noch lange kein Grund, warum mich jemand auf der Straße erkennen sollte – und das ist großartig! Dementsprechend habe ich auch nicht das Gefühl, dass es viele Erwartungen an mich gibt. Ich habe eine relativ kleine, aber tolle Fangemeinde, die es zu mögen scheint, dass ich einfach nur ein bisschen herumspiele und mich musikalisch immer wieder verändere.
»Es geht mir nur darum, als Künstler ein gutes Gesamtwerk zu schaffen.«
MYP Magazine:
Hast Du für Dich persönlich eine Definition von Erfolg?
Alfie Templeman: (lacht)
Na, auf jeden Fall keine kapitalistische. Es geht mir nur darum, als Künstler ein gutes Gesamtwerk zu schaffen – etwas, worauf ich stolz bin, wenn ich in ein paar Jahren darauf zurückblicke. Ich will einfach nur Songs schreiben, die mich selbst begeistern und mich musikalisch herausfordern; Songs, die mich selbst so weit pushen, dass ich gezwungen bin, so viele Instrumente wie möglich zu lernen, um eine gute Ein-Mann-Band zu werden. Alles andere ist mir egal.
»Hin und wieder ist es nicht die schlechteste Idee, einfach etwas Verrücktes zu tun. Manchmal bringt das die großartigsten Ergebnisse hervor.«
MYP Magazine:
Kommen wir zum Schluss noch mal kurz auf „Radiosoul“ zurück, den ersten Song des neuen Albums. Im Refrain singst Du:
‘Cause I’ve been running the red lights like it’s the beginning
And the radio stays on while nobody listens
Ist es wirklich ein gutes Vorbild, bei Rot über die Ampel zu fahren?
Alfie Templeman:
Ich weiß, das ist sehr gefährlich. Aber dieses Bild hat mich irgendwie gepackt – vielleicht auch deshalb, weil ich selbst ein eher schlechter Autofahrer bin und schon ein paar Mal aus Versehen über eine rote Ampel gefahren bin.
Im Song will ich mit dem Bild sagen: Wenn ich eine rote Ampel überfahre, dann nur, weil ich in dem Moment nicht wirklich über mein Leben nachdenke. Ich stelle mein Handeln nicht in Frage, hänge nicht in der Vergangenheit fest und bewege mich per Autopilot stoisch nach vorne.
Davon abgesehen bin ich aber der Meinung, dass es hin und wieder nicht die schlechteste Idee ist, einfach etwas Verrücktes zu tun. Manchmal bringt das die großartigsten Ergebnisse hervor. Wie zum Beispiel bei meinem neuen Album. Da ging es letztendlich nur darum, ein bisschen herumzualbern und neue Dinge auszuprobieren, ohne sich darum zu kümmern, ob sie schiefgehen könnten. Denn was wäre das maximal Schlimmste gewesen, was hätte passieren können? Genau: das Album einfach nicht zu veröffentlichen. Mehr nicht.
MYP Magazine:
Über eine rote Ampel zu fahren, wirkt zumindest auf dem Dorf wie eine kleine Rebellion, die man sich hin und wieder erlauben kann – zumindest, wenn weit und breit kein anderes Auto zu sehen ist.
Alfie Templeman:
Stimmt. Und es wäre doch auch ein viel schlechteres Vorbild, wenn ich singen würde:
(singt in der Melodie des „Radiosoul“-Refrains)
„I’ve been robbing a baaank“
Da ist die rote Ampel auf dem Dorf doch viel harmloser.
Mehr von und über Alfie Templeman:
Interview & Text: Jonas Meyer
Fotografie: Roberto Brundo
Philipp Oehmke
Interview — Philipp Oehmke
»Literatur kann da helfen, wo Journalismus nicht mehr weiterkommt«
Als Kulturressort-Leiter beim SPIEGEL analysierte Philipp Oehmke das Verschwinden von Kate Middleton, fasste die Row-Zero-Kontroverse um Rammstein zusammen oder ging mit Pete Doherty in der Normandie im Meer schwimmen. In seinem Debütroman »Schönwald« seziert er eine deutsche Familie und geht der Frage nach, wie unsere demokratische Gesellschaft zwischen Widersprüchlichkeiten und Wahrheitsfindung überleben kann.
13. August 2024 — Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Roberto Brundo
Als Familie Schönwald die Eröffnung ihres Buchladens feiern will, wird sie von einer Farbbombe überrascht – und dem Vorwurf, „Menschen mit Nazihintergrund“ zu sein. Philipp Oehmkes Buch „Schönwald“, erschienenen im vergangenen Herbst, beginnt mit einer Szene, die von der Realität abgekupfert ist: 2021 hatten Aktivisten der Betreiberin der queerfeministischen Buchhandlung „She said“ in Berlin-Neukölln vorgeworfen, ihren Laden mit dem Erbe eines zu Zeiten des Nationalsozialismus erwirtschafteten Vermögens finanziert zu haben.
Von diesem Ereignis aus entspannt sich ein mächtiger Familienroman, der es aufgrund seines pointierten Humors schafft, die verschiedenen Generationen, politischen Haltungen und Lebensstile der Figuren elegant aufeinanderprallen zu lassen, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Dabei gelingt es Philipp Oehmke immer wieder, in seinen Lesern ein mächtiges Gefühl der Identifikation herauszukitzeln.
Doch nicht nur in seinem Buch, auch in seinen journalistischen Artikeln geht es dem Leiter des SPIEGEL-Kulturressorts zumeist um das Gruppengefühl: Er schreibt darüber, warum wir aus Prinzessin Dianas Tod nicht gelernt haben, wie mit dem Blick auf die BRD-Erfahrungen mit der RAF seltsam verklärte Gefühle entwickeln oder befasst sich mit Phänomenen wie Ex-Skandalmusiker Pete Doherty, Pop-Guru Rick Rubin oder Hochstaplerin Anna Sorokin.
Der 1974 geborene Autor wirkt dabei in seinem Schreibstil seltsam alterslos. Nur ein Detail in „Schönwald“ liefert einen Hinweis auf die Generation, aus der er stammt: Chris, der älteste Schönwald-Sohn. Er ist im selben Alter wie Philipp Oehmke und Professor für Literaturwissenschaft in New York. Auch Oehmke lebte und studierte viele Jahre ebendort – und hat sich doch für einen anderen Berufsweg entschieden. Zwar sind seine ausformulierten Meinungsartikel manchmal streitbar, aber er bemüht sich, die Welt stets in ihrer Komplexität zu betrachten. Der fiktionale Chris hingegen ist bei den Wilden, den Rechten, den Make-America-Great-Again-Djangos mit ihren simplen Populismus-Thesen gelandet.
»Die Bösen verkörpern das, was Punk mal war: provokant und im ständigen No-Go-Bereich.«
Katharina Viktoria Weiß:
Der Charakter Chris Schönwald ist nicht nur in Deinem Alter, sondern hat genau wie Du auch in New York gelebt. Was hat Dich gereizt, diese Figur zu zeichnen, die so ähnlich zu Deiner eigenen Biografie scheint?
Philipp Oehmke:
Chris sieht mir von außen vielleicht ähnlich – ist er aber nicht. Allerdings könnte man sagen, dass ich manche meiner schlechten Eigenschaften bei ihm abgeladen habe, zum Beispiel einige guilty pleasures. Jeder in der Romanfamilie hat allerdings irgendeinen Scheiß von mir. Sie sind ja alle fehlerhaft. Chris hat vielleicht am meisten abbekommen.
Katharina Viktoria Weiß:
Hattest Du bei Chris das Gefühl, dass Du dich selbst einfach mal von der dunklen Seite der Macht verführen lassen konntest?
Philipp Oehmke:
Absolut. Sein Verführer ist ja vage inspiriert von einer Figur, die es wirklich gibt: Gavin McInnes, Gründer des VICE-Magazins und mittlerweile ein Trump-Verfechter, den ich in New York kennengelernt habe. Er wohnte dort durch Zufall eine Ecke weiter, wir begegneten uns öfter und irgendwann schrieb ich auch über ihn. Auf einer persönlichen Ebene, am Tisch mit ein paar Drinks, haben wir uns gut verstanden. Der ist so, wie VICE Mitte der 90er auch war: anarchisch, schnell im Kopf, lustig. Mit ihm hatte ich eine gute Zeit, aber er war gleichzeitig auch ein MAGA-Aktivist und hat es immer genossen, mich zu provozieren. Und da war es manchmal schwer, mit einer langweiligen Mainstream-Meinung dagegenzuhalten: Donald Trump ist böse, Angela Merkel ist eigentlich ganz ok und so weiter. Kurz fühlt man die Ohnmacht und denkt, die Bösen seien einfach cooler, frischer, hätten die interessanteren Argumente, auch wenn sie natürlich falsch sind. Aber sie verkörpern das, was Punk mal war: provokant und im ständigen No-Go-Bereich. Und man selbst ist inzwischen der Vernünftige. Das habe ich Chris auch mal erleben lassen und das Gedankenspiel verfolgt, was geschieht, wenn man sich von dieser Attitüde wirklich verführen und überzeugen ließe.
Katharina Viktoria Weiß:
Bleiben wir beim Gedankenspiel: Wenn wir die Schönwalds noch länger begleiten dürften, wie würden sie zum Beispiel angesichts der Nachrichtenlage aus Gaza denken, diskutieren und vielleicht auf Social Media agieren?
Philipp Oehmke:
Dieser Frage gehe ich auch gerade nach, denn ich schreibe aktuell am zweiten Teil des Buches. Ich bin noch dabei herauszufinden, wie die Kriege in der Ukraine und in Gaza sowie die US-Wahl im Herbst 2024 eine Familie möglicherweise belasten, die ohnehin schon pessimistisch auf die Welt schaut. Wie funktionieren ihre erprobten und gleichzeitig schwachen Verdrängungsmechanismen in einer noch komplizierteren Welt?
»Ihr müsst eure Eltern schon mal fragen, worauf euer ganzer Wohlstand basiert und was eure Großeltern im Krieg gemacht haben.«
Katharina Viktoria Weiß:
Gewisse Dinge runterzuschlucken, um das ganze Konstrukt am Laufen zu halten, hat mich auch an meine Familie in Bayern erinnert: Mit etwa 30 Jahren kommt meine Generation so langsam zu dem späten Eingeständnis, dass dieser vorgelebte Pragmatismus streckenweise auch seine effektiven Seiten hatte, auch wenn er bestimmt schmerzhaft für die Persönlichkeitsentwicklung einzelner Familienmitglieder war.
Philipp Oehmke:
In „Schönwald“ kämpfen drei Generationsmodelle gegeneinander. Erstens die Nachkriegsgeneration, mit ihrer absoluten Verdrängungsstrategie, die keine Gefühle zulässt. Dann deren Kinder, die jetzt um die 40 sind und im Grunde alles ironisch sehen: Aus allem wird ein Witz gemacht, schließlich ist man aufgewachsenen im Wohlstand der 1980er und 90er Jahre. Sie lieben Quentin Tarantino und Bret Easton Ellis und nehmen nichts wirklich ernst, weil wir von allem wahnsinnig gelangweilt sind. Nazivergangenheit? Die war zu weit weg, das spielt keine Rolle mehr. Und dann melden sich die Millennials oder sogar die Altersstufe darunter, die Kids der Gen Z, die im Buch vor allem durch zwei Instagram-Aktivisten verkörpert werden. Diese Generation fordert nun doch wieder Moral ein und sagt: Sorry, so einfach könnt ihr es euch nicht machen. Ihr müsst eure Eltern schon mal fragen, worauf euer ganzer Wohlstand basiert und was eure Großeltern im Krieg gemacht haben.
»Ich habe gehört, sie hätte es als anmaßend empfunden, dass dass ich ihre Geschichte und die Vorwürfe gegen sie fiktional aufgegriffen habe.«
Katharina Viktoria Weiß:
Die Instagram-Aktivisten, die eine etwa gleich alte Buchladen-Besitzerin mit ihrem familiär weit zurückreichenden Nazihintergrund konfrontiert haben, gibt es wirklich. Eine der Personen kenne ich entfernt aus dem persönlichen Bekanntenkreis, ich war total überrascht, sie auf diese Weise literarisch verfremdet im Buch zu entdecken. Wurde dieser Umstand von den Aktivisten als künstlerische Verarbeitung des Ganzen akzeptiert? Oder gab es an dieser Stelle Reibungsmomente, weil sie so leicht identifizierbar waren?
Philipp Oehmke:
Damit hatte ich eigentlich gerechnet, doch hier blieben Reaktionen aus. Womit ich nicht gerechnet hatte, ist, dass die Besitzerin des Buchladens nicht happy war mit meinem Roman.
Katharina Viktoria Weiß:
Faszinierend – und schade, denn als Leserin hatte ich im Buch eigentlich viel Empathie für ihr Dilemma aufgebracht. Was ist passiert?
Ich habe gehört, sie hätte es als anmaßend empfunden, dass dass ich ihre Geschichte und die Vorwürfe gegen sie fiktional aufgegriffen habe. Tatsächlich aber liegt der Fall bei ihr ganz anders, und meine Romanfigur hat ja auch sonst überhaupt nichts mit ihr zu tun.
»Eine Familie ist der kleinste gemeinsame Nenner, in dem verhandelt wird, wie wir miteinander umgehen.«
Katharina Viktoria Weiß:
Wie wirkt das Motiv der Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, mit Mehrdeutigkeiten leben zu können, auf Deine schriftstellerische Linse ein?
Philipp Oehmke:
Das war das Grundmotiv von „Schönwald“. Eine Familie ist der kleinste gemeinsame Nenner, in dem verhandelt wird, wie wir miteinander umgehen. Das lässt sich übertragen auf gesellschaftliche Konstellationen. Ich bemerkte: Da war ich mit meinem journalistischen Darstellungsmöglichkeiten am Ende. In einem SPIEGEL-Artikel muss man sich nachvollziehbar positionieren und eine Sachlage sehr klar durchdeklinieren.
Katharina Viktoria Weiß:
Und die Literatur hat Dir andere Möglichkeiten geschenkt?
Philipp Oehmke:
Ein Roman kann Dinge durchspielen oder nur anreißen. Er ist nicht gezwungen, auch immer gleich die Lösung mitzuliefern. Ich hatte die Hoffnung: Literatur kann da helfen, wo Journalismus nicht mehr weiterkommt. Und das hat besser funktioniert, als ich mir das vorgestellt hatte.
»Man glaubt gar nicht, wie viele Menschen bereit sind, anderen zu verzeihen, wenn sie darum gebeten werden.«
Katharina Viktoria Weiß:
Um was geht es am Ende bei „Schönwald“?
Philipp Oehmke:
Ums Verzeihen. Die Figuren lavieren sich in schwierige Situationen, weil sie Dinge verleugnen oder verschweigen. Und dann kommen Geheimnisse ans Tageslicht und sie bemerken: Es ist an sich alles okay, ich werde trotzdem geliebt. Das ist eine wahnsinnig schöne Erkenntnis. Die Schönwalds und vermutlich auch ich haben zwar lange dafür gebraucht. Aber beim Schreiben ist mir plötzlich klar geworden: Am Ende geht es um Vergebung. Man glaubt gar nicht, wie viele Menschen bereit sind, anderen zu verzeihen, wenn sie darum gebeten werden. Ob die Schönwalds sich wirklich verziehen haben, muss sich allerdings erst noch herausstellen.
»Ich habe für mich nie einen Weg in den sozialen Netzwerken gefunden, den ich nicht peinlich, eitel oder selbstdarstellerisch gefunden hätte.«
Katharina Viktoria Weiß:
Um das Buch zu schreiben, hast Du dir neun Monate frei genommen und bist zum Schreiben vorübergehend in die USA gezogen. Warum postest Du dazu nicht toll und viel auf Social Media?
Philipp Oehmke:
Ich habe es in über zehn Jahren nicht geschafft, mir eine sinnvolle, glaubhafte und nicht peinliche Social-Media-Personality zuzulegen. Zum einen hatte ich immer einen zu hohen Anspruch an Texte jeder Art – egal, ob es sich um einen Romantext, einen journalistischen Text oder auch nur einen Kurztext handelt, den ich meinen Freunden schreibe. Deshalb habe ich über die Jahre verschiedene Sachen ausprobiert. Aber ich habe für mich nie einen Weg in den sozialen Netzwerken gefunden, den ich nicht peinlich, eitel oder selbstdarstellerisch gefunden hätte. Dabei sagt meine Frau immer, dass ich eigentlich genug Bildmaterial hätte – wenn ich berufsbedingt im Wohnzimmer mit Jonathan Franzen sitze oder bei Pete Doherty im Garten.
»Die BRD war ein interessantes Projekt mit vielen Abgründen.«
Katharina Viktoria Weiß:
Du bist 1974 in Bonn geboren, damals die Hauptstadt des geteilten Deutschlands. In Teilen Deines Werks, zum Beispiel im Artikel „Der Trost der RAF“, der sich mit der Festnahme von Terroristin Daniela Klette im März 2024 befasst, schimmert eine besondere Erinnerungskultur an die BRD durch, die Du nur bis zum Teenageralter erlebt hast. Was löst der Begriff BRD in Dir aus?
Philipp Oehmke:
Peinlicherweise tatsächlich ein bisschen Nostalgie. Aber es war schon ein interessanter und kurzlebiger Staat, von 1949 bis 1989. Die alte Bundesrepublik war ein lohnenswertes Projekt mit vielen Abgründen. Damit beschäftigt sich auch der Gesprächsband „BRD Noir“ von Frank Witzel und Philipp Felsch. Das war übrigens auch ein Grundmotiv meiner Toten-Hosen-Biographie, denn es gibt ja nichts Bundesrepublikanischeres als diese Band. Die Achtundsechziger hatten einen echten Grund, gegen ihre Nazi-Eltern zu rebellieren. Die Punk-Generation der 70er- und 80er-Jahre hingegen eigentlich überhaupt nicht: Deren Eltern hatten mit dem Nationalsozialismus altersmäßig gar nichts mehr zu tun. Ich habe die Mitglieder der Toten Hosen gefragt: Was hat euch eigentlich so aufgeregt, dass ihr Punks geworden seid und so rebelliert habt? Und es war eben dieses Miefige, dieses Kleingeistige, dieses „Vorgartige“ der Bundesrepublik. Die war so ängstlich und leise, man wollte bloß nicht auffallen. Es hat fast schon etwas Rührendes.
»Mittlerweile kann jeder seine eigene Wahrheit an ein riesiges Publikum verbreiten.«
Katharina Viktoria Weiß:
„Es gibt schon länger Zweifel, ob die Demokratie im Social-Media-Zeitalter überleben kann. Sie ist auf so etwas wie eine gemeinsame öffentliche Wahrheit angewiesen, die zunehmend im Netz versickert“, schreibst Du – ausgerechnet in einem Artikel über Kate Middleton. An welchen weiteren Anhaltspunkten machst Du deine Sorgen um unsere demokratischen Freiheiten fest?
Philipp Oehmke:
Als dieses möglicherweise großartige Prinzip Demokratie erfunden wurde, hat niemand mit Twitter oder Tiktok gerechnet. Ich glaube, in dem Moment, wo man sich nicht mehr kollektiv auf Wahrheiten einigen kann, wird eine politische Meinungsbildung, die in einer Demokratie unerlässlich ist, fast unmöglich. Mittlerweile kann jeder seine eigene Wahrheit an ein riesiges Publikum verbreiten. Filtersysteme wie klassische Medien – zum Beispiel der SPIEGEL, die Süddeutsche oder die New York Times – haben immer damit operiert, dass jemand Fachkundiges einen Überblick über die Sachlage und die Fakten erstellt. Ob die immer stimmte, ist eine andere Frage, aber zu 90 Prozent kam sie einer Richtigkeit zumindest nahe. Als Trump das erste Mal als Präsident kandidierte, war ich gerade wieder in die USA gezogen und musste begreifen: Es gibt jetzt offenbar die Möglichkeit, mit 70 Millionen Twitter-Followern auf die klassischen Medien zu scheißen und einfach eine eigene Wahrheit zu verbreiten.
»Ich kenne Menschen, die daran zerbrechen, dass nichts mehr klar zu sein scheint.«
Katharina Viktoria Weiß:
Ist das der neue Status quo?
Philipp Oehmke:
Ja, in unserer Lebenswelt konkurrieren inzwischen alle möglichen Wahrheiten miteinander. Jeder kennt mittlerweile Leute im seinem Umkreis, die ein absurdes Weltbild haben und einem Zeugs zu Covid, der Ukraine oder Gaza erzählen, bei dem man nur den Kopf schütteln kann. Wenn man sensibel ist und über keine Ambiguitätstoleranz verfügt, dann wird es echt schwer. Ich kenne Menschen, die daran zerbrechen, dass nichts mehr klar zu sein scheint.
Katharina Viktoria Weiß:
Wie hat sich der Wahrheitsbegriff in Deinem Arbeitsalltag als Journalist über die Jahre verändert?
Philipp Oehmke:
Als ich in den Beruf eingestiegen bin, hatten klassische Medien wie der SPIEGEL immer noch das Verständnis: Wir sind die Checker und erklären die Welt – und wir machen dabei nicht transparent, wie wir das machen oder aus welcher Position wir sprechen. Mittlerweile werden die subjektiven, biografischen, individuellen – heute würde man sagen identitätspolitischen – Aspekte, die unsere Meinung mitformen, viel deutlicher gekennzeichnet. Denn man hat begriffen: Wahrheit entsteht auch immer im Empfänger, das heißt: Wer die Botschaft verbreitet, bringt auch einiges seiner eigenen Perspektive, Biografie oder Identität mit ein.
»Die meisten von uns wähnen sich in der Situation, dass sie damals auf der Seite der Achtundsechziger gestanden hätten.«
Katharina Viktoria Weiß:
Aktuell ringen wir vor allem im Gaza-Krieg um Wahrheiten. Wie blickt man auf die Debatte, wenn man wie Du eine breite Expertise im Bereich Popkultur hat?
Philipp Oehmke:
Als jemand, der sich immer irgendwie als links und progressiv begriffen hat, denke ich aktuell oft an die 68er-Bewegung. Die meisten von uns wähnen sich in der Situation, dass sie damals auf der Seite der Achtundsechziger gestanden hätten, an der Seite der Studentenbewegung und gegen den Vietnamkrieg. Weil es Pop war, weil da die jungen Leute waren und weil es aus heutiger Sicht richtig scheint. Achtundsechzig hat gewonnen und ist heute mehrheitsfähig. Nun, wie werden wir in ein paar Jahren auf die Pro-Palästina-Versammlungen und die Demonstrationen gegen Israel schauen? Aktuell kommen mir diese häufig überzogen vor. Aber für nachfolgende Generationen scheint Pro-Palästina das, was mit Pop und Coolness verbunden ist und was viele junge Menschen gut finden…
Katharina Viktoria Weiß:
… und Megastar Macklemore schrieb kürzlich eine Protestsong für die Pro-Palästina-Studentenbewegung.
Philipp Oehmke:
Zum Beispiel. Wenn ich es von allen popkulturellen Aspekten weghalte, neige ich persönlich auch dazu, eher Israel zu verstehen und zu sagen: Die sind angegriffen worden – und ihnen jetzt die ganze Schuld zu geben, ist schwierig. Aber wenn ich die popkulturellen Aspekte mit in die Perspektive aufnehme, ist festzustellen: Die pro-palästinische Protest, so übertrieben und teilweise falsch ich ihn politisch finde, nimmt für sich in Anspruch, die coole, progressive Seite zu sein. Insofern frage ich mich: Wäre ich dann 1968 vielleicht auch auf der Seite der Konservativen gewesen, die von den Hippies verachtet wurden und ständig mahnten: „Die Studenten übertreiben total, das können die doch so nicht sagen!“ Für mich ist der Prozess nicht abgeschlossen und ich bin immer noch dabei, mich hier zu hinterfragen.
»Mein Anspruch als Ressortleiter ist es, eher pubertär als abgehangen zu agieren.«
Katharina Viktoria Weiß:
Seit Ende 2023 bist Du Leiter des Kulturressorts beim SPIEGEL. Ein Job, der aus Sicht jüngerer Pop-Rebellen immer jene innehaben, die nicht verstehen, wie gut ein Nischen-Künstler sei oder warum jener Independent-Film unbedingt eine Rezension im Blatt verdient habe. Wie hat diese leitende Rolle Deine Sicht auf die Branche geprägt?
Philipp Oehmke:
Ich versuche eher, mein 22-jähriges Ich darin zu verwirklichen und riskanter zu agieren. Mein Anspruch als Ressortleiter ist es, eher pubertär als abgehangen zu agieren. Und auch Themen abseits des Mainstreams aufzugreifen. Natürlich kommt man nicht immer mit allen Ideen durch, aber ich wurde nicht in eine Rolle gedrängt, in der ich plötzlich nur noch seriöse Hochkultur machen kann.
»Diese Opas erzählen nicht nur ihren Ehefrauen und Enkelkindern, was sie so von der Welt halten. Sondern sie posten es auf Social Media.«
Katharina Viktoria Weiß:
Es gibt viele Beispiele bekannter Journalisten, die als junge Reporter sehr links oder progressiv waren, um dann im Alter zu rechten Galionsfiguren zu werden. Wie etwa Matthias Matussek, einer Deiner Vorgänger als Ressortleiter beim SPIEGEL. Wie erklärst Du dir eine solche Entwicklung?
Philipp Oehmke:
Der Aspekt von ehemals Linken oder „Counter Culture“-Leuten wie Matthias Matussek oder Gavin McInnes, die sich immer weiter in die rechte und auch affirmative rechte Richtung radikalisieren, ist ein Phänomen, das es immer gegeben hat. Früher waren diese Personen einfach nicht mehr sichtbar, nachdem sie aus dem Berufsleben ausgeschieden waren. Heute dagegen fallen sie mehr auf, denn diese Opas erzählen nicht nur ihren Ehefrauen und Enkelkindern, was sie so von der Welt halten, sondern sie posten es auf Social Media. Das ist tragisch. Matussek war es, der mich damals zum SPIEGEL geholt hatte. Wir kannten uns gut. Aber schon lange bevor er sich radikalisiert hat, hatten wir uns über inhaltliche und stilistische Fragen entzweit.
»Ich bin auf der Suche nach Leuten, die etwas Besonderes mitbringen.«
Katharina Viktoria Weiß:
So schön der Beruf Journalist auch ist: Er ist kein einfacher, denn die Branche hat ein Image- und auch Finanzierungsproblem. Dennoch gibt es viele Menschen, die sich für diesen Job begeistern. Welchen Wegweiser würdest Du jungen Autoren mitgeben, die gerade am Berufsanfang stehen?
Philipp Oehmke:
Ich bin auf der Suche nach Leuten, die etwas Besonderes mitbringen: weil sie eine ungewöhnliche Stimme haben und sich was trauen. Die aktuelle Krise der Medien macht es Leuten viel schwerer. „Der klingt ganz lustig, den stellen wir mal ein und schauen, was dabei herauskommt“ – dieses Prinzip gibt es so nicht mehr. Heute stehen die Medien extrem unter Druck und gute, originelle Stimmen haben es schwer. Aber eigentlich sollten wir genau auf diese Menschen setzen. Denn die menschlichen Nachrichtenmaschinen brauchen wir bald nicht mehr, das kann dann die KI. Meine Hoffnung dabei ist, dass der individuelle, fein geschliffene Blick immer wertvoller wird.
Lange Rede, kurzer Sinn – mein Tipp: Baut Eure Stärken aus, vergesst Eure Schwächen, spezialisiert Euch – und traut Euch vor allem, Eurem eigenen Gefühl zu vertrauen!
»Schönwald«
Ein Roman von Philipp Oehmke
Erschienen im Piper Verlag
544 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-07190-1
Mehr von und über Philipp Oehmke:
Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß
Fotografie: Roberto Brundo
Kyrylo Sirchenko
Portrait — Kyrylo Sirchenko
»Butscha hat mir die Unschuld geraubt«
Eigentlich ist Kyrylo Sirchenko (27) ausgebildeter Schauspieler. Doch statt in Kyiv auf der Theaterbühne zu stehen, hat er in den letzten beiden Jahren Journalist*innen aus aller Welt dabei unterstützt, vom Krieg in seiner Heimat zu berichten. Ein kleiner Einblick in ein junges Leben mitten in Europa, das sich mit Putins Angriff auf die Ukraine schlagartig geändert hat. Und in dem Humor zur Überlebensstrategie gehört.
30. Juli 2024 — Text: Jonas Meyer, Fotografie: Kristina Ursylyak
Triggerwarnung:
In diesem Beitrag werden potenzielle Trigger-Themen erwähnt. Dazu gehören: Gewalt, Krieg und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn Du dich damit unwohl fühlst, lies den Text lieber nicht oder mit einer weiteren Person.
Wenn Du dich in einer emotionalen Krisensituation befindest und mit jemandem reden möchtest – hier findest Du Hilfe: Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern lauten 0800 – 111 0 111 und 0800 – 111 0 222.
»Wenn man zu lange Urlaub vom Krieg macht, will man irgendwann nicht mehr an die Front.«
Ein Dienstagabend Ende März vor einem kleinen Programmkino in Berlin-Neukölln. Nach der Filmvorstellung hat sich auf dem Gehweg eine bunte Traube von Menschen gebildet. Sie trinken, rauchen, unterhalten sich. Eine Szene, wie sie gewöhnlicher nicht sein könnte – solange man den Umstand ausblendet, dass drei von ihnen gerade aus dem Krieg kommen. Und dahin auch wieder zurück müssen.
„Wenn man zu lange Urlaub vom Krieg macht, will man irgendwann nicht mehr an die Front“, bemerkt Kyrylo Sirchenko mit einem seltsamen Grinsen auf dem Gesicht. Der Humor des 27-jährigen Ukrainers mit den wilden Locken und der freundlichen Ausstrahlung ist für die Leute um ihn herum nur schwer zu fassen. Doch dieser Humor, so erzählt er, sei einer der wenigen Gründe, warum er die letzten zwei Jahre überhaupt überlebt habe.
Kyrylo ist ein sogenannter Fixer: Als lokaler Ansprech- und Produktionspartner unterstützt er fast täglich ausländische Medien bei der Kriegsberichterstattung in seiner Heimat. Menschen wie er machen in den Krisengebieten der Welt die Arbeit von Journalist*innen oft erst möglich, denn sie sprechen nicht nur die Sprache des Landes und damit der Soldaten, Opfer und Augenzeug*innen, sondern verfügen auch über genaue Ortskenntnisse, wertvolle Kontakte und viele andere besondere Fähigkeiten.
»Ich weiß, dass der Begriff Fixer im Deutschen auch eine Person meinen kann, die sich Drogen per Spritze in die Venen jagt.«
In der Regel werden Fixer von Medienunternehmen gebucht oder direkt von Auslandskorrespondent*innen engagiert, um eine Story zu arrangieren und produzieren. Aus diesem Grund bevorzugt Kyrylo auch den Jobtitel local producer – „vor allem, seit ich weiß, dass der Begriff Fixer im Deutschen auch eine Person meinen kann, die sich Drogen per Spritze in die Venen jagt“, witzelt er.
Das sehen Oleksandra Aleksandrenko und Andrii Kolesnyk übrigens genauso. Zusammen mit Kyrylo machen sie für ein paar Tage Urlaub vom Krieg in ihrer Heimat, um mit dem Kinopublikum in Paris, Brüssel und hier in Berlin ins Gespräch zu kommen. Die drei local producers sind die Hauptprotagonist*innen der knapp 30-minütigen Dokumentation „Fixers in Wartime – The invisible Reporters“, die aktuell auch in der Arte-Mediathek zu sehen ist. Produziert wurde der Film unter anderem von der Organisation RSF („Reporters sans frontières“, dt. „Reporter ohne Grenzen“). Die international tätige Nichtregierungsorganisation setzt sich seit 1985 weltweit für die Pressefreiheit und gegen Zensur ein.
»Paris, Brüssel, Berlin – diese Städte erinnern mich daran, wie wir selbst leben könnten, leben würden, wenn dieser Krieg nicht wäre.«
Für die Kinopremieren in Frankreich, Belgien und Deutschland gelang es RSF, die persönliche Anwesenheit von Kyrylo, Andrii und Oleksandra zu arrangieren – ein Aufwand, der vor allem bei den beiden Männern nicht unerheblich war. Immerhin befinden sich Kyrylo und Andrii im wehrfähigen Alter und dürfen ihr Land eigentlich nicht verlassen.
„Paris, Brüssel, Berlin – diese Städte erinnern mich daran, wie wir selbst leben könnten, leben würden, wenn dieser Krieg nicht wäre“, stellt Kyrylo fest. Manchmal habe er sich in den letzten Tagen bei dem Gedankenspiel erwischt, wie es wäre, einfach hierzubleiben und nicht mehr in die umkämpfte Heimat zurückzukehren.
„Seit ich die Ukraine verlassen habe, habe ich besser geschlafen, besser gegessen und bin besser gelaunt“, erzählt Kyrylo. „Klar würde ich gerne noch länger hierbleiben“, fügt er nach einer Gedenksekunde hinzu, „aber ich habe das Gefühl, dass meine Aufgabe in der Ukraine noch nicht beendet ist.“ Er habe sich versprochen: Sobald es seiner Heimat gelungen sei, sich erfolgreich gegen den Aggressor Russland zu verteidigen, reise er in aller Ruhe durch Europa – „vorausgesetzt, ich habe dann noch alle Arme, Beine und meinen Kopf – und eben meinen Humor“. Denn der sei für ihn wie ein Lebenselixier.
»Die Monate vor dem Krieg waren die beste Zeit meines Lebens.«
Kyrylo ist in Kyiv geboren und aufgewachsen. Sein noch junges Leben hat er bereits eingeteilt in eine Zeit vor dem Krieg und eine danach. Vor dem 24. Februar 2022 – jenem Tag, an dem Putins Russland die Ukraine überfallen hat – wäre es ihm im Traum nicht eingefallen, dass er mal ausländische Medien bei der Kriegsberichterstattung unterstützen würde, und das auch noch hauptberuflich und im eigenen Land. Und noch weniger, dass er mal etwas sehen würde, dessen Abgrund sich allein über die bloße Nennung des Ortsnamens erschließt: Butscha.
In seinem Leben vor dem Krieg hatte Kyrylo Schauspiel und Dramaturgie studiert. Während der Corona-Hochphase arbeitete er erst in einer Brauerei und dann in einem Laden für Musikinstrumente, bevor er schließlich im Herbst 2021 ein Engagement am Kyiver „Proenglish Theater“ annahm, wo er für das Stück „The City Was There“ besetzt wurde. Gleichzeitig fing er an, selbst Musik zu komponieren und zu produzieren. „Die Monate vor dem Krieg waren die beste Zeit meines Lebens“, erinnert sich Kyrylo zurück, „ich hatte eine wahnsinnige Energie in mir.“ Die profunden Englischkenntnisse, die er sich am Theater angeeignet hatte, sollten sich wenig später als entscheidender Vorteil herausstellen, ebneten sie ihm doch den Weg in seinen neuen Job.
Den Ausbruch des Krieges erlebte Kyrylo auf dem Dachboden seines Elternhauses. Nachdem sich kurz zuvor seine Freundin von ihm getrennt hatte und er der Bitte seiner Eltern gefolgt war, wieder bei ihnen einzuziehen, hatte er sich dort ein kleines Musikstudio eingerichtet. „Ich weiß noch, dass ich in dieser Nacht nicht schlafen konnte“, erinnert er sich an die frühen Morgenstunden des 24. Februar. „Ich saß in Boxershorts vor meinem Computer, machte ein bisschen Musik, rauchte eine Zigarette nach der anderen und dachte über tausend Dinge nach. Dann, gegen 5 Uhr morgens, hörte ich die Sirenen und kurz darauf die ersten Raketeneinschläge: bam, bam, bam!“ Heute würden ihm solche Geräusche nichts mehr ausmachen, bemerkt Kyrylo etwas abgehalftert. „Aber damals war das verdammt beängstigend.“
»Wir saßen zusammen in der Küche und fragten uns, ob das wohl der Anfang des Dritten Weltkriegs sei.«
Nachdem er sich gesammelt hatte, eilte er die Treppe herunter zu seinen Eltern, die kreidebleich am Küchentisch saßen. In den Tagen zuvor, als Putin seine Truppen an der Grenze aufgezogen hatte, hatten sich die Sirchenkos zu Hause noch gegenseitig beschwichtigt. Ein Säbelrasseln sei das, nichts weiter. „Doch nun saßen wir zusammen in der Küche und fragten uns, ob das wohl der Anfang des Dritten Weltkriegs sei“, erzählt Kyrylo. Sein Vater, Jahrgang 1938, hatte als Kind die beiden Schlachten um Kyiv erleben müssen. „Sofort schossen in ihm wieder die Erinnerungen hoch.“
Als sich in den nächsten Tagen die Situation zuspitzte und die Russen immer weiter auf Kyiv vorrückten, brachte er seine Eltern zu Verwandten aufs Land. Doch nachdem die ukrainische Armee den Vormarsch der Russen auf die Hauptstadt gestoppt und zurückgedrängt hatte, wagte sich Kyrylo wieder nach Kyiv. Beim Anblick der vielen Soldaten auf den Straßen hatte er das Bedürfnis, sich nützlich zu machen. Doch sich freiwillig zur Armee zu melden, kam für ihn in dem Moment nicht in Frage. „Nicht, weil ich feige bin“, erklärt er. „Sondern weil meine Eltern so alt sind. Ich könnte es ihnen nicht antun, die Uniform zu tragen. Das wäre für sie eine zu große emotionale Belastung, die ich ihnen nicht zumuten möchte.“
Also fing Kyrylo an, ehrenamtlich in der Küche eines Checkpoints zu arbeiten, wo er von morgens bis abends Kartoffeln schälte. „Ich bin zwar ein lausiger Koch“, sagt er, „aber mit den Händen arbeiten, das kann ich.“ Anfang April erhielt er einen Anruf von einem Schauspielkollegen aus der englischen Theatergruppe, der bereits als local producer mit ausländischen Medien zusammenarbeitete. Er fragte ihn, ob er morgen einen Journalisten vom Schweizer „Tages-Anzeiger“ begleiten könne, da er selbst verhindert sei. Kyrylo sagte spontan zu: „Natürlich mach‘ ich das, fucking yes!“
»Ich hätte im Leben nicht gedacht, dass ich mit der Kiste mal in den Krieg fahren würde.«
Am nächsten Tag traf er den Schweizer Reporter und dessen Fotograf. Da die beiden Journalisten kein Fahrzeug hatten und Kyrylo keinen Führerschein, drückte er ihnen den Schlüssel des Autos seiner Mutter in die Hand. „Das war ein 20 Jahre alter Toyota Solara“, erinnert er sich mit einem Lachen zurück. „Ich hätte im Leben nicht gedacht, dass ich mit der Kiste mal in den Krieg fahren würde.“
So weit war der Krieg auch nicht entfernt. Das Ziel der Journalisten lag nur eine knappe Stunde vom Kyiver Stadtzentrum entfernt, eine Kleinstadt mit etwa 30.000 Einwohner*innen. Ihr Name: Butscha. Gerade erst hatte die ukrainische Armee den Ort für die internationale Presse geöffnet, um der Weltöffentlichkeit die Kriegsverbrechen vor Augen zu führen, die die russische Armee in der kleinen Stadt nordwestlich von Kyiv begangen hatte.
Die New York Times schildert die Ereignisse folgendermaßen: „Als der russische Vormarsch auf Kiew angesichts des erbitterten Widerstands ins Stocken geriet, schlug die feindliche Besatzung von Butscha laut Zivilist*innen in einen Feldzug des Terrors und der Rache um. Als sich die besiegte und demoralisierte russische Armee schließlich zurückzog, hinterließ sie ein düsteres Bild: Leichen von Zivilisten, die auf den Straßen, in Kellern oder Hinterhöfen verstreut lagen, viele mit Schusswunden am Kopf, einige mit auf dem Rücken gefesselten Händen.“
»Wenn plötzlich das eigene Land existenziell bedroht ist, gibt es keine Grauzone mehr, in der man sich aufhalten kann.«
„Dieser Anblick hat mein Leben fundamental verändert“, erzählt Kyrylo und nimmt einen tiefen Zug seiner Zigarette. „Vor Butscha gab es ein Ich vor dem Krieg. Aber nach Butscha gibt es nur noch ein Ich im Krieg.“
Er selbst habe sich nie als Patrioten bezeichnet, erklärt er. Wie viele andere aus der ukrainischen Kreativszene habe auch er immer versucht, sich von Politik im Allgemeinen und nationalistischen Positionen im Speziellen zu distanzieren. „Klar, natürlich war auch ich bei den Maidan-Protesten vor zehn Jahren dabei. Und ich war auch vor dem Krieg schon immer pro Ukraine und anti Russland“, sagt Kyrylo. „Aber das war immer mehr aus einer Gewohnheit heraus und nie mit besonders viel Leidenschaft verbunden. So etwas wie Hymnen und Flaggen war mir immer fremd.“
Doch die Erlebnisse in Butscha hätten seine Einstellung komplett über den Haufen geworfen. „Wenn plötzlich das eigene Land existenziell bedroht ist, gibt es keine Grauzone mehr, in der man sich aufhalten kann. Sondern nur noch Schwarz oder Weiß, Freiheit oder Unterwerfung.“ Als er die vielen toten Zivilisten auf den Straßen gesehen habe, habe er verstanden, dass das seine Leute seien. Und dass er nun gar nicht mehr anders könne, als Position zu beziehen.
»Dem armen Greis hatte man ein riesiges Loch ins Gesicht geschossen.«
Kyrylo berichtet, wie er zusammen mit den beiden Journalisten vom Schweizer „Tages-Anzeiger“ zu einer Grube nahe einer kleinen Kirche geführt wurde, in der unzählige Leichen lagen. „Die ukrainische Armee hat sie dort zusammengetragen, um forensische Spuren zu sichern“, fährt er fort. Er sei immer noch nicht in der Lage zu verarbeiten, was dort passiert sei. „Vielleicht gelingt mir das, wenn der Krieg irgendwann vorbei ist. Aber momentan schiebe ich das ganz weit von mir weg.“
Ein Bild aus Butscha bekomme er dennoch nicht aus dem Kopf: den Anblick eines ukrainischen Ermittlers, der die Leiche eines alten Mannes untersuchte. „Dem armen Greis hatte man ein riesiges Loch ins Gesicht geschossen“, erzählt er. „Und daneben stand dieser junge Ermittler mit seiner coolen Sonnenbrille, der mit Zigarette im Mund ganz routiniert die Leiche inspizierte. Was für eine weirde Situation. Im Leben gibt es auch bei der schlimmsten Tragödie immer etwas, das ein bisschen aus dem Rahmen fällt.“
Gleichzeitig habe er erlebt, wie gut er in seinem neuen Job funktioniert habe. „Ich habe den ganzen Tag lang für die Schweizer Journalisten Augenzeug*innen gesucht, bei den Interviews übersetzt und die Produktion des Artikels möglich gemacht“, erinnert sich Kyrylo. „Ich habe gemerkt: Hier bin ich in meinem Element – auch wenn ich nicht in der Lage war, bei dem Anblick irgendetwas zu essen, und mich nur von Kaffee und Zigaretten ernährt habe.“
»In mir war nur die Frage, wie Menschen im 21. Jahrhundert zu so etwas in der Lage sein können.«
Nach diesem Tag habe er sich richtig elend gefühlt, erzählt er. „In mir war eine einzige, große Leere. Keine Trauer, keine Wut, nichts. Nur die Frage, wie Menschen im 21. Jahrhundert zu so etwas in der Lage sein können.“ Doch am nächsten Tag schien dieses Gefühl wie verflogen. „Ich glaube, Butscha hat mir die Unschuld geraubt“, sagt Kyrylo. „Seitdem ist es für mich zu einer seltsamen Normalität geworden, getötete Menschen zu sehen.“
Völlig kalt lasse ihn dabei vor allem der Anblick toter russischer Soldaten, sogar wenn es sich dabei um verkohlte Leichen 18-jähriger Wehrpflichtiger handele. „Ganz ehrlich“, holt er aus, „für mich ist das einfach nur der Feind, der in mein Land gekommen ist, um meine Leute zu töten und uns zu unterwerfen.“ Natürlich wisse er, dass es in der russischen Kriegsmaschinerie auch etliche Soldaten gebe, die gegen ihren Willen kämpfen müssten. Aber für diese Menschen könne er kein Mitleid empfinden. „Vielleicht gelingt mir auch das nach dem Krieg, wer weiß. Aber aktuell ist das in meinem Herzen keine Option.“
»Wenn ich jemals wieder auf der Bühne stehen will, muss ich mir meine Empathie zurückholen.«
Er wisse, dass das zynisch klinge, sagt Kyrylo. Aber für die Arbeit als local producer sei das eine zwingend notwendige Eigenschaft, sonst ginge man an solchen Gefühlen zugrunde. Dass diese emotionale Entwicklung es ungleich schwieriger macht, irgendwann wieder in seinem alten Beruf als Schauspieler zu arbeiten, weiß er ebenso. „Wenn ich jemals wieder auf der Bühne stehen will, muss ich mir meine Empathie zurückholen“, sagt Kyrylo. Dann ergänzt er etwas zögerlich: „Emotionale Taubheit und Zynismus sind mit einer Karriere als Künstler absolut nicht vereinbar.“
Doch nach einer Rückkehr ans Theater sieht es in Kyrylos Leben aktuell eh nicht aus, ganz im Gegenteil. In den letzten zwei Jahren tat er alles, um in seinen neuen Job, seine neue Lebensaufgabe hineinzuwachsen und sich in diesem Metier einen Namen zu machen – und das nicht selten, ohne sich dabei immer wieder in Lebensgefahr zu begeben.
Wie etwa im Sommer 2022, als er einen seiner Klienten nach Charkiw begleitete. Der junge Norweger hatte es sich zur Aufgabe gemacht hat, zurückgelassene Haustiere aus umkämpften ukrainischen Gebieten zu retten. Einquartiert hatten sich die beiden Männer in einem fast verlassenen Hotel am Stadtrand. Als Kyrylo nachts um zwölf in seinem Bett lag und sich durch ein paar lustige Clips auf Youtube klickte, erschien eine Raketen-Warnmeldung auf seinem Smartphone, gefolgt von heulenden Sirenen.
»Direkt neben dem Hotel klaffte ein riesiges Loch im Boden – so groß, dass ein VW Transporter reingepasst hätte.«
„Es dauerte keine 30 Sekunden und ich wurde durch eine Druckwelle aus dem Bett geschleudert“, berichtet er. „Als ich zu mir kam, sah ich, dass das Fenster in meinem Zimmer komplett zerborsten war.“ Kyrylo wagte sich an das klaffende Loch in seinem Hotelzimmer und schaute hinunter auf die Straße. „Direkt neben dem Hotel klaffte ein riesiges Loch im Boden – so groß, dass ein VW Transporter reingepasst hätte.“
Auch wenn er nur knapp mit seinem Leben davongekommen und eine ganze Weile taub auf einem Ohr war, hinderte ihn diese Erfahrung nicht daran, immer weiterzumachen und Journalist*innen dabei zu unterstützen, über den Krieg in seinem Land zu berichten.
Ein etwas älterer Reporter, der in der Doku „Fixers in Wartime“ zu Wort kommt, beschreibt den 27-jährigen Ukrainer als etwas chaotisch. „Natürlich kann es passieren, dass ich während der Fahrt ein Sandwich esse, rauche und gleichzeitig telefoniere“, erklärt Kyrylo mit einem Lächeln. „Was die meisten Journalisten nicht verstehen: Der organisatorische Part an meinem Job ist verdammt anstrengend. Alles permanent in Bewegung zu halten und die vielen kleinen Puzzleteile zusammenzufügen, ist alles andere als easy.“ Dann fügt er hinzu: „Ich bin lieber etwas chaotisch, als brav auf meinem Hintern zu sitzen und das zu tun, was von mir verlangt wird.“
»Sich um ein Haustier zu kümmern, ist eine gute Strategie, um den Krieg seelisch irgendwie zu überleben.«
Neben der Arbeit für internationale Medien hat Kyrylo vor einiger Zeit auch begonnen, ein eigenes journalistisches Projekt zu realisieren. In einer filmischen Dokumentation befasst er sich mit der Frage, welche seelischen Narben der Krieg bei den Soldaten hinterlässt, denen er begegnet. „Ich habe festgestellt“, erzählt Kyrylo, „dass die meisten Soldaten überraschend offen sind, wenn ich sie zu ihren Gefühlen interviewe – obwohl sie ja ständig von diesem Horror umgeben sind.“ Dennoch müsse er extrem behutsam und mit fast chirurgischer Präzision vorgehen, wenn er die Männer zum Zustand ihrer Seele befrage.
In „Fixers in Wartime“ sind erstaunlicherweise immer wieder Katzen zu sehen, die mit den Soldaten in ihren Posten und Stellungen leben. „Katzen füllen das emotionale Vakuum, dass sich bei diesen Männern gebildet hat“, erklärt Kyrylo. Wenn man sich täglich in Lebensgefahr begebe und für sein Land kämpfe, müsse man immer wieder Wege finden, um Stress abzubauen und sich zu entspannen.
„Sich um ein Haustier zu kümmern, es zu streicheln und mit ihm zu kuscheln, ist eine gute Strategie, um den Krieg seelisch irgendwie zu überleben.“ Es seien diese grundlegenden menschlichen Bedürfnisse, die die Soldaten, die sich in dieser dunklen, schlimmen und tragischen Lage befänden, zurück ins Leben zu holen und ihnen ein wenig inneren Frieden zu schenken.
»Was genau ich erlebt habe, erzähle ich meinen Eltern nicht.«
Wie die Soldaten in den Schützengräben muss auch Kyrylo immer wieder darauf achten, sich um sich selbst zu kümmern. Die Energie, die ihn als Schauspieler in den Monaten vor dem 24. Februar 2022 beflügelt hätte, sei weitestgehend aufgebraucht, er sei erschöpft, rauche zu viel und ernähre sich schlecht. „Ich habe das Gefühl, dass ich in den letzten zwei Jahren um zehn Jahre gealtert bin“, bemerkt er. Außerdem habe er 15 Kilo zugenommen.
Aus diesem Grund lege er zwischen einzelnen Jobs immer wieder Pausen ein, fahre für ein paar Wochen nach Hause, schlafe viel, lenke sich mit Videospielen ab und unterhalte sich mit seinen Eltern. „Was genau ich erlebt habe, erzähle ich ihnen aber nicht“, sagt er. „Das würde ihnen wahrscheinlich das Herz brechen.“
Allzu lange hält er es zu Hause aber nicht aus. „Ich ertrage es einfach nicht, wochenlang nur herumzusitzen und nichts zu tun“, erklärt er. Dann müsse er seinem Gefühl nachgeben, sich nützlich zu machen und etwas beizutragen zu dem Kampf, in dem sein Land stecke.
»Dieses Geld ist aus Tragödien heraus entstanden, aus Kriegsjournalismus – und damit letztendlich aus Blut.«
Geld sei für ihn allerdings keine Motivation, sagt er. Dabei ist der Job als local producer durchaus lukrativ. Kyrylos Tagessatz liegt je nach Medium und Anforderung zwischen 100 und 300 US-Dollar, in den letzten zwei Jahren hat er knapp 70.000 US-Dollar verdient. Zum Vergleich: In der Ukraine lag das durchschnittliche Monatseinkommen im letzten Jahr bei etwa 600 US-Dollar.
Gespart hat Kyrylo allerdings kaum etwas. Den größten Teil seiner Honorare für dringend benötigtes Kriegsequipment wie etwa Drohnen ausgegeben, das er einzelnen Truppenteilen gespendet hat. „An der Front gibt es einen konstant hohen Bedarf an Material aller Art“, erklärt er, „denn die Russen werfen uns ein Vielfaches entgegen.“
Doch das ist nicht der einzige Grund, warum er das verdientes Geld nicht behalten will. „Dieses Geld ist aus Tragödien heraus entstanden, aus Kriegsjournalismus – und damit letztendlich aus Blut.“ Natürlich habe das in diesen Zeiten auch seine Berechtigung, sagt Kyrylo. „Aber ich wollte nie Journalist sein, sondern Schauspieler und Musiker. Damit möchte ich irgendwann mein Geld verdienen – und mit nichts anderem.“
»Putin hat die Ukraine überfallen, um die demokratischen Strukturen unseres Landes zu zerstören.«
Was Kyrylo Sirchenko tatsächlich antreibt in seinem Job, den ihm das Leben vor die Füße geworfen hat, offenbart sich an jenem Dienstagabend im März in dem kleinen Neuköllner Programmkino. Nach der Vorstellung ist eine Fragerunde angesetzt, bei der Kyrylo, Andrii und Oleksandra mit dem Publikum ins Gespräch kommen sollen. Eine etwas ältere Zuschauerin meldet sich zu Wort und fragt, warum die Ukraine weiterkämpfe und sich nicht mit Russland an den Verhandlungstisch setze.
„Ich glaube, die Dame hat bei ihrem Gedankengang die einfachste Route gewählt“, erinnert sich Kyrylo zurück. „Sie sieht, dass vor ihrer Haustür schlimme Dinge passieren und möchte, dass das aufhört. Und dieser Wunsch ist absolut nachvollziehbar.“ Aber in diesem Fall, so fährt er fort, lägen die Dinge etwas anders: „Putin hat die Ukraine überfallen, um die demokratischen Strukturen unseres Landes zu zerstören und die Menschen, die sich nach Freiheit sehnen, seiner Diktatur zu unterwerfen. Das ist völlig inakzeptabel.“
»Wenn ein aggressiver Schüler, der andere mobbt, nie selbst eine schmerzhafte Lektion erhält, wird er immer so weitermachen.«
„Wenn ein aggressiver Schüler, der andere mobbt, nie selbst eine schmerzhafte Lektion erhält, wird er immer so weitermachen“, erklärt Kyrylo. Und im Falle von Ländern wie Russland, Nordkorea oder Iran hätte das unabsehbare und dramatische Folgen – zum Beispiel einen Überfall auf baltische Staaten wie Estland, Lettland oder Finnland. „Die Dame muss leider lernen zu begreifen, dass Leute wie Putin absolut kein Interesse daran haben, sich zivilisiert mit anderen an einen Tisch zu setzen und zu reden. Es geht ihm um die Zerstörung von Demokratie. Und das lassen wir nicht zu.“ Was die Ukraine jetzt brauche, sei kein Mitgefühl, sondern Solidarität.
Ein konkrete Möglichkeit, die Ukraine zu unterstützen, sei zum Beispiel eine Zuwendung an die Hospitallers, erklärt Kyrylo später im Gespräch. Diese Organisation ehrenamtlicher Sanitäter*innen sammelt Geld für Medikamente, Verbandsmaterial, medizinisches Gerät, aber auch Treibstoff, um Verwundete aus den umkämpften Gebieten zu evakuieren. Gegründet wurden die Hospitallers bereits im Jahr 2014, von der querschnittsgelähmten Veteranin und Parlamentarierin Yana Zinkevich, nachdem Russland völkerrechtswidrig die Krim annektiert hatte.
»Ich bin froh, diese Entscheidung getroffen zu haben, denn sie macht vieles klarer in meinem Leben.«
Nach den Kinopremieren in Paris, Brüssel und Berlin kehrt Kyrylo wieder in die Ukraine zurück. Die nächsten Jobs stehen an, außerdem will er an seiner eigenen Dokumentation weiterarbeiten. Dann wird es einige Wochen still um ihn.
Anfang Juli erreicht uns in den frühen Morgenstunden eine Sprachnachricht. Kyrylo erzählt, dass er mittlerweile nicht mehr als local producer arbeite, sondern nun ganz offiziell den ukrainischen Streitkräften angehöre – als Koordinator im Bereich Pressearbeit und Public Relations.
„Diese neue Situation fühlt sich sehr seltsam an“, spricht Kyrylo in sein Telefon. Seine Stimme klingt deutlich schwerer, nachdenklicher und auch erschöpfter als noch im Frühjahr. Als er das Angebot erhalten habe, habe er sofort zugegriffen – denn damit sei er einem eventuellen Zwangseinzug im Zuge der aktuellen Mobilisierungswelle zuvorgekommen.
„Gleichzeitig bin ich froh, diese Entscheidung getroffen zu haben“, lässt er uns wissen, „denn sie macht gerade vieles klarer in meinem Leben.“ Vorher sei er als sogenannter Fixer immer zwischen den jeweiligen Jobs an der Front und seinem elterlichen Zuhause in Kyiv gependelt, diese beiden Extreme seien für ihn mental ziemlich anstrengend gewesen.
»Ich habe mehr Kontrolle über meine Gefühle, wenn ich als Soldat diene.«
„In meinem neuen Job bin ich jetzt permanent an vorderster Front – oder zumindest irgendwo in der Nähe“, erklärt er. „Und da es erst mal nicht zur Debatte steht, dass ich wieder nach Kyiv zurückkehre, habe ich gerade auch das Gefühl, viel stärker irgendwo verankert zu sein als noch vor ein paar Wochen.“ Das liege übrigens nicht nur daran, dass er jetzt einen festen Job habe, bei dem er genau wisse, was er zu tun habe, sagt Kyrylo. „Man könnte auch sagen, ich habe mehr Kontrolle über meine Gefühle, wenn ich als Soldat diene.“
Am schwierigsten sei es für ihn gewesen, seinen betagten Eltern von seiner Entscheidung zu berichten. „Ich war am Boden zerstört, als ich ihnen erzählen musste, dass ich jetzt die Uniform trage“, erinnert sich Kyrylo weiter in der fast achtminütigen Sprachnachricht. „Die beiden haben es überraschend okay aufgenommen“, berichtet er, „vor allem mein Vater. Dabei habe ich überhaupt keine Ahnung, was gerade wirklich in ihm vorgeht, denn im Gegensatz zu ihm habe ich keine Kinder.“
»Medien sind manchmal wie ein Prisma. Und so ein Prisma krümmt das Licht.«
Danach kommt Kyrylo wieder auf seinen neuen Arbeitsalltag zu sprechen. Aus journalistischer Sicht sei er sehr dankbar um die Rolle, die er jetzt innehabe. Denn die Armee – und damit auch er – hätte einen viel besseren und ungefilterten Zugang zu den Geschehnissen und der tatsächlichen Situation an der Front. „Medien sind manchmal wie ein Prisma“, sinniert er. „Und ein Prisma krümmt das Licht. Aber jetzt bin ich persönlich so nah an der Lichtquelle, dass es keine Krümmung mehr gibt.“
Davon abgesehen habe der neue Job den Vorteil, dass er all die vielen Rollen, in die er vorher je nach Auftrag schlüpfen musste, in einer einzigen vereine könne. „Ich bin jetzt Übersetzer, Kontaktperson, Produzent, Autor, Fotograf und Kameramann in einem“, sagt Kyrylo.
»Bei fast allen ukrainischen Männern ist es nur eine Frage der Zeit, bis ihnen die Armee ihre berufliche Zukunft raubt.«
Nur eines ist er gerade nicht: Schauspieler – jener Beruf, den er ursprünglich mal gelernt hat. Und den er wahrscheinlich nach wie vor ausüben würde, wenn Putins Russland nicht die Ukraine mit einem mörderischen Angriffskrieg überzogen hätte; oder zumindest, wenn Kyrylo nach den Kinopremieren Ende März einfach in Paris, Brüssel oder Berlin geblieben wäre.
Ob er jemals wieder auf einer Theaterbühne stehen wird, weiß er nicht. „Durch die Mobilisierung ist es bei fast allen ukrainischen Männern nur eine Frage der Zeit, bis die Armee ihnen ihre berufliche Zukunft raubt“, sagt er am Ende seiner Sprachnachricht.
Aber immerhin würde ihm der neue Job bei der Armee körperlich sehr gut tun, stellt Kyrylo fest. Er habe bereits etwas Gewicht verloren und ernähre sich nicht mehr so ungesund wie vorher. „Das Essen beim Militär ist zwar nicht überragend. Aber immerhin stopfe ich nicht mehr ständig Chips und Süßigkeiten in mich rein.“
Da ist er plötzlich wieder, jener besondere Humor des Kyrylo Sirchenko, der für viele um ihn herum nur schwer zu fassen ist, aber der ihm tagtäglich beim Überleben hilft. Und mit dem er sich hoffentlich seine Empathie zurückzuholen kann – irgendwann, wenn dieser Krieg ein Ende hat und die Ukraine ihre Freiheit wieder.
Gerne möchten auch wir die von Kyrylo erwähnte Hilfsorganisation „Hospitallers“ finanziell unterstützen.
Dazu sammeln wir bis zum 31. August 2024 über unseren offiziellen PayPal-Account (donate@myp-magazine.com, Account-Inhaber Herausgeber Jonas Meyer) finanzielle Zuwendungen, die wir dann am 1. September 2024 den „Hospitallers“ als Gesamtsumme zukommen lassen.
Wir würden uns sehr freuen, wenn wir auch Dich für eine kleine „Donation“ gewinnen könnten – jeder Euro hilft!
Alle Infos zu der Organisation gibt es hier.
Wichtiger Hinweis: Da das MYP Magazine weder ein eingetragener Verein noch eine gemeinnützige Organisation ist, können wir keine Spendenbescheinigung für Deine Zuwendung ausstellen.
Update:
Unsere Sammelaktion ist abgeschlossen. Dank Eurer Hilfe konnten wir insgesamt 173,06 Euro zusammenbringen, die wir auf 300 US-Dollar (282,44 Euro) aufgestockt und am 9. September 2024 an die Hospitallers gesendet haben.
Wir danken von Herzen allen Unterstützer*innen!
Ukraine: Fixer im Krieg, die stillen Helfer der Reporter
Eine Reportage von Arte und Reporter ohne Grenzen (28 Min.)
Verfügbar in der Arte-Mediathek bis zum 29. März 2027
Mehr von und über Kyrylo Sirchenko:
Interview & Text: Jonas Meyer
Fotografie: Kristina Ursylyak